Coronavirus

Impfzentrum im Austria Center: Die letzten Stecher

Rund 2,2 Millionen Corona-Impfungen wurden in der Impfstraße im Wiener Austria Center verabreicht. Es war ein Ort der Hoffnung, der bangen Erwartung, der kollektiven Pandemiebewältigung. Jetzt wurde die ikonische Einrichtung abgebaut. Ein letzter Besuch.

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Die Wiener Donaucity ist bekannt für ihre Hochhäuser und für den Wind, der zwischen diesen hindurchpfeift. Man müsste an dieser Stelle nur ein, zwei Ballen Tumbleweed loslassen, fertig wäre die lauschigste Lonely-Cowboy-Stimmung. Once upon a time im Westen des 22. Wiener Gemeindebezirks.

Rund um das Austria Center Vienna (ACV), Österreichs größtes Kongresszentrum (19 Säle, 180 Meetingräume, Gesamtkapazität 22.800 Personen) herrscht verstreuter Büroalltag. Menschen machen Pausen, eilen zu Terminen, sprechen in Handys. Der Gebäudekomplex gehört zur UNO-City und feiert heuer sein 36-jähriges Bestehen. Am 17. Mai 1987 wurde das damals hochumstrittene Konferenzzentrum mit einer großen Peter-Alexander-Show (featuring Plácido Domingo, Gilbert Bécaud, Udo Jürgens, Jerry Lewis u. a.) eröffnet. An diesem Dienstag Ende März 2023 dominiert in der Gegend freilich weniger Show- als Bautätigkeit, der Stadtteil an der Neuen Donau wächst immer noch stark, insbesondere in die Höhe. Ziemlich zentral, zwischen Donaucity-Kirche und Restaurant E-Wok, steht eine moderne Ikone: die Treppe zur Wiener Impfstraße. 21 Stufen, ein Absatz, einst mit mehrsprachigen, bunten Willkommensbotschaften bedruckt, heute mit einem schlichten „Austria Center Vienna“ in Rot-Weiß-Rot.

Hunderttausende Menschen haben in den vergangenen zwei Jahren diesen Weg genommen, sie kamen in allen Zuständen, bisweilen auch unter dramatischen Umständen, sind den glasüberdachten Fußweg entlang gegangen, haben zwei, drei, mehr Stunden gewartet. Heute ist der Weg frei, die Bodenmarkierungen sind verschwunden, das Containerdorf am überdachten Vorplatz des ACV auch. Dort steht jetzt eine temporäre Konstruktion (Halle X5), in der zwei Tischtennistische und drei Topfpalmen stehen. Es erschließt sich nicht sofort, warum; Schläger und Bälle sind selbst mitzubringen. Eine elektronische Hinweistafel weist den weiteren Weg: über das Foyer X4 in die Halle X3, sicherheitshalber stehen noch ein paar analoge Schilder herum: „Zur Schutzimpfung“ bitte hinten links.

Kein Vergleich zum Frühjahr 2021, zum Wiener Summer of Hope. Die ersten Impfstoffe gegen Covid-19 waren freigegeben und erhältlich, die Wiener kamen en masse zur Injektion, diskutierten über Vor- und Nachteile, Beschaffungssituation, Wirkungen und unerwünschte Nebenwirkungen von AstraZeneca, Moderna oder Pfizer, hielten Impfpässe und Ausweise bereit, füllten Formulare aus. Es war eine Zeit, in der stolz für das Jaukerl geworben wurde und in der diese Werbung auch sehr gut ankam. Eine prägende Zeit.

Im Zentrum

2,2 Millionen Dosen Corona-Impfstoff wurden in der Impfstraße im ACV verabreicht, mehr als irgendwo sonst in diesem Land. Mehr als ein Zehntel der gesamten österreichischen Corona-Impfkampagne (per 28. März: 20.087.432 verabreichte Dosen) wurden an dieser Adresse vollbracht: Bruno-Kreisky-Platz Nummer 1. Für Hunderttausende begann hier ein neuer Lebensabschnitt – geschützt vor einer Krankheit, von der man lange nichts, zu wenig oder das Falsche wusste, die einen wochen- und monatelang in Geiselhaft genommen hatte. Endlich frei.

Heute wird an selber Stelle Tischtennis gespielt und ein Podcast aufgenommen („Die Zukunft der Gelenksbehandlung“). Beruhigende Banalität ist im ACV eingezogen. Das Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport hält seine Personalmanagement-Tagung 2023 ab.

Die Impfstraße ist geschrumpft, belegt an diesem Dienstag die Halle X3 im Souterrain, 3100 Quadratmeter, die eindeutig nicht alle genutzt werden. 485 Menschen lassen sich, wie das Gesundheitsministerium später auflisten wird, an diesem Tag gegen Corona impfen – österreichweit. Vor der Halle langweilen sich zwei jugendliche Securitybeamte mit ihren Smartphones, drinnen sitzen drei Frischgeimpfte brav die vorschriftsmäßige Sicherheitsviertelstunde ab. Zur besten Zeit, vor eineinhalb Jahren, waren hier 420 Personen tätig: ärztliches Personal, Notärzte, Sanitäter, Securities, Diplomkrankenpersonal, administrative Mitarbeiter, Reinigungspersonal. Heute sind da noch: vier Ärzte (davon ein Kinderarzt), vier Diplomkrankenpfleger, sechs Admins.

Von 12 bis 13 Uhr hat die Wiener Impfstraße geschlossen, Mittagspause. Es kehrt Stille ein, wo Ruhe war. Die Maskenpflicht ist in dieser Zeit vorübergehend aufgehoben, man begrüßt einander mit Handschlag. Im Aufenthaltsraum wird, hinter weißen Sperrholztrennwänden, Filterkaffee und Mineralwasser aufgetischt, und Susanne Drapalik erinnert sich: „Wir haben hier in zwei Schichten gearbeitet,

12 Stunden am Tag, von Montag bis Sonntag. Bis zu 15.000 Stiche am Tag. Da arbeitest du wie in Trance, und wenn du am Abend rausgehst, staunst du erst einmal, wie ruhig es da draußen ist. In der Halle hatte es ja ständig diesen Geräuschpegel, den Hunderte Menschen verursachen.“

Susanne Drapalik ist als Landeschefärztin und Präsidentin des Wiener Arbeiter-Samariter-Bundes gewissermaßen die oberste Instanz der Impfstraße im ACV. Unter ihrer Ägide wurde das Covid-Notzentrum in den Wiener Messehallen eingerichtet; ab November 2020 die erste große Teststraße beim Austria Center, schließlich die Impfstraße ebenda. Drapalik, 68, helle Haare, braune Brille, Signalweste, hat von einer Erfolgsgeschichte zu berichten. Die Wiener Impfkampagne hatte ihre Höhen und Tiefen, ihre Zwischenfälle und Irrläufer, aber sie hat, im Großen und Ganzen, ganz hervorragend funktioniert. Es ist hier allen bewusst, dass sie Zeugen und Protagonisten von etwas Historischem waren. Im Pausenraum, hinter Sperrholztrennwenden, herrscht zurückgelehntes Weißt-du-noch?

„Manche haben mir 1000 Euro für eine Dosis geboten.“

Susanne Drapalik, Präsidentin Samariterbund Wien
 

„Begonnen hat die Impfkampagne noch in der Messe Wien, damals war der Impfstoff extrem rar. Wenn ich da raus bin, sind mir die Leute entgegengekommen und haben um die Impfung gebettelt, manche haben mir 1000 Euro für eine Dosis geboten“, erzählt Drapalik. Das hat sich im Verlauf der Impfkampagne verändert, als die Vakzine immer leichter verfügbar und die Leute immer kritischer wurden. Es soll vorgekommen sein, dass in den Impfkabinen hinter verschlossenen Vorhängen verhandelt wurde – 100 Euro, aber dafür schmeiß ma bitte die Spritze weg.

Stichtage

Jeder, der im ACV seine Covid-Immunisierung erhalten hat, hat eine Geschichte zu erzählen. Von Gefühlen, die ihn oder sie bei der ersten Impfung erwischt haben, von der Routine, die sich beim Dritt- oder Viertstich einstellte. Von den Leuten, denen man dort zufällig begegnet ist. Diese Impfung war auch ein soziales Ereignis, eine gemeinschaftsstiftende Maßnahme. „Wir haben immer wieder erlebt, dass sich Leute in der Schlange kennengelernt und am Ende beschlossen haben, sich die nächste Dosis dann wieder gemeinsam abzuholen“, sagt Susanne Drapalik. Es war ja auch wirklich sehr angenehm hier, die Reibungslosigkeit der Prozedur, die Souveränität der Abwicklung war, mit ein paar Ausnahmen, ein reales Wunder. Zuständig dafür war Samariterbund-Einsatzleiter Attila Wiederkehr, 30, gestylter Kurzhaarschnitt, rötlicher Bart, Flinserl im Ohr. Wie viel Zeit er hier verbracht hat in den vergangenen zwei Jahren? Wiederkehr verdreht die Augen. Die Zahl ist sichtlich unermesslich. Aber er bereut keine Sekunde.

„Als Sanitäter bist du das Warten gewöhnt.“

Attila Wiederkehr, Einsatzleiter
 

Die Vorgabe der Stadt, die dem Samariterbund (in Bietergemeinschaft mit Rotem Kreuz, Johannitern und Maltesern) den Auftrag zur Organisation der Impfstraße erteilte, lautete, auf den Punkt gebracht: Wer will, wird geimpft. Und es wollten tatsächlich sehr viele. Das trieb den Einsatzleiter manchmal an die Belastungsgrenze. „Ab Samstag, dem 3. Juli 2021 wurde die Impfung in Wien auch ohne Termin möglich. Im ORF wurde das am 2. Juli bekannt gegeben. Ein paar Minuten später hat die Schlange bis zur

U-Bahn hinunter gereicht.“ Man drückte viele Augen zu und überzog die Sperrstunde an diesem Freitagabend drastisch, Termine hin oder her. Wartezeiten von zwei, drei Stunden waren in jenem Sommer durchaus normal und weitgehend akzeptiert.

Zuletzt warteten die Ärzte manchmal so lang, bis sich Kundschaft in die Halle X3 einfand. Aber: „Als Sanitäter bist du das Warten gewöhnt.“ Und zwischendurch gab es ja auch noch Überraschungen, zum Beispiel Menschen, die sich tatsächlich jetzt noch den Erststich geholt haben, erst vor zwei Wochen sei wieder einer da gewesen. Musste der wirklich so lange überlegen, Herr Wiederkehr? „Na ja, meistens wird die Impfung in so einem Fall eigentlich abgelehnt, aber dann halt doch für eine Reise benötigt.“ Es kann nicht jeder so stur sein wie Novak Đoković.

Natürlich gab es sie auch hier, die Skeptiker und die Desinformierten. Chefärztin Drapalik: „Diese Kampagne hatte starke emotionale Aspekte; leider gehörte dazu auch eine gewisse Verunsicherung. Die Information, die von der Politik kam, war nicht immer eindeutig genug, besonders in der Kombination mit TikTok- und Facebook-Informationen, die weit weg von jeder Realität waren. Aber, ganz ehrlich: Wir haben am Anfang auch wenig gewusst – außer, dass der Impfstoff vor schwerer Erkrankung schützt.“ Im Lauf der Monate hat man zwar vieles dazugelernt, das galt leider nicht für alle: „Es kamen schon immer wieder Fragen, mit denen du einfach nicht rechnest. Zum Beispiel: Bin ich jetzt unfruchtbar? Oder: Können Sie die Flüssigkeit bitte doch wieder herausziehen? Oder: Wie lang kann ich jetzt nichts mehr riechen?“

Hier noch eine unangenehme Frage: Wie konnte das passieren? Im Herbst 2021 wurde bekannt, dass Mitarbeiter im ACV Impfungen ins elektronische Register eingetragen haben, die nie stattgefunden hatten. Einsatzleiter Wiederkehr selbst war bei Durchsicht der Daten auf Unregelmäßigkeiten gestoßen. Das war einigermaßen überraschend, denn „ich hätte nie geglaubt, auf welche Ideen die Leute kommen. Das hat mir schon ziemliches Kopfzerbrechen bereitet.“ Es wurden neue Sicherheitsschleifen eingezogen, die weitere Betrügereien verhinderten. Das gesamte Ausmaß der Affäre kann nicht mehr eruiert werden, Wiederkehr rechnet mit weniger als 100 Fälschungen. Im Februar wurde acht Angeklagten in Wien der Prozess gemacht, die 27-jährige Hauptangeklagte fasste eine sechsmonatige (bedingte) Haftstrafe aus.

Davon abgesehen blieb als größter ACV-Impfstraßenskandal die Geschichte von dem Security-Mitarbeiter in Erinnerung, der im Jänner 2022 eine Kollegin nach Dienstschluss in einem Hotel bedroht und vergewaltigt hatte und der sich im anschließenden Prozess als ehemaliger (und rechtskräftig verurteilter) IS-Terrorist entpuppte. Schlagzeilen machte auch der Fall einer 58-Jährigen, die im März 2021, beim Warten auf die Impfung, mit einem Herzinfarkt vor dem ACV kollabierte und nicht mehr reanimiert werden konnte. Sonstige Aufreger: tendenziell vernachlässigbar. Chefärztin Drapalik: „Wir hatten zum Glück keine einzige bedrohliche Impfreaktion. Es gab aber etliche Kreislaufzusammenbrüche, teils beim langen Anstehen, teils auch aus Angst vor der Spritze. Da sind schon immer wieder welche umgekippt.“ Und dann war da noch der Sommertag, an dem vor allem junge Kundinnen und Kunden nach der Impfung gleich haufenweise umfielen. Eine fehlerhafte Charge? Alarm! Und kurz darauf Entwarnung: „Wir sind draufgekommen, dass auf TikTok die Information kursierte, dass man vollkommen nüchtern zur Impfung gehen müsse. So haben einige halt wirklich trotz Tropenhitze bis zum Nachmittag weder gegessen noch getrunken. Kein Wunder, dass es die zusammendreht.“

Am Ende

Das Fest der Wiederauferstehung erlebt die ACV-Impfstraße nun nicht mehr, mit Osterverkehr ist in der Wiener Impfstraße nicht zu rechnen. Diesen Freitag wurden die letzten Impfkabinen abgebaut. Die Nachfrage hat das Angebot nicht mehr gerechtfertigt. „Die Impffreudigen sind durchgeimpft“, sagt Drapalik, der auch ein paar besonders Impffreudige untergekommen sind. „Du kannst niemand überimpfen, aber es kann medizinisch irgendwann sinnlos werden. Wenn einer unbedingt den fünften Stich wollte, dann hat er ihn auch bekommen. Der wirkt dann halt mehr psychologisch: Er nimmt die Angst.“ Und jenen meist älteren, wohl einsamen Menschen, die schon eine Woche nach dem ersten Stich wieder vor der Tür standen, „denen haben wir freundlich gesagt, dass das jetzt nicht geht. Wenn jemand Ansprache brauchte, hat er oder sie aber ein längeres Informationsgespräch bekommen. Irgendwie ist es sich immer ausgegangen, und es war ja auch verständlich: Viele kamen direkt aus dem Lockdown zu uns.“

Letzte Frage, die Zukunft betreffend: Was erwarten die Experten für den kommenden Winter? Chefärztin Drapalik: „Das wird sehr stark von den Varianten abhängen, die zu dem Zeitpunkt zirkulieren.“ Einsatzleiter Wiederkehr: „Wir können die Impfstraße jederzeit wieder hochfahren. Wenn es sein muss, in zwei Tagen. Na gut, sagen wir fünf. Aber dann wird es perfekt.“

Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur, ist seit 2020 Textchef dieses Magazins und zählt zum Kernteam von faktiv.