Gorbatschow 2014 in Berlin
Sowjetischer Ex-Präsident

Zum Tod von Michail Gorbatschow: "Militärische Phase rasch beenden"

Der ehemalige Präsident der Sowjetunion und Friedensnobelpreisträger Michail Gorbatschow ist 91-jährig verstorben. Im profil-Interview sprach er 2001 über den US-Militäreinsatz in Afghanistan, den Nahost-Konflikt und eine neue Sicherheitsordnung.

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Der russische Friedensnobelpreisträger und ehemalige sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow ist tot. "Heute Abend ist nach schwerer und langer Krankheit Michail Sergejewitsch Gorbatschow gestorben", teilte das Zentrale klinische Krankenhaus (ZKB) der russischen Hauptstadt am Dienstagabend mit. Er war 91 Jahre alt. Der weltweit geschätzte Politiker galt als einer der Väter der Deutschen Einheit und als Wegbereiter für das Ende des Kalten Krieges. Mit profil sprach er im November 2001 in Wien:

profil: Herr Gorbatschow, Sie haben vor kurzem in Madrid davor gewarnt, der Militäreinsatz in Afghanistan könnte bald zu einem veritablen Krieg ausufern. Wie weit sind wir davon noch entfernt?
Gorbatschow: Wir stehen am Rande eines Krieges. Wenn sich diese Anti-Terror-Operation jetzt zu einem echten Krieg auswächst, dann wird das sehr ernste Folgen haben. Ich habe es schon oft gesagt: Den Krieg in Afghanistan kann man nur unter einer Voraussetzung gewinnen, und zwar, indem man die Afghanen selbst vernichtet. Aber dies wäre Völkermord, kein vernünftiger Mensch würde das befürworten. Deshalb muss man adäquate Maßnahmen gegen die Infrastruktur der Terroristen ergreifen. Natürlich muss man auch der Tatsache ins Auge sehen, dass das Taliban-Regime gemeinsam mit den Terroristen aufgetreten ist. Daher ist es wahrscheinlich unvermeidlich, die militärischen Objekte der Taliban zu bombardieren.

profil: Sie haben in Ihrer Amtszeit den Rückzug sowjetischer Truppen aus Afghanistan durchgezogen. Was raten Sie denn jetzt den Amerikanern?
Gorbatschow: Ich habe nur einen Wunsch, und das ist der Wunsch eines Menschen, der Erfahrung hat, vor allem mit Afghanistan: Wir müssen rasch aus dieser militärischen Phase herauskommen. Das bedeutet nicht, dass wir schon morgen diesen Krieg beenden können. Die Taliban provozieren uns, das ist ja ganz offenkundig. Nichts-destotrotz muss man Mittel und Wege finden, um diese militärische Phase zu beenden und zu einer politischen überzugehen. Man muss sich schon jetzt auf diese politische Phase vorbereiten, denn Afghanistan ist ein multiethnischer Staat. Dort gibt es die verschiedensten Stämme, Paschtunen, Usbeken, Tadschiken und viele andere - und die entscheidende Rolle spielen die Führer der ethnischen Gruppen. Das heißt, die künftige Regierung muss eine Koalitionsregierung sein.

profil: Das heißt, man kann nicht allein die Nordallianz mit der Regierung be-trauen?
Gorbatschow: Die Rolle der Nordallianz wird sicherlich wichtig sein, aber zur Regierung müssen Vertreter aller ethnischen Gruppen gehören. Das bedeutet aber nicht, dass jene in die Regierung kommen sollen, die Afghanistan an den Rand des Abgrunds gebracht und den Terroristen Zuflucht gewährt haben.

profil: Sollten UN-Friedenstruppen nach Afghanistan kommen?
Gorbatschow: Das muss gut überlegt werden. Ich trete auf jeden Fall dafür ein, dass der UN-Sicherheitsrat auch weiterhin eingebunden bleibt, so wie das Gott sei Dank auch bisher der Fall war. Alle Schritte werden umso überzeugender sein - egal, ob das Anti-Terror-Operationen oder politische Operationen sind -, wenn der UN-Sicherheitsrat nicht nur zusieht, sondern selbst aktiv wird. Andernfalls könnte eine Lage entstehen, in der diese Maßnahmen keine Unterstützung mehr auf der Welt finden. Als wir unsere Truppen aus Afghanistan abzogen, haben wir einen internationalen Vertrag abgeschlossen, sowohl unter der Mitwirkung der USA als auch des Iran, Pakistans und unter Konsultation mit Indien. Aber irgendjemandem ist es dann eingefallen, die Taliban auszubilden und sie dort aktiv werden zu lassen, um dann nochmals die Lage zu ändern, schon nach dem Abzug der sowjetischen Truppen.

profil: Sie meinen die Amerikaner.
Gorbatschow: Die Amerikaner haben jetzt mit dem zu kämpfen, was sie ursprünglich ermutigt haben, und das hätte nicht passieren dürfen. Man muss die Interessen Afghanistans an vorderster Front sehen - 20 Jahre Bürgerkrieg und Zerstörung. Man darf deshalb nicht nur an die Gas- und Ölleitungen denken, sondern an das afghanische Volk. Sobald Afghanistan wiederaufleben kann, können auch die Gas-und Ölleitungen wieder dort durchführen, sonst werden sie in die Luft fliegen. Vielleicht ist es für irgendjemanden interessant, Afghanistan einfach in eine Wüste zu verwandeln und dann die Gas- und Ölleitungen durchzuleiten. Das wäre barbarisch und auch nicht die richtige Reaktion auf den Terrorismus. Das wäre sogar schlimmer als dieser Terrorismus. Deshalb unterstütze ich jetzt die Entscheidungen des UN-Sicherheitsrats, aber auch die Maßnahmen der amerikanischen, der russischen und anderer Regierungen.

profil: Hat Russland jetzt freie Hand beim Vorgehen in Tschetschenien?
Gorbatschow: Auch dort muss man zwischen der Zivilbevölkerung und den Rebellen unterscheiden und eine politische Lösung des Konflikts erreichen.

profil: Zum Nahost-Konflikt: Hat die neue US-Regierung nicht zu wenig getan, um den Friedensprozess weiterzuführen?
Gorbatschow: Einerseits wurde viel getan. Aber dieses Problem ist monopolisiert worden. Wenn auch die EU und Russland mehr eingebunden gewesen wären - ich bin ja einer der Co-Vorsitzenden der Ma-drider Initiative - und auch alle benachbarten arabischen Staaten, dann wäre dieser Prozess vielleicht noch komplizierter gewesen, aber viel solider, viel dauerhafter. Einfache Lösungen führen in der Regel später zu großen Komplikationen. Auf beiden Seiten ist man jetzt der jahrelangen Konflikte müde, und wir müssen hier wirklich den Völkern Israels und Palästinas helfen, diesen Prozess zu Ende zu führen, die Verhandlungen wieder aufzunehmen. Aber ohne Kompromisse von beiden Seiten wird es kaum gelingen. Es kann in solchen Konflikten keine Sieger geben, denn der Unterlegene wird eines Tages, früher oder später, wieder sein Problem aufwerfen.

profil: Sie haben in Wien von der Notwendigkeit einer neuen Weltordnung gesprochen und die Armut in der Dritten Welt kritisiert. Was kann man dagegen tun? Sollte man die Tobin-Tax, eine Steuer auf Devisentransaktionen, einführen?
Gorbatschow: Im Rahmen eines Seminars, an dem auch Herr Tobin und weitere Wirtschaftswissenschafter teilnahmen, haben wir dieses Problem erst kürzlich besprochen. Ich glaube, wir brauchen solche Mechanismen. Resolutionen und Hilfszusagen im Rahmen der UN, das gibt es alles bereits mehr als genug. Es gibt keinen direkten Zusammenhang zwischen Armut und Terrorismus. Aber eine neue Weltordnung ist notwendig. Auf Basis der Wiener Abkommen, der Pariser Charta hat man versucht, ein neues Europa aufzubauen. Aber nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion begannen viele, im Trüben zu fischen, das ist nicht der richtige Weg. Vor ein paar Tagen habe ich gemeinsam mit Ex-Präsident Bill Clinton an einer Konferenz teilgenommen. Mir hat sehr imponiert, dass Clinton erklärt hat, dass uns die Tatsache, dass wir in einer vernetzten Welt leben, dazu zwingt, uns ganz neu zu verhalten. Schade, dass er es so spät sagt, aber gut, dass er es doch sagt. Es hat mich auch sehr gefreut, dass Clinton jetzt gegen die Armut in der Welt ankämpfen will. Es geht um die Verwirklichung von regionalen Projekten, aber auch um Unterstützung für Kleinunternehmen. Ich habe mir schon viele Unannehmlichkeiten eingehandelt, weil ich immer davon spreche. Die derzeit aktiven Politiker sagen: "Gorbatschow ist doch schon in Pension, der soll jetzt Ruhe geben." Aber diese Projekte liegen mir zu sehr am Herzen. Ich bin im Gespräch mit Politikern, auch Ex-Politikern, um ein internationales Forum zu gründen, eine Art "politisches Davos", weil wir alle unter einem Mangel an Führungspersönlichkeiten und Führungskraft leiden.

profil: Zur Sicherheitspolitik: Welche Rolle wird in Europa die neue NATO spielen? Sie wird sich nächstes Jahr erweitern.
Gorbatschow: Nach dem 11. September muss man auch unsere Sicherheitsprojekte neu bewerten. Es kann nicht eine Sicherheit für Russland und eine andere für die USA geben. Wir brauchen gemeinsame Sicherheit. Die Schritte des russischen Präsidenten sind sehr weitreichend. Putin stellte die Frage, ob wir nicht überhaupt eine neue europäische und internationale Sicherheitsarchitektur brauchen. In jedem Fall kann hier kein Mechanismus wirklich erfolgreich sein, der Russland eine zweitrangige Rolle zuweist. Russland muss natürlich auch Verantwortung übernehmen. Der kalte Krieg in den Köpfen der Politiker und der Militärs muss endlich beendet werden. Wenn Putins Worte nicht beachtet werden, dann wird eine weitere Chance vertan. Es gibt jetzt eine Umfrage unter den russischen Bürgern, welche Beziehung sie zu den Amerikanern haben wollen: Eine partnerschaftliche, freundschaftliche, langfristige haben 68 Prozent befürwortet. Das ist doch ein wesentlicher Prozentsatz.

profil: Welchen Sinn sehen Sie noch in der Neutralität Österreichs, heute und in der künftigen neuen Weltordnung?
Gorbatschow: Die Neutralität ist etwas Gutes, sie soll bleiben, aber das ist jetzt schon Ihre Angelegenheit. Wir haben da nie Ansprüche oder Forderungen an Österreich gestellt.

Interview: Otmar Lahodynsky