Warum halb Amerika Donald Trump liebt
Von Robert Treichler
Schriftgröße
Sie kennen den Mann. Seine Pöbeleien, seine irrlichternde Politik, seine Bewunderung für Putin, seine Verachtung der Medien und der Justiz, seine zivilrechtliche Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs und Verleumdung, seine Schwäche für rechtsextreme Organisationen, seine hartnäckig vorgetragene Lüge, wonach die Präsidentschaftswahl, die er 2020 gegen Joe Biden verlor, manipuliert gewesen sei. Was also soll an Donald Trump attraktiv sein?
Offenbar doch eine ganze Menge. Beobachter, politische Gegner und Medien in den USA und in Europa haben das lange Zeit nicht begriffen und den Kandidaten und Politiker Trump deshalb grob unterschätzt – profil war da keine Ausnahme. Bis heute herrscht gerade in Europa nach wie vor schierer Unglaube, dass der Mehrfachangeklagte noch einmal zum US-Präsidenten gewählt werden könnte.
Die bloßen Zahlen belegen, dass Trump auf einen sehr großen Teil der US-Bevölkerung anziehend wirkt. Fast 63 Millionen Wählerinnen und Wähler gaben ihm 2016 ihre Stimme; 2020, als er Joe Biden unterlag, waren es sogar mehr als 74 Millionen; bei den längst entschiedenen Vorwahlen der Republikanischen Partei um die Kandidatur 2024 konnte ihm niemand gefährlich werden. Trump nahm nicht einmal an den Debatten teil, seine Popularität trug ihn dennoch unangefochten auf Platz eins ins Ziel.
Vergangene Woche forderte der amtierende Präsident Joe Biden seinen Herausforderer Trump öffentlich zu zwei TV-Debatten auf, die erste davon bereits am 27. Juni. Das ist ungewöhnlich früh, und außerdem hat es üblicherweise nicht der Amtsinhaber eilig, den Herausforderer zu stellen, sondern umgekehrt. Trump sagte umgehend zu. Das Motiv für Bidens Hektik ist offensichtlich: Er liegt in landesweiten Umfragen – knapp – hinter Trump, vor allem aber in Umfragen in fünf von sechs sogenannten Swing States, also umkämpften und daher wahlentscheidenden Bundesstaaten.
In weniger als einem halben Jahr, am 5. November 2024, wird Donald Trump zum dritten Mal als Kandidat um die Präsidentschaft der Vereinigten Staaten antreten, und wer die Ausgangslage – und wohl auch das Ergebnis – dieser wichtigsten politischen Entscheidung im Superwahljahr verstehen will, muss sich wohl oder übel mit der Frage auseinandersetzen, was zig Millionen US-Bürgerinnen und -Bürger an diesem Mann anziehend finden. Was folgt, ist der Versuch, genau das zu erklären. Anhand seiner Persönlichkeit, seines Stils, seiner Aura, seiner Politik.
Vergessen Sie nicht: Sie brauchen Trump nicht attraktiv zu finden und können bei den angeführten Gründen für seine Anziehungskraft gern ungläubig und missbilligend den Kopf schütteln. Vieles davon – aber nicht alles – ist ziemlich unpolitisch. Beginnen wir mit einer der vielleicht provokantesten Behauptungen.
Der Mann hat Sex-Appeal
Eine zynische Behauptung angesichts der Tatsache, dass Trump bereits in einem Zivilverfahren wegen sexuellen Missbrauchs zu einer Schadenszahlung von fünf Millionen Dollar an die Autorin E. Jean Carroll verurteilt wurde. Außerdem ist Trump auch schon 77 Jahre alt. Dennoch ist „The Don“ im kollektiven Medienuniversum immer noch als glamouröses Phänomen der amerikanischen Popkultur verankert. In der legendären TV-Serie der Millenniumswende „Sex and the City“ wird die Figur des exemplarisch begehrenswerten „Mr. Big“ von einer der Hauptdarstellerinnen mit den Worten vorgestellt: „Er ist der nächste Donald Trump. Nur jünger, und er sieht viel besser aus.“
Der in jungen Jahren tatsächlich gut aussehende Multimillionär Trump – in der TV-Serie „The Nanny“ wird er als „fescher Zillionär“ tituliert – gilt unhinterfragt als attraktiv. 1990 ziert er gemeinsam mit dem „Playmate“ Brandi Brandt das Cover des Magazins „Playboy“ – als einer der wenigen Männer in der Geschichte der Nackedei-Publikation. Er trägt ein weißes Smokinghemd mit Fliege und eine Smokinghose, die Frau neben ihm nur seine Smokingjacke. Wokeness war noch nicht erfunden, bei Trump wird sie ohnehin nie ankommen.
Sie müssen zugeben, dass er ziemlich faszinierend ist.
Jahrzehnte später ist Trump naturgemäß gealtert und dementsprechend nicht mehr der virile Kerl von einst, doch die Aura des Begehrenswerten haftet ihm immer noch an. Stormy Daniels, von Beruf Pornostar, die derzeit in New York als Zeugin im Strafverfahren wegen der mutmaßlichen Vertuschung einer Schweigegeldzahlung gegen Donald Trump in New York aussagt, schilderte 2011 in einem Interview mit der US-Frauenzeitschrift „In Touch Weekly“ ihre Begegnung mit Trump, der damals noch kein Politiker war.
Daniels (mit bürgerlichem Namen Stephanie Clifford) traf den Immobilienmogul und TV-Star bei einem Charity-Golfturnier. „Er fragte mich, ob ich mit ihm zu Abend essen wollte, und ich so: ‚Ja, klar!‘ Wer würde eine Gelegenheit auslassen, mit jemandem so Interessanten zu reden?“, sagte Daniels, die nach eigener Aussage in jener Nacht mit Trump Sex hatte, was Trump vor Gericht bestreitet.
Daniels’ Schilderung des Abends klingt dann zwar nicht gerade unvergesslich, aber im Interview von 2011 bleibt sie bei ihrer Einschätzung: „Sie müssen zugeben, dass er ziemlich faszinierend ist.“
Sogar eine Kommentatorin der von Trump generell wenig beeindruckten „Washington Post“ betitelt ein Porträt im Jänner 2016, zehn Monate vor seinem Sieg bei der Präsidentschaftswahl, mit der Zeile: „Trump vor der Politik: Eine Hollywood-Ikone von Sex, Anziehungskraft, Reichtum und New York“.
Die Zeit, in der Trump in US-Medien dem Publikum als reicher, schöner Held verkauft wurde, wirkt bis heute nach. Der Popstar, der seit Jahrzehnten den medialen Alltag dekoriert, verliert seinen Appeal nie ganz. Das hat reale politische Konsequenzen. Eine Studie des Democracy Fund, einer politisch unabhängigen Einrichtung zur Erhaltung der Demokratie, hat erhoben, dass 2016 immerhin fünf Prozent aller Trump-Wählerinnen und -Wähler von ihrer Einstellung her gänzlich unpolitisch waren. Sie entschieden sich für den republikanischen Kandidaten, weil sie ihn aus anderen Gründen attraktiv fanden. Das waren mehr als drei Millionen Stimmen.
Der Entertainer
Donald Trump ist lustig. Oder präziser: Auf seinen Wahlkampfveranstaltungen wird viel gelacht. Der linke Politik-Kommentator Ezra Klein, ein erklärter Gegner Trumps, analysierte kürzlich in seinem Podcast „The Ezra Klein Show“ die Kluft zwischen linkem und rechtem Humor in den USA: „Der Humor der Linken ist die Ironie, der Humor der Rechten ist die Beleidigungskomik. Und Trump ist im Grunde ein Beleidigungskomiker.“ Sein Witz bestehe in dem Schockmoment, den er auslöst. Auf die Pointe folge – ausgesprochen oder unausgesprochen – die Frage: „Könnt ihr glauben, dass ich das jetzt wirklich gesagt habe?“ Und weil der links orientierte Teil der Öffentlichkeit regelmäßig in Empörung verfalle, empfinde Trumps Fangemeinde gerade deshalb „großes Vergnügen“, so Klein.
Trump verspottet seinen beleibten republikanischen Widersacher Chris Christie: „Man kann ihn kein fettes Schwein nennen.“ Gelächter. „Das kann man nicht machen. Man darf das Wort ‚fett‘ nicht verwenden.“ Gelächter.
Trump fehlt jeglicher Anstand, und gerade deshalb ist er auf seine Art ein effektiver Entertainer. Er liefert die Derbheiten ab, auf die alle warten, und wenn seine Gegner konsterniert und fassungslos reagieren, ist das der Beweis, dass seine Pointen gesessen haben. Das Mikrofon funktioniert nicht? „Das muss Crooked Hillary gewesen sein. Sleepy Joe kriegt so was nicht auf die Reihe.“ Hahahaha. Und wenn das nicht reicht, nennt er irgendjemanden „Hurensohn“ und ruft: „Du bist gefeuert!“ Trumps Art, die Leute in Stimmung zu bringen, ist zwar von der Sorte, für die Schulkinder einen Verweis bekommen, aber sie funktioniert. Sonst würde das US-Magazin „Vice“ nicht ein Video mit Ausschnitten von Auftritten des Wahlkämpfers Trump veröffentlichen, das ganz ernsthaft den Titel trägt: „Sieben Tipps für öffentliche Reden, die wir von Donald Trump lernen können“. Und wer sich ein verbotenes Vergnügen gönnen möchte, sieht sich heimlich „Die 90 schockierendsten Dinge, die Trump während des Wahlkampfs gesagt hat“ an.
Politik ist auch Entertainment, und wer Beleidigungskomik mag, findet in Trump, was er sucht.
Der Charme des Gangsters
Wie kann man vier Strafverfahren in ein wahlkampftaugliches Kandidatenporträt integrieren? Donald Trump, angeklagt wegen Fälschung von Geschäftsunterlagen (im Stormy-Daniels-Fall), wegen des Umgangs mit offiziellen Unterlagen (die Lagerung geheimer Dokumente in seinem Anwesen in Mar-a-Lago), wegen versuchter Wahlbeeinflussung (im Bundesstaat Georgia und beim Sturm auf das Kapitol in Washington), schafft auch das. Er leugnet zwar jegliches schuldhaftes Verhalten, präsentiert sich aber stolz als Gangster, und nicht als irgendeiner. Trump nennt Al Capone, legendärer, archetypischer Mafiaboss im Chicago der 1920er- und 1930er-Jahre, und zieht einen Vergleich, aus dem er wie meist als Sieger hervorgeht: „Er war wirklich hart, nicht? Aber er wurde nur ein Mal angeklagt, ich dagegen vier Mal!“
Trump mimt in seiner Interpretation der Geschichte nicht so sehr den Verbrecher, sondern vielmehr den von einer politisierten Justiz zu Unrecht verfolgten Angeklagten. Er schämt sich nicht seines Mugshots, des Fotos, das im Zuge des Strafverfahrens in Georgia im Fulton County Jail von ihm wie von jedem Angeklagten gemacht wurde – er lässt es von seinem Wahlkampfteam auf T-Shirts und Kaffeetassen drucken und verkaufen. Angeblich soll er damit umgerechnet sechseinhalb Millionen Dollar verdient haben.
Amerika mag seine Gangster, vom Eisenbahnräuber Jesse James über Al Capone bis zu … Donald Trump? Der Ex-Präsident und Präsident in spe schmückt sich mit Versatzstücken eines Unterweltbosses und strahlt dabei Old-School-Männlichkeit und Einer-gegen-alle-Charme aus. Sein erkennbarer Akzent des New Yorker Stadtteil Queens passt ins Bild, seine Auftritte, bei denen Anwälte rechts und links hinter dem grimmig dreinblickenden Angeklagten stehen, ebenso.
Viel plakativer kann man sich nicht gegen das System stellen – gegen die Regierung, die Justiz, die Elite. Dass sich Trump in Wahrheit gegen den Rechtsstaat positioniert, sagt er natürlich nicht, und seine Fans sehen das auch nicht so. Er ist nicht irgendein Gangster, er ist ihr Gangster. Wer seine Website donaldjtrump.com anklickt, wird mit diesem Satz begrüßt: „Sie sind nicht hinter mir her, sie sind hinter euch her … Ich stehe bloß im Weg!“
Er ist (möglicherweise) reich
In den USA gilt Reichtum, anders als etwa im tendenziell Reichen-skeptischen Österreich, als Beweis für Cleverness und Leistung. Donald Trump beansprucht für sich, ein immens erfolgreicher Milliardär zu sein. Ob das der Wahrheit entspricht, hängt davon ab, zu welchem Zeitpunkt man Kassasturz macht und welche Informationen man heranzieht. Als Star der TV-Show „The Apprentice“ verdiente Trump rund 200 Millionen Dollar, gleichzeitig verkaufte er seinen PR-trächtigen Namen als Marke und verdoppelte so sein Einkommen. Als Immobilienmogul, Besitzer von Golfresorts und Hotels verdiente er viel Geld – und verlor möglicherweise noch viel mehr. Aus seinen Steuererklärungen, die er jahrelang geheim hielt, ehe sie schließlich von der „New York Times“ veröffentlicht wurden, ging hervor, dass er 2008 und 2009 insgesamt eine Milliarde Dollar als Verlust geltend machte.
Wie vieles in der Biografie des schrillen Quereinsteigers ist auch seine ökonomische Situation eine schwindelerregende Achterbahnfahrt. Im März dieses Jahres wird über einen möglichen Bankrott Trumps spekuliert, weil er in einem Verfahren fast eine halbe Milliarde Dollar als Kaution hinterlegen soll. Doch dann wird die Summe auf 175 Millionen herabgesetzt, und im April lukriert Trump – auf dem Papier – einen Gewinn von 1,2 Milliarden Dollar, weil ein Deal Millionen Aktien der Trump Media & Technology Group (das Unternehmen hinter seiner Social-Media-App „Truth Social“) in sein Portfolio spült. Bald darauf sackt der Kurs wieder ab.
Trump, Co-Autor des 1987 erschienenen, stark ichbezogenen Ratgebers „The Art of The Deal“, mag reich sein oder am Ende bloß scheinbar reich, sein Lebensstil und seine Geschäfte verschaffen ihm in der Öffentlichkeit unzweifelhaft die Aura eines Tycoons. Zum Vergleich: Joe Biden besitzt seit Langem zwei Häuser an seinem Wohnort Delaware, ein äußerst unspektakulär angelegtes Vermögen, dessen Wert laut dem US-Magazin „Forbes“ während seiner Amtszeit von acht auf zehn Millionen Dollar gestiegen ist.
Er war ein erfolgreicher Präsident
Wer das behauptet? Erstaunlich viele Amerikanerinnen und Amerikaner. 42 Prozent der Befragten gaben vergangenen April in einer Umfrage von „New York Times“/Siena College an, die Amtszeit von Donald Trump seien „überwiegend gute Jahre für Amerika“ gewesen. Lediglich 25 Prozent sagen dasselbe über Joe Bidens aktuelle Präsidentschaft. Besonders gut schneidet Trump in der Erinnerung der Wählerschaft darin ab, wie er die Wirtschaft gesteuert hat und wie er für Recht und Ordnung gesorgt hat. Interessanterweise haben sich diese Werte im Vergleich zu Umfragen unmittelbar nach dem Ende von Trumps Amtszeit deutlich verbessert.
Vergessen ist das Chaos der Trump-Jahre, vergessen sind die unzähligen Auseinandersetzungen, die sich der Präsident mit allen Institutionen – Justiz, Ministerien, Medien – geliefert hat. Seine Idee, Grönland zu kaufen; seine Steuergeschenke; sein Lob für die russischen Geheimdienste; seine Brieffreundschaft mit dem nordkoreanischen Diktator Kim Jong-un; seine Drohung, Hilfen an die Ukraine einzufrieren, wenn dort nicht gegen Bidens Familie ermittelt würde …
Vielleicht erscheint vieles im Rückblick harmlos, weil die aktuellen Krisen – die Kriege in der Ukraine und Gaza, die Inflation – um so viel dramatischer oder folgenschwerer für die Bevölkerung sind.
Trump hat selbstredend auch eine Erklärung für seine überraschend respektablen Werte: „Amerika war stärker und härter und reicher und sicherer und selbstbewusster. Denkt mal nach.“
Trump hat in wichtigen Punkten recht behalten
Im Jänner dieses Jahres erschien in der „New York Times“ ein beachtenswerter Kommentar von Bret Stephens, einem der ständigen Kolumnisten dieser sehr Trump-kritischen Zeitung. Titel: „Ein Plädoyer für Trump … von jemandem, der möchte, dass er verliert“.
Stephens unternahm den Versuch, herauszufinden, was Trump so beachtlich macht, und scheute dabei nicht davor zurück, dem Ex-Präsidenten in wesentlichen Punkten zumindest teilweise recht zu geben.
Der wichtigste: die Massenmigration. Sie sei „wohl das wichtigste geopolitische Faktum des Jahrhunderts“ und bewirke „tektonische demografische, kulturelle, ökonomische und letztlich politische Veränderungen“, schrieb Stephens. Genau das habe Trump bereits im Wahlkampf für die Präsidentschaft 2016 erkannt und eine simple Botschaft ausgegeben: „Eine Nation ohne Grenzen ist keine Nation. Wir brauchen eine Mauer. Der Rechtsstaat ist wichtig!“
Zwar gelang es Trump nicht, die Mauer an der Grenze zu Mexiko tatsächlich zu bauen, und noch weniger schaffte er es, Mexiko zu zwingen, die Rechnung dafür zu begleichen, wie er es im Wahlkampf versprochen hatte, aber ein Gutteil der Wählerinnen und Wähler stimmte seiner Botschaft zu – und der Anteil steigt.
Im Lager der Demokraten herrschte zu diesem Zeitpunkt noch die Überzeugung, die ungeregelte Migration sei gar nicht so schlimm, aus humanitären Gründen akzeptabel oder auch wirtschaftlich von Vorteil. Mittlerweile stöhnen ganze Bundesstaaten unter dem Ansturm der Migranten, die über die südliche Grenze kommen und von listigen republikanischen Politikern in Bussen in von Demokraten regierte Bundesstaaten wie New York gebracht werden – wo wiederum die Menschlichkeit in Überforderung umschlägt.
Man muss Trumps Vision einer Festung Amerika nicht zustimmen, um zu dem Schluss zu kommen, dass er das Problem der Migration jedenfalls rascher als solches erkannt hat. Stephens schreibt, es sage „etwas über die Selbsttäuschung der westlichen Politik aus“, dass Trumps „Bestandsaufnahme des Offensichtlichen als moralischer Skandal“ angesehen wurde. Hier muss man zumindest einwenden, dass sachliche Bestandsaufnahmen in Trumps Repertoire nicht vorkommen. Als er 2015 über Migration sprach, flocht er unablässig rassistische Anschuldigungen in sein Konzept ein. Prototypisch sein Ausspruch über mexikanische Einwanderer: „Sie bringen Verbrechen mit. Sie sind Vergewaltiger. Und manche, vermute ich, sind gute Leute.“
Dennoch: Hängen geblieben ist in der Erinnerung vieler Wähler vor allem, dass Trump frühzeitig ansprach, was bis heute als ungelöstes Problem angesehen wird.
Ein weiterer wichtiger Punkt in Trumps Konzeption ist seine generelle Einschätzung der Lage der Nation. Seine Überzeugung ist, dass in den USA alles schieflaufe, und das System von Grund auf geändert oder zerschlagen werden müsse, während die Demokraten die Meinung vertreten, im Großen und Ganzen sei alles in Ordnung.
Die Bevölkerung gibt in dieser Frage Trump recht. In einer repräsentativen Umfrage sagen 14 Prozent, das System müsse „komplett niedergerissen werden“, und weitere 55 Prozent wollen „bedeutende Veränderungen“. Aber nur 24 Prozent der Befragten trauen Biden dies zu, während stattliche 70 Prozent Trump dazu imstande sehen. Der Wunsch nach der viel zitierten Disruption scheint sich nach 2016 auch jetzt abzuzeichnen, und Donald Trump verkörpert sie wie niemand sonst.
Trump ist auch nicht undemokratischer als seine Gegner
Der Sturm auf das Kapitol am 6. Jänner 2021 bleibt für viele Amerikanerinnen und Amerikaner das entlarvende Ereignis in Donald Trumps erster Amtszeit. Ein gewalttätiger Mob drang in das Gebäude des Kongresses ein, um den Ablauf der Wahl des neuen Präsidenten Joe Biden zu verhindern, nachdem Donald Trump monatelang unwahre Behauptungen verbreitet hatte, wonach ihm der Wahlsieg „gestohlen“ worden sei.
Aber nicht alle sehen das so. Vielen Leuten ist zwar klar, dass das, was am 6. Jänner in Washington geschah, eine Schande ist, doch sie sehen darin keinen ernsthaften Umsturzversuch. Tatsächlich wurde Trump selbst in keinem Strafverfahren wegen „Insurrection“ (Aufstand) angeklagt. Doch die linksgerichtete Organisation „Citizens for Responsibility and Ethics in Washington“ brachte in mehreren Bundesstaaten eine Klage ein, die Trump per Gerichtsbeschluss als Kandidaten für die Präsidentschaftswahl im November disqualifizieren sollte. In Colorado war diese Klage zunächst erfolgreich, bis schließlich der Supreme Court in Washington einstimmig entschied, dass dies nicht rechtens sei.
Der letztlich erfolglose Versuch, den aussichtsreichsten Gegenkandidaten vor der Wahl auf fragwürdige Weise zu eliminieren, warf ein schiefes Licht auf die Trump-Kritiker und relativierte in den Augen vieler den Vorwurf, Trump allein sei eine Gefahr für die Demokratie. In Trumps Worten klingt das so: „Ich glaube nicht, dass es in diesem Land noch einmal eine Wahl geben wird, wenn wir diese Wahl nicht gewinnen …
sicher keine Wahl, die Bedeutung hat.“
Trump wird diverser
Das kann nicht sein. Der Mann, der keine rassistische Bemerkung scheut, der Migranten als „Vergewaltiger“ bezeichnete, einen Einwanderungsstopp für Menschen aus muslimischen Staaten verhängte („Muslim Ban“) und den Slogan „Black Lives Matter“ (der Bewegung gegen Polizeigewalt an Schwarzen) als „Symbol des Hasses“ geißelte, soll nicht mehr bloß die Führerfigur der wütenden Weißen sein?
Genau das. Bei keiner Bevölkerungsgruppe holt Donald Trump seinen Rückstand so rasch auf wie bei „nichtweißen“ Wählern. Mehreren Umfragen zufolge ist der Vorsprung von Joe Biden in diesem Segment erheblich geschrumpft: 57 Prozent aller afroamerikanischen, asiatischstämmigen und Latino-Wähler wollen demnach für Biden stimmen – 2020 waren es laut Nachwahlbefragungen hingegen noch 71 Prozent.
Wie macht Trump das?
Es mutet einigermaßen paradox an, aber unter der Führung des Multimillionärs Trump hat die Republikanische Partei ihr Image als elitärer Klub der reichen Weißen zunehmend abgestreift. Vermutlich, weil Trump sich mit allen Eliten anlegt und mit seinem derben Stil fraglos das einfache Volk anspricht. Und so vollzieht sich ein gar nicht so unlogischer Wechsel im Wahlverhalten: Schwarze, Latinos und Asiaten, die politisch konservative Positionen vertreten – für das Recht auf Waffenbesitz, gegen Abtreibung, gegen Gender-Lehre – hatten bisher überwiegend demokratisch gewählt, weil es in ihrer Community verpönt war, republikanisch zu wählen. Das ändert sich jetzt. Konservative Nichtweiße wählen zusehends republikanisch – trotz oder auch wegen Donald Trump.
Sexy, reich, witzig, taff, politisch clever, pro Diversität und auch nicht undemokratischer als die anderen? Es ist ein kurioses, verkehrtes Bild von Donald Trump, das entsteht, wenn man der Hälfte der USA zuhört, die auf seiner Seite steht oder ihn zumindest nicht von vornherein ablehnt. Es ist bestimmt kein Porträt, das diesem Mann gerecht wird. Vieles wird ausgeblendet, uminterpretiert und geschönt. Aber viele Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner sehen Donald Trump so. Sie haben sich auch durch jahrelange mediale Berichterstattung über seine Straftaten, Lügen und Übergriffe nicht davon abbringen lassen.
Es ist ihre Realität, es ist ihr Donald Trump. Wer amerikanische Politik verstehen will, sollte ihn zumindest kennen.
Robert Treichler
Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur