Die weißen Trüffel unter den Viren
Allgemein bekannt sind sie als Krankheitserreger. Viren sind in der Medizin als infektiöse Partikel beschrieben. Und doch machen nicht alle von ihnen uns krank – im Gegenteil: Eine besondere Familie, die Anelloviren, weisen bisher kein schädliches Potenzial auf und könnten sogar als Transportmittel von Medikamenten eingesetzt werden. Warum das möglich ist, will Moderator Markus Hengstschläger im Wissenschaftstalk „Spontan gefragt“ klären. „Hat jeder Mensch Anelloviren im Körper“, will er zunächst wissen. Soweit bekannt sei, ja, antwortet Marco Hein: „Das Interessante ist, dass man bei seiner Geburt keine Anelloviren aufweist, aber mit einem Jahr sind diese bereits bei fast jedem Kind nachweisbar.“ Wie sie denn übertragen werden, will Studiogast Omar Sarsam sofort wissen. „Die Anelloviren tauchen zwar in den Sequenzdaten vom menschlichen Mikrobiom auf, aber man weiß fast nichts über sie“, erklärt der Systembiologe. „Das hat mich frustriert, weshalb ich mich mit ihrer Erforschung beschäftige.“
Marco Hein
Marco Hein studierte Biochemie in Tübingen und promovierte am Max-Planck-Institut in Martinsriedmit einer Arbeit zum Interaktionsnetzwerk menschlicher Proteine. Im Anschluss führte ihn ein Postdoktoranden-Stipendium in das Labor von Jonathan Weissman an die University of California, San Francisco. Dort untersuchte der Biochemiker das humane Cytomegalievirus und dessen Interaktionen mit seinem Wirt. Zuletzt forschte er als Fellow am Chan Zuckerberg Biohub in San Francisco an Wirtsfaktoren von SARS-CoV-2. Im Jahr 2022 trat Marco Hein im Rahmen des Tenure-Track-Modells eine Assistenz-Professur für Molekularbiologie an der Medizinischen Universität Wien an, wo er auch die Leitung einer Forschungsgruppe an den Max Perutz Labs übernahm. Seither beschäftigt sich der Systembiologe mit der Erforschung der Anelloviren.
Viele offene Fragen
Das will der Kinderchirurg und Kabarettist genauer wissen. „Aber es muss ja geklärt sein, wo sie zu Hause sind“, sagt er. „Findet man sie im Zellkern oder im Zytoplasma?“ Tatsächlich sei auch das nicht zur Gänze geklärt, erwidert Hein: „Man findet sie in allen Körperflüssigkeiten, mehr oder weniger in allen Organen, aber was ihr Lieblingszelltyp ist, weiß man nicht.“ Wie die synthetische Biologie vorgehe, um diese Fragen zu klären, will daraufhin Markus Hengstschläger wissen. Es gehe darum, biologische Systeme in ihrer Ganzheit zu verstehen, sagt Marco Hein. „Man sucht sich nicht ein bestimmtes Protein oder einen Signalweg aus, sondern will die Prinzipien, wie das biologische System aufgebaut ist, verstehen“, so seine Antwort. „Im Fall der Anelloviren kennt man nur die Sequenzdaten, wir haben also kein System, sondern müssen uns überlegen, wie es ausschauen könnte.“ Man wisse also nur, dass sie existieren, da sie in Abschnitten der DNA vorkämen, fragt Markus Hengstschläger nach. Der Systembiologe bejaht und erzählt, dass das Hauptproblem ihrer Erforschung sei, dass sie nicht in Zellkultur vermehren könne, weshalb die synthetische Biologie die einzige Möglichkeit sei, um sie zu studieren: „Sie sind ein bisschen wie weißer Trüffel. Man findet ihn in der Natur, aber man kann ihn nicht züchten.“
Omar Sarsam
Grelles Licht ist Omar Sarsam gewöhnt – als Kinderchirurg im Operationssaal genauso wie als Kabarettist im Scheinwerferlicht. Bereits sein erstes Soloprogramm „Diagnose: Arzt“ (2016) feierte Erfolge, was dazu führte, dass er mit Josef Hader, Lisa Eckhart, Clemens Maria Schreiner und Berni Wagner im Kabarett „Hader & Friends“ auftrat. 2018 feierte er mit seinem zweiten Soloprogramm, „Herzalarm“, Premiere, mit demer beim Wiener Kabarettfestival zu sehen war und zwei Mal im Kabarettgipfel zu Gast war. Omar Sarsam wirkt regelmäßig bei TV-Sendungen wie „Was gibt es Neues?“ oder „Kabarettgipfel“ sowie dem Kinder-TV-Format „Das Wunder DU“ im ORF mit. 2022 erhielt er den „Salzburger Stier“. Aktuell ist ermit seinem Programm „Stimmt“ auf Tournee.
Noch ein weiter Weg
Omar Sarsam drängt sich gleich eine neue Frage auf. „Wenn Anelloviren dem Immunsystem nicht auffallen, können sie irgendetwas?“, will er wissen. „Produzieren sie Proteine oder Enzyme, die irgendetwas bewirken – und warum merken wir es nicht?“ Da sie nur aus drei oder vier Genen bestünden, seien sie sehr abhängig von der Wirtsmaschinerie, betont Marco Hein. „Sie fliegen auch nicht ganz unter dem Radar, sie werden vom Immunsystem kontrolliert“, erklärt der Forscher. „Bei Menschen, die ein Organ transplantiert bekommen haben, muss man das Immunsystem unterdrücken, damit es nicht abgestoßen wird. Bei diesen Patient*innen wachsen die Anelloviren an.“ Das findet der Kabarettist spannend und er will wissen, ob sie pathogen seien. Vermutlich nicht, antwortet Hein: „Sie scheinen Opportunisten zu sein und nutzen es aus, dass das Immunsystem sie grad nicht so gut in Schach halten kann.“ Damit gibt sich der Kinderchirurg noch nicht zufrieden. „Angenommen eine Bauchspeicheldrüse produziert nicht mehr genügend Insulin, könnte man Anelloviren dorthin schleusen, damit sie eine Lösung für das Defizit im Körper bringen?“, will er wissen. Noch nicht, aber daran werde geforscht, erwidert Marco Hein. „Man weiß, dass sie unsere Immunsystem nicht anregen, nichts zerstören und keine Krankheiten auszulösen. Das sind Eigenschaften, die sich für ein Vehikel gut eignen würden.“
Markus Hengstschläger
Univ.-Prof. Dr. Markus Hengstschläger studierte Genetik, forschte auch an der Yale University in den USA und ist heute Vorstand des Instituts für Medizinische Genetik an der Medizinischen Universität Wien. Der vielfach ausgezeichnete Wissenschafter forscht, unterrichtet Studierende und betreibt genetische Diagnostik. Er leitet den Thinktank Academia Superior, ist stellvertretender Vorsitzender der österreichischen Bioethikkommission, Kuratoriumsmitglied des Wiener Wissenschafts-, Forschungs- und Technologiefonds und Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Stammzellforschung. Er war zehn Jahre lang Mitglied des Rats für Forschung und Technologieentwicklung und Universitätsrat der Linzer Johannes Kepler Universität. Hengstschläger ist außerdem Unternehmensgründer, Wissenschaftsmoderator, Autor von vier Platz-1-Bestsellern sowie Leiter des Symposiums „Impact Lech“.
Viren in neuem Licht
Was man tun müsse, um sie so einzusetzen, will Markus Hengstschläger wissen. „Die Haupteigenschaft eines Virus ist, dass es sich in die Wirtszelle einschleusen muss – das benötigt man in der Biotechnologie oft“, so der Biochemiker. „Um Viren als sicheres Vehikel nutzen zu können, schmeißt man alles aus ihren Genomen, was man nicht braucht.“ Ob solche Eingriffe in die Evolution nicht riskant seien, fragt der Moderator sofort nach. Darüber müsse man sich immer Gedanken machen, bekräftigt Hein. Aber es gebe klare Regeln im Gentechnikgesetz, die für Sicherheit sorgen. Jedenfalls müsse man Viren in neuem Licht betrachten, fasst Omar Sarsam zusammen, denn einige von ihnen seien wohl – so wie auch Bakterien – Teil des menschlichen Mikrobioms. „Früher dachte man, Viren sind Krankheitserreger und die wollte man aus dem System entfernen“, fasst Marco Hein zusammen. „Die Anelloviren sind aber ein Prototyp, der diese Ansicht endgültig in Frage stellt.“