Putins TV-Rede an das russische Volk
Russland

Was spricht für Putins Ende - und was dagegen?

Stürzt der Autokrat Putin? Was nach der gescheiterten Meuterei der Gruppe Wagner für ein baldiges Ende seiner Herrschaft spricht – und was dagegen.

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Vielleicht hat Andrij Jermak recht. Der engste Berater des ukrainischen Staatspräsidenten Wolodymyr Selenskyj prophezeite vergangene Woche Wladimir Putins Schicksal: „Ich denke, der Countdown hat begonnen.“ Allerdings bleibt immer noch die Frage, wie lange dieser Countdown läuft. Ein paar Monate? Ein Jahr? Fünf? Zehn?

Eine Woche nach der seltsamen Zwei-Tage-Meuterei von Jewgeni Prigoschin und seiner paramilitärischen Gruppe Wagner, die Merkmale eines Putschversuchs aufwies, schließlich aber doch keiner gewesen sein soll, ist die endgültige Geschichte des 23. und 24. Juni längst noch nicht geschrieben. Kein Wunder, hängt doch die Interpretation der Ereignisse stark davon ab, wer die Historie einordnet – und mit welcher Absicht.

Wladimir Putin lässt deutlich erkennen, dass er das, was da in Rostow am Don und in weiterer Folge auf der Autobahn M4 in nördlicher Richtung bis nach Woronesch und 240 Kilometer vor Moskau passiert ist, möglichst schnell vergessen möchte und dabei am liebsten auch für alle Russinnen und Russen vergessen machen möchte. Am Samstag hatte der Präsident noch von „Landesverrat“ und einer „bewaffneten Rebellion“ gesprochen und schwere Strafen angedroht, doch bereits am Montagabend redete er die existenzielle Bedrohung des Staates klein. Er bedankte sich bei „allen Bürgern Russlands“ für „die Ausdauer, die Geschlossenheit und den Patriotismus“ und beschwor „die Verantwortung für das Schicksal des Vaterlandes“. Dass der Anführer der Meuterei, im Zuge derer Wagner-Kämpfer mehrere Hubschrauber und ein Transportflugzeug der russischen Luftwaffe abgeschossen hatten, straffrei nach Belarus ins Exil gehen konnte, widerspricht Putins Ankündigung, die Verräter zur Rechenschaft zu ziehen. Doch all das scheint vergessen. Auch die Information des US-Geheimdienstes, wonach General Sergej Surowikin, der bis zum Jänner dieses Jahres der Oberkommandierende der russischen Streitkräfte in der Ukraine war, in Prigoschins Pläne eingeweiht gewesen sein soll, wischte Putin-Sprecher Dmitri Peskow zunächst weg: „Gerüchte.“

Putins Gegner hingegen sehen in der Rebellion ein untrügliches Zeichen des beginnenden Zerfalls von Putins Macht. Michael McFaul, früherer US-Botschafter in Moskau, schreibt im von der Johns Hopkins University Press herausgegebenen „Journal of Democracy“: „Putin ist viel schwächer aus dieser Krise hervorgekommen, als er es vor wenigen Tagen war. Und er wird nicht viele Gelegenheiten haben, seine Herrschaft in naher Zukunft zu stärken.“ Was also spricht dafür, dass Putin sich an der Macht halten kann – und was spricht dagegen?

Die Repression

Sie ist das wichtigste Werkzeug eines Autokraten oder Diktators, um sich Gegner vom Leib zu halten, und Wladimir Putin kann sich dabei auf einen besonders effektiven Apparat stützen. Der einstige sowjetische Geheimdienst KGB, in dem Putins Karriere begann, wurde 1995 als FSB neu gegründet und soll heute, gerechnet an der Bevölkerungszahl, über mehr Mitarbeiter verfügen als zu Zeiten der UdSSR.

Bisher hat der FSB jede aufkeimende oppositionelle Bewegung erfolgreich ausgeschaltet und deren Anführer mittels Attentaten oder Lagerhaft aus dem Verkehr gezogen. Es sieht nicht so aus, als könnten ihm Pro-Demokratie-Bewegungen gefährlich werden. Putin hat zudem dafür gesorgt, dass die sowjetische Praxis der Infiltrierung der Streitkräfte durch Spionageabwehroffiziere beibehalten wurde. Das US-Magazin „Foreign Affairs“ nennt dies in einem Artikel („Don’t Count the Dictators Out“) in seiner aktuellen, vor dem 23. Juni erschienenen Ausgabe als einen von mehreren Gründen, weshalb Putins Regime gegenüber Umsturzversuchen gut gewappnet sei.

Doch die Meuterei von Prigoschin lässt starke Zweifel an der scheinbaren Unantastbarkeit aufkommen. Das „Wall Street Journal“ berichtete, dass der russische Geheimdienst zwei Tage vor Beginn des Aufstands davon Wind bekommen hatte. Prigoschin dürfte deshalb früher als geplant den Startschuss gegeben haben. Wesentlich ist, dass die Überraschung des Kremls darauf hindeutet, dass die Dienste Putin nicht informierten. Der unabhängige, in Russland aktive Online-Nachrichtendienst „Meduza“ zitierte eine Quelle, dergemäß der Geheimdienst „nicht die Nerven hatte, dem Präsidenten zu sagen, dass mit Prigoschin etwas nicht stimmt“.

Schlimmer noch: General Sergej Surowikin, der in Prigoschins Pläne offenbar eingeweiht war, hielt ebenfalls dicht. Er wurde seit der Meuterei nicht mehr gesehen, unbestätigten Meldungen zufolge ist er in Haft.

Zweifelsohne sind derzeit Säuberungsaktionen im Gange, und Putin muss alles unternehmen, um die Verlässlichkeit seines Sicherheitsapparates wiederherzustellen. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan stand nach dem Militärputsch im Juli 2016 vor derselben Aufgabe, und bis heute, sieben Jahre später, ist die Lage ruhig geblieben. Dennoch: Die Ungewissheit in Moskau bedeutet eine zumindest vorübergehende Schwächung Putins.

Das Bild des starken Mannes

Ebenso wichtig wie die tatsächliche Fähigkeit, Gegner in den eigenen Reihen auszuschalten, ist der Eindruck, den die Eliten und auch die breite Öffentlichkeit von Putin haben.

Der Präsident hat versucht, die Insignien der Macht einzusetzen: die TV-Ansprache an das Volk; den Auftritt vor hochrangigen Uniformierten; das Bad in der Menge in der Stadt Derbent am Kaspischen Meer.

Allerdings bleibt das nicht zu leugnende Faktum, dass mit Prigoschin der Anführer der Meuterei straflos ins Exil gehen durfte – und mit ihm ein großer Teil der Söldner der Gruppe Wagner.

Das verleiht Putin den Anschein von Milde, die im Gegensatz zu seinen martialischen Ansagen steht, und das wiederum riecht nach Schwäche.

Putin wird nicht viele Gelegenheiten haben, seine Herrschaft in naher Zukunft zu stärken.

Michael McFaul,

Ex-US-Botschafter

Die Taktik der Gegengewichte

Dieses Buch der US-Politologin Erica de Bruin sollte auf Wladimir Putins Nachtkästchen liegen: „How to Prevent Coups d’État – Counterbalancing and Regime Survival“ (Wie verhindert man Staatsstreiche – Gegengewichte und das Überleben von Regimen“). De Bruin hat Daten von mehr als 100 Coups analysiert und herausgefiltert, was die Herrschaft von diktatorischen Regimen sicherer macht. Ein wesentlicher Punkt ist das Schaffen von militärischen Gegengewichten im eigenen Land. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass sich Soldaten einem Putschversuch entgegenstellen. Putin mag de Bruins Theorie nicht kennen, doch er handelt danach: 2016 entzog er dem Innenministerium die militärischen Truppen für die innere Sicherheit sowie auch die Spezialkräfte der Polizei und gründete damit die Nationalgarde, die direkt dem Präsidenten unterstellt ist. Geleitet wird die Nationalgarde, deren Stärke auf bis zu 200.000 Mann geschätzt wird, von Viktor Solotow, einem der engsten Vertrauten von Putin. Die beiden kennen einander seit den 1990er-Jahren.

Unmittelbar nach dem Aufstand vom vergangenen Wochenende verlangte Solotow – zweifellos nicht ohne Putins vorherige Zustimmung – für seine Truppen Panzer und schwere Waffen mit größerer Reichweite.

De Bruins Analyse zeigt aber, dass das „Counterbalancing“ zwar die Erfolgsaussichten von Coups schmälert, jedoch nicht deren Häufigkeit.

Unzufriedene innerhalb der russischen Eliten, besonders im Militärapparat, haben jetzt erlebt, wie rasch eine Situation entstehen kann, in der Putin selbst von einem „Bürgerkrieg“ spricht und ihm die Macht zu entgleiten droht.

 

Die Loyalität der Bevölkerung

Autokratische Regime können sich als erstaunlich widerstandsfähig erweisen, selbst wenn es im Volk bereits brodelt. Im oben zitierten „Foreign Affairs“-Artikel wird dies darauf zurückgeführt, dass Autokratien, die aus Revolutionen – und nicht aus gewöhnlichen Staatsstreichen – hervorgegangen sind, resilienter sind. Das gilt für die Herrschaft der Kommunistischen Partei in China, für die Theokratie im Iran und, wenn auch auf Umwegen, für das System Putin. Letzteres nämlich hat einen Teil des Erbes der bolschewistischen Revolution von 1917 und der Sowjetunion übernommen. Das gilt sowohl für den repressiven Staatsapparat als auch für das daraus resultierende Fehlen einer starken Zivilgesellschaft.

Putin schafft es dabei, sowohl die Nostalgie in Bezug auf die Größe der Sowjetunion in sein Weltbild zu integrieren als auch den Zarismus, die russisch-orthodoxe Tradition und den russischen Nationalismus. All das verleiht seiner Herrschaft in den Augen eines großen Teils der Bevölkerung ein legitimes Fundament. Dazu kommen der außenpolitische Erfolg, Russland in den vergangenen zwei Jahrzehnten wieder als internationalen Player etabliert zu haben, sowie der wirtschaftliche Aufstieg: Russland verzeichnete während seiner Herrschaft ab 1999 mit Ausnahme der Krise von 2009 fast durchwegs Wachstum.

Doch diese Story endet jäh mit der Invasion Russlands in der Ukraine. Putin hat einen großen Krieg begonnen, und das eklatante Scheitern in Kombination mit enormen Verlusten an Soldaten kann schon bald das Bild, das die Bevölkerung von ihm hat, zu seinem Nachteil verändern. Es ist kein Zufall, dass die gescheiterte Meuterei ursprünglich aus einem Konflikt um die Kriegsführung entbrannte.

Autokraten machen Fehler, die sie nicht eingestehen können. Weil sie aber in Ermangelung eines demokratischen Wechsels nicht abgesetzt werden können, sucht sich der Unmut in der Elite und in der Bevölkerung ein Ventil. So entstehen Aufstände.

Wie stabil also ist Putins Herrschaft?

Die Antwort liegt in der Komplexität aller angeführten Faktoren. Ein Parameter jedoch lässt sich einigermaßen objektiv nachvollziehen: der Krieg in der Ukraine. Die Gegenoffensive der Ukraine kann den Kriegsherrn Putin zu Wladimir, dem Schwachen, werden lassen. Vor den Augen der Weltöffentlichkeit, der russischen Militärführung und der eigenen Bevölkerung.

17 Quadratkilometer konnten die ukrainischen Streitkräfte vergangene Woche nach Angaben der Vizeverteidigungsministerin Hanna Maliar befreien. Das ist noch nicht sehr viel, glaubt man aber der ukrainischen Führung, ist das erst „eine Vorschau dessen, was noch kommt“. Behält sie recht, dann könnte der Countdown für Putin tatsächlich zu laufen beginnen.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur