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Cyber Heroes sind gefragt

Eine Frage der Zivilcourage: Im Wissenschaftstalk „Spontan gefragt“ dreht es sich um Hate Speech und Gegenmaßnahmen.

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Nicht immer ist es auf den ersten Blick erkennbar. Und dennoch kann es zutiefst verletzend sein. Hate Speech äußert sich im digitalen Raum auf vielfältige, oft subtile Art und Weise. Und besonders häufig sind Jugendliche davon betroffen. Aus diesem Grund lädt Moderator Markus Hengstschläger Ulrike Zartler, Familiensoziologin an der Universität Wien, und die Ö3-Moderatorin Tina Ritschl als Gäste in den Wissenschaftstalk „Spontan gefragt“ ein. 

Zunächst will Markus Hengstschläger von der Forscherin wissen, inwiefern sich Hate Speech, Cyber Mobbing und digitale Gewalt unterscheiden. Eine Differenzierung sei kaum möglich, entgegnet die Familiensoziologin. „Speziell Jugendliche sind einer großen Bandbreite von Gewaltformen im Internet oder in Social Media ausgesetzt“, so Zartler. „Es beginnt bei Beleidigungen, anzüglichen oder rassistischen Bemerkungen und geht über Beschimpfungen bis hin zu manipulierten Fotos. Im Rahmen einer Studie, die repräsentativ für Jugendliche von 15 bis 19 Jahren in Wien ist, haben wir gesehen, dass 98 Prozent der Befragten, also de facto alle, Hate Speech  beobachtet haben. Zwei Drittel der Befragten waren schon Opfer, ein Drittel war Täter*in.“

Enorme Reichweite
Damit aber sei es nicht genug, so Ulrike Zartler. „Es gibt einen großen Kreis von sogenannten Online-Bystandern, also unbeteiligten Dritten, die zuschauen, wenn Hate Speech passiert“, erklärt die Soziologin. „Daher beschäftigen wir uns in unserer Forschung nicht nur mit dem Phänomen generell, sondern wir möchten aufzeigen, was diejenigen tun können, die zusehen.“ Das bringt Tina Ritschl zu einem wichtigen Punkt: „Woher kommt dieser Hass? Ist er in uns Menschen drinnen oder haben erst Social Media und die Anonymität im Internet ihn hervorgebracht?“ Vieles sei gar nicht so hasserfüllt, wie es aussehe, entgegnet Ulrike Zartler. „Jugendliche haben manchmal einen sehr rüden Ton, wenn sie miteinander sprechen. Wir Wissenschafter*innen müssen erst deren Sprache lernen.“ 
Markus Hengstschläger hakt ein und will von der Ö3-Moderatorin wissen, ob sie selbst mit Hate Speech konfrontiert worden sei. Tina Ritschl verneint, betont aber, dass es in einer Live-Sendung schnell passieren könnte, dass eine unbedachte Äußerung einen Shitstorm auslöst. „Wer sich der Öffentlichkeit aussetzt, sollte sich ein Mindset antrainieren, dass man polarisiert“, fasst die Moderatorin zusammen. „Das ist nichts anderes, als wenn ich einen Raum betrete: Manche werden mich sympathisch finden, andere nicht. Es muss mich nicht jeder mögen.“ Ulrike Zartler hat ein Gegenargument. „Das haben uns in unserer Forschung auch viele Jugendliche gesagt, im Internet oder Social Media gehört Hate Speech dazu“, sagte sie. „Aber es ist wichtig, Jugendlichen aufzuzeigen, dass es bei Beschimpfungen, Beleidigungen oder bei der Art, wie jemand behandelt wird, auch sinnvoll ist, dagegen aufzustehen und Gegenrede im Sinn von Counter Speech zu üben.“

Nicht alles hinnehmen
Markus Hengstschläger will wissen, ob Counter Speech unter Jugendlichen stattfände. Selten, gibt die Wissenschafterin zu. „Erstens haben die Jugendlichen den Eindruck, dass es nichts bringt, zweitens wird es von vielen Plattformen verunmöglicht, und drittens exponieren sich die Jugendlichen damit auch selber und werden vielleicht selbst zur Angriffsfläche“, fasst Ulrike Zartler zusammen. „Aber das sollte uns nicht daran hindern, Cyber Heroes, die wirklich gegen Hass im digitalen Raum auftreten, zu fördern.“
Auf Tina Ritschls Frage, wie das denn möglich wäre, geht die Familiensoziologin ins Detail. Sie erzählt, dass partizipative Forschung in diesem Zusammenhang von großer Bedeutung sei. Denn Erwachsene könnten die Welt der Zielgruppe nicht verstehen. „Wir betrachten die Jugendlichen als Expert*innen und arbeiten bei unseren Projekten eng mit ihnen zusammen“, so Zartler. „Wir simulieren in Aktionsforschungsprojekten etwa in Form von Rollenspielen mit eigens erstellten Social-Media-Accounts solche Situationen – das Wichtige aber ist, danach mit ihnen über ihre Erfahrungen zu sprechen.“ Aus dieser Zusammenarbeit entstünden Unterlagen, die von Partnerorganisationen wie etwa Safer Internet oder dem No-Hate- Speech Komitee an Schulen verwendet würden. Trainings dieser Art fördern die Zivilcourage im digitalen Raum.
KI und Counter Speech 
Markus Hengstschläger bringt noch einen Punkt ins Spiel. „Kann man nicht Künstliche Intelligenz etablieren, die bei Hate Speech automatisch eingreift?“, wollte er wissen. Auch das sei etwas, woran geforscht würde, entgegnet Ulrike Zartler. „Wir arbeiten mit einem Team von Soziolog*innen und Informatiker*innen zusammen, wo wir versuchen, technische Lösungen für das Problem zu entwickeln.“ Es sei aber nicht so einfach, weil KI Hate Speech zunächst einmal erkennen müsse und sie die Gegenrede einfach übernehmen könne. „Aber wir wollen Jugendlichen Formulierungsmöglichkeiten zur Verfügung stellen, wenn sie Gegenrede üben wollen.“
Die Idee ist, dass etwa Blasen aufpoppen, in denen gefragt wird „Willst du das wirklich so stehenlassen?“, sobald KI Hate Speech erkennt. Im Forschungsteam werden auch Vorschläge für eine Gegenrede entwickelt, so Zartler. „Es geht erstens darum bei den Jugendlichen endlichen das Bewusstsein für das Problem zu stärken", so die Forscherin. „Aber es geht auch darum, ihnen Werkzeuge in die Hand zu geben, denn wir sehen in unseren Studien, dass Jugendliche, die geringere Bildungschancen haben, tärker vorgefertigte Möglichkeiten benötigen, weil sie nicht so versiert darin sind, Counter Speech zu formulieren.“ Markus Hengstschläger hakt ein: „Gibt es einen Zusammenhang zwischen Bildung und Hate Speech?“ Die Familiensoziologin verneint. „Aber Jugendliche mit geringerer Bildung gehen sehr schnell in den Gegenangriff – es ist dann schwer feststellbar, wo hört Hate Speech auf und fängt Counter Speech an, weil die Entgegnungen auch sehr aggressiv sind“, betont sie. „Daher ist es wichtig, dass Jugendliche, die sprachlich nicht so gewandt sind, Entgegnungsmöglichkeiten bekommen.“ Dass es hilfreich sei, eine andere Perspektive aufgezeigt zu bekommen, diese Erfahrung hat Tina Ritschl in ihrer Sendung „Frag das ganze Land“ schon öfter gemacht. „Oft verbohren sich Menschen in ihre Sichtweise“, erzählt die Moderatorin. „Eine Gegenfrage kann die Augen öffnen und für Verständnis sorgen. Es ist wichtig,  dass man erkennt, die Welt ist nicht nur schwarz oder weiß, sondern bunt und vielfältig. Und so soll es auch bleiben.“

Univ.-Prof. Dr. Markus Hengstschläger

Markus Hengstschläger studierte Genetik, forschte auch an der Yale University in den USA und ist heute Vorstand des Instituts für Medizinische Genetik an der Medizinischen Universität Wien. Der vielfach ausgezeichnete Wissenschafter unterrichtet Studierende, betreibt genetische Diagnostik, ist Berater und Bestsellerautor. Er leitet den Thinktank Academia Superior, ist stellvertretender Vorsitzender der österreichischen Bioethikkommission, ist Kuratoriumsmitglied des Wiener Wissenschafts-, Forschungs-und Technologiefonds und war zehn Jahre lang Mitglied des Rats für Forschung und Technologieentwicklung und Universitätsrat der Linzer Johannes Kepler Universität. Hengstschläger ist außerdem Wissenschaftsmoderator auf ORF Radio Ö1 und Autor von vier Platz-1-Bestsellern.

Ulrike Zartler

Die gebürtige Burgenländerin studierte an der Universität Wien, absolvierte ein Post-Graduate-Studium am Institut für Höhere Studien sowie Forschungs- und Lehraufenthalte in Exeter (Großbritannien), Brie (Frankreich), Kiew (Ukraine), Minsk (Belarus) und Trondheim (Norwegen). Sie ist Professorin für Familiensoziologie an der Universität Wien und als Studienprogrammleiterin für das Soziologie-Studium verantwortlich. Außerdem ist sie Mitglied des Österreichischen Kinderrechte-Boards und leitet zahlreiche Forschungsprojekte. Sie forscht gerne partizipativ mit Kindern und Jugendlichen und entwickelt dafür innovative Forschungsmethoden.
 

Wiener Wissenschafts-, Forschungs- und Technologiefonds

2001 wurde der Wiener Wissenschafts-, Forschungs- und Technologiefonds (WWTF) als gemeinnützige Wiener Förderorganisation mit dem Ziel gegründet, die Exzellenz und auch die Relevanz der Forschung in Wien kontinuierlich zu steigern. Seine Hauptaufgabe ist es, herausragende Forschungsarbeiten über kompetitive Forschungsförderung zu unterstützen sowie junge Forschende an den Standort Wien zu binden. Wer unterstützt wird, unterliegt strengen Kriterien: Eine international besetzte Jury entscheidet in einem Auswahlverfahren, welche Projekte  substanzielle finanzielle Unterstützung durch den WWTF erfahren. Anträge werden nur nach Ausschreibungen, sogenannten Calls, entgegengenommen, wobei nur zehn Prozent der Projekte erfolgreich sind. Seit seinem Bestehen hat der WWTF mehr als 230 Millionen Euro an Forscher ausgeschüttet. Unterstützt werden Projekte aus dem Bereich Informations- und Kommunikationstechnologie, Kognitionswissenschaften, Life Science sowie Umweltsystemforschung. Mit der Informationskampagne „Wien will’s wissen“, von der „Spontan gefragt“ einen Teil bildet, will der WWTF die Forschung vor den Vorhang holen: In KURIER TV, profil und KURIER werden wichtige wissenschaftliche Themen unserer Zeit verständlich erörtert und zugleich Forschung, die uns alle betrifft, vorgestellt.