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Sandtner im Club 3: Der Erfolg und seine Folgen

Berthold Sandtner, Militäranalyst des Bundesheers, mahnt zur Vorsicht: Die schnelle Gegenoffensive der Ukraine bringe Risiken mit sich.

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Militärstrategen müssen in ihren Planungen immer vom Worst-Case-Szenario ausgehen, daher könnte selbst die Ukraine überrascht gewesen sein, wie erfolgreich und schnell sie mit ihrer Gegenoffensive im Nordosten des Landes vorankam. Aber gerade deswegen sollte die Truppe jetzt sehr vorsichtig sein, glaubt Oberst Berthold Sandtner vom Bundesheer. Er war diese Woche im Club 3 – dem TV-Format von profil, „Kurier“ und „Kronen Zeitung“ – zu Gast. „Die Frage, die wir uns  gestellt haben, ohne belehrend wirken zu wollen, ist:  „Erkennt man von ukrainischer Seite rechtzeitig, wann es genug ist?“ 

Die zurückeroberten Gebiete müsse die Ukraine immerhin auch verteidigen können, und dafür brauche das Land Ressourcen. Dabei geht es um Waffenlieferungen aus dem Westen, um genügend Soldatinnen und Soldaten, aber auch um die Verpflegung. Denn der Winter naht, „und da hängt kein Apfel am Baum oder sonst irgendwas“. Allein der Transport von den 15 Litern Wasser, die ein Soldat pro Tag braucht, sei eine massive Herausforderung bei minus 20 Grad. 

Auch deswegen glaubt Sandtner, dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj seine Bevölkerung zur Vorsicht mahnen könnte. Man vermarkte zwar mit Fug und Recht die Gegenoffensive als Erfolg. Aber die Bevölkerung, die aus dem Kriegsgebiet geflohen sei, beobachte das genau. „Der Wille, zurückzugehen, ist sehr, sehr groß.“ Gut möglich, dass die Regierung den Menschen rate, lieber den Winter in der EU abzuwarten und nicht in die Heimat, noch aus Schutt und Asche, zurückzukehren. „Es gibt keine Energie, es kann nicht geheizt, es kann nicht gekocht werden.“ Sollte es riesige Bewegungen zurück in die Ukraine geben, würde das die Versorgungslage nur verschlimmern. 

Die Moral spielt in der Ukraine eben eine große Rolle, auch bei den russischen Kräften. Sandtner nennt es den „qualitativen Aspekt“ des Krieges. Wenn man hört, dass bei der ukrainischen Offensive ausgerechnet die Offiziere als Erste Zivilkleidung und Autos gestohlen haben und damit geflohen sind, sage das einiges über die Verfasstheit der Truppe aus. Russland will nach wie vor nicht über eine Generalmobilmachung sprechen. Aber man rekrutiere schon seit Längerem zum Beispiel obdachlose Menschen oder Gefängnisinsassen. 

Und was bedeutet das alles für den Westen, für die Europäische Union? Unmittelbar werden die Regierungen die Frage beantworten müssen, welches Gerät sie noch liefern können – und wollen. In Deutschland wird gerade über Kampfpanzer diskutiert. Selenskyj fordert die Lieferung ein, die Kanzlerpartei SPD lehnt sie vorerst ab. Einerseits aus politischen Gründen, glaubt Sandtner: „Der Kampfpanzer sind 60 Tonnen Stahl, die dazu gedacht sind, gegen andere Panzer, gegen Infanterie zu kämpfen.“ Hier gebe es offenbar Berührungsängste. Andererseits zögert Deutschland auch aus militärisch-strategischen Gründen. Denn wenn die EU-Länder nun nach jahrelangen Sparplänen aufrüsten wollen, brauchen sie die schweren Waffen eigentlich für sich. 

Zum Schluss gab Sandtner noch ein Worst-Case-Szenario, eine Warnung mit: Man sollte Russlands Langatmigkeit nicht unterschätzen: „Auch wenn es jetzt militärisch gerade am Verlieren ist, ist der Krieg noch lange nicht zu Ende.“

Iris Bonavida

Iris Bonavida

ist seit September 2022 als Innenpolitik-Redakteurin bei profil. Davor war sie bei der Tageszeitung "Die Presse" tätig.