Die Vermessung des Wohlergehens
Seit 1880 ging es steil aufwärts. Von der Lebenserwartung über die Gesundheitsvorsorge und Trinkwasserqualität bis hin zur Bildung oder Sicherheit – vieles wurde besser. Auch unser Wohlstand wuchs. Bis vor kurzem. Denn die Zeiten, in denen es – mit Ausnahme der Kriegszeiten – jeder nachfolgenden Generation besser ging als der vorherigen, sind vorbei, heißt es aus der Politik. Wirtschaftlich abgesichert und ausreichend oder sogar überdurchschnittlich ausgestattet zu sein? Ist keine Selbstverständlichkeit mehr.
„Wir haben wahrscheinlich – jedenfalls für eine gewisse Zeit – den Höhepunkt unseres Wohlstandes hinter uns“, sagte der deutsche CDU-Chef Friedrich Merz im April 2020 in einem ARD-„Bericht aus Berlin“. Hierzulande ist man ebenfalls besorgt: Auch 2023 lag das verfügbare Einkommen der Haushalte preisbereinigt noch unter dem Wert des Vorkrisenjahres 2019. „Unser Wohlstand erodiert – und keinen interessiert’s“, schrieb etwa der politische Direktor der Neos Lukas Sustala im „Standard“. Und Gabriel Felbermayr, Direktor des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung (WIFO) und Universitätsprofessor an der Wirtschaftsuniversität Wien, vermeldete zum seit 2019 beobachtbaren österreichischen Wohlstandsverlust, der durch Corona und Ukraine-Krieg entstanden ist: „Der konsumierbare Kuchen ist kleiner geworden.“
Laut Prognosen des WIFO soll das Bruttoinlandsprodukt 2024 zwar wieder leicht wachsen (+0,9 %), 2025 dürfte das BIP-Wachstum 2,0 % betragen. Doch „die positiven Wachstumszahlen täuschen. Sie verbergen die deutliche Verteuerung des Lebensunterhalts“, schrieb Felbermayer im März 2023 in einem profil-Kommentar.
Veraltete Indikatoren
Wie also geht es den Österreicher:innen? Um das zu erheben, hat bislang jede Epoche ihre eigenen Kennzahlen entwickelt. Das Problem: Es ging und geht dabei weniger um die Vermessung des Wohlergehens der Bürger:innen, sondern in erster Linie um die Erhebung eines ökonomischen Status quo. Im 18. Jahrhundert war es der Umfang der Ernte oder der Ertrag der Viehzucht. Im 19. Jahrhundert zog man die Ausdehnung des Eisenbahnnetzes, die Zahl der Fabriken und die Menge der geförderten Kohle heran. Im 20. Jahrhundert wurde erhoben, wie hoch die industrielle Massenproduktion innerhalb der Grenzen der Nationalstaaten ist. Und im 21. Jahrhundert? Sind wir kaum weiter. Ob Politik, Wirtschaft oder Medien: In weiten Teilen hält sich das Bruttoinlandsprodukt als Gradmesser für den Zustand eines Landes.
Bei seiner Einführung vor über 80 Jahren war das Bruttoinlandsprodukt tatsächlich ein nützliches Instrument. Die sozialen, gesundheitlichen oder ökologischen Auswirkungen der gemessenen Industrieleistung spielten in Kriegszeiten keine Rolle. Heute jedoch brauchen wir mehr als eine Rechnung, die Gut und Böse außen vor lässt. So mag das BIP zwar nach wie vor die ökonomische Leistung einer Nation messen und sie mit der Situation in anderen Ländern vergleichbar machen, indem das Durchschnittseinkommen pro Kopf herangezogen wird. Das sagt aber beispielsweise nichts darüber aus, wie zufrieden die Menschen sind oder wie gerecht das Einkommen verteilt ist. So geht Österreich aus einem Ranking des Magazins „Global Finance“ aus 2022 zwar als Land mit der zwölft-niedrigsten Ungleichheit weltweit hervor. Gleichzeitig besitzt aber laut der Nationalbank das reichste Prozent der Bevölkerung zirka 50 Prozent des österreichischen Vermögens. 17,5 Prozent der Österreicher:innen sind hingegen armuts- oder ausgrenzungsgefährdet, ihr Einkommen liegt unter der national festgelegten Armutsschwelle.
Das BIP erfasst auch viele andere Dinge nicht oder nur unzureichend, die von unmittelbarer Bedeutung für die Lebensqualität vieler sind – angefangen bei Erziehung der Kinder bis hin zur Pflege der Eltern. Wie viele Waren ein Land produziert, bildet ebenso nicht ab, wie es den Bürger:innen wirklich geht. So wird die Wirtschaft zum Beispiel auch durch Katastrophen angekurbelt, etwa wenn nach einem Krieg oder einem Erdbeben Häuser wieder aufgebaut werden müssen. Und noch dazu macht es bei der BIP-Berechnung keinen Unterschied, ob durch die Produktion der Baustoffe der Klimawandel befeuert wird. Nicht nur Umweltschützer:innen fürchten deshalb, dass die Allmacht des BIP verhindern könnte, dass sich eine ökologisch nachhaltige Wirtschaftspolitik durchsetzt.
„In einer zunehmend leistungsorientierten Gesellschaft sind Metriken wichtig. Was wir messen, beeinflusst, was wir tun. Wenn wir die falschen Maßstäbe haben, werden wir nach den falschen Dingen streben. Bei dem Bestreben,
das BIP zu steigern, könnten wir am Ende eine Gesellschaft haben, in der es den Bürgern schlechter geht. Zu oft verwechseln wir Zweck mit Mitteln.“
Auf dem BIP-Holzweg
Das sind nur einige von vielen Gründen, das Bruttoinlandsprodukt und die Schlüsse, die viele daraus ziehen, kritisch zu sehen. Eine starke Wirtschaft führt nicht automatisch zu einer zufriedeneren Bevölkerung. Das zeigte sich unter anderem in den USA, dem Land mit dem größten BIP weltweit, nach der 2016er-Wahl, aus der Donald Trump als Präsident hervorging.
Wohlstand und Wohlergehen lassen sich in einer von Dienstleistungen dominierten Volkswirtschaft eben nicht mehr allein in Dollar, Yen oder Euro ausdrücken. Und ein gutes Leben kann sowieso nicht durch Effizienz und Zugewinn beschrieben werden. Die Gesellschaft ist nun mal keine riesige Fertigungsstraße, und quantitative Zielsetzungen sind für das Erreichen qualitativer Bedürfnisse untauglich. US-Politiker Robert F. Kennedy sagte bereits 1968: „Das Bruttosozialprodukt misst alles – mit Ausnahme der Dinge, die das Leben lebenswert machen.“
Neue Indizes gesucht
So forderte 2021 UN-Generalsekretär António Guterres denn auch „neue Maßnahmen zur Ergänzung des BIP, damit die Menschen ein umfassendes Verständnis für die Auswirkungen unseres Handelns entwickeln können, und erfahren, wie wir besser handeln können und müssen, um Menschen und unseren Planeten zu unterstützen.“
Ein Weg wäre, jene Dinge zu messen, die wir tatsächlich wertschätzen. Darunter fallen dann auch andere Dimensionen des Wohlstands als nur wirtschaftliches Wohlergehen oder die Einkommensverteilung. Etwa soziale Teilhabe und gesellschaftlicher Zusammenhalt, persönliche Entscheidungsfreiheit und Chancen sowie ökologische Nachhaltigkeit.
Inzwischen haben Forscher:innen dahingehend „nachgebessert“. Eine hochrangig besetzte OECD-Kommission erarbeitete zum Beispiel den „Better Life Index“. Er misst seit 2011 das Wohlergehen der Bewohner:innen der OECD-Länder anhand von elf Kategorien wie Bildung, Gesundheit, Wohnverhältnisse, Zivilengagement, Lebenszufriedenheit oder Sicherheit und zeichnet so ein sehr umfangreiches Bild des Zustands eines Landes. Österreich kam 2021 mit Platz 15 ins vordere Mittelfeld. Die Daten für 2023 sind noch nicht evaluiert.
Auch die österreichische Arbeiterkammer veröffentlicht regelmäßig einen Wohlstandsbericht abseits klassischer Faktoren wie BIP und Einkommen. Er berücksichtigt etwa die Schwerpunkte „Fair verteilter materieller Wohlstand“, „Vollbeschäftigung und gute Arbeit“, „Lebensqualität“, „Intakte Umwelt“ und „Ökonomische Stabilität“. 2023 lautet das Fazit des Berichts: Finanzielle Schwierigkeiten und hohe Wohnkosten sind die größten Probleme der Österreicher:innen. „Obwohl Österreich im internationalen Vergleich insgesamt gut dasteht und nach wie vor zu den lebenswertesten Ländern gehört, verzeichnet die nachhaltige Entwicklung von Wohlstand und Wohlergehen weiterhin Rückschläge durch Pandemie und Teuerung.“ Besonders viel Aufholbedarf gäbe es im Bereich des Klimaschutzes. Die Verbesserung der Luftqualität ginge beispielsweise nicht schnell genug, die Bodenversiegelung sei hingegen bedenklich vorangeschritten.
Bis zu einem gewissen Grad ist das sicher erhellend. Doch kritisierte Claus Michelsen, Leiter der Abteilung Konjunkturpolitik beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, gegenüber dem „Tagesspiegel“, auch die neueren Messansätze. Diese hätten „sehr selektiv zusätzliche Aspekte des Wohlstands hinzugefügt“ oder erlaubten zwar eine recht umfängliche Betrachtung, welche aber nur schwer zu standardisieren oder laufend zu erheben sei. Zahlreiche neuere Indizes, die sich hinter wohlklingenden Namen wie „Human Development Index“, „Happy Life Years Index“ oder „Bruttoglücksprodukt“ verbergen und den „Glücksgrad“ des Einzelnen auf die Gesamtheit hochrechnen, sind ob der individualistischen Ansätze ebenfalls umstritten.
Viktoria Izdebska, 20 Jungunternehmerin
Viktoria Izdebska hat ihr erstes Unternehmen gegründet, als sie noch die Schule besuchte. „Die Firma meiner Eltern war bei uns zu Hause das dritte Kind. Ich hatte von früh auf unternehmerische Vorbilder“, so die Wienerin. Nun hat sie mit Salesy, einem Entwickler für automatische Sales-Technologien, bereits ihr zweites Unternehmen gestartet. Als Arbeitgeberin, aber auch als Vertreterin der neuen Generation beobachtet sie einen Wertewandel im Berufsleben: „Zwei von drei Bewerber:innnen, die ich diese Woche vor mir sitzen hatte, wollten sich für Nachhaltigkeit bei uns in der Firma engagieren. Generell glaube ich, die Leute wollen sich heutzutage viel eher erfüllt fühlen und für etwas brennen als zwingend ein Haus zu bauen.“ Für sie persönlich bedeutet ein gutes Leben einerseits finanzielle Sicherheit und andererseits mentale Ruhe.
Auf dem Dashboard
2020 schlugen die Ökonom:innen Katharina Lima de Miranda und Dennis Snower für die Global Solutions Initiative deshalb eine neue Messmethode vor, die diese Mängel eindämmen will bei der Erhebung der Lebensqualität in einem Land: das Recoupling Dashboard. Das Instrument kombiniert vier Dimensionen: Wirtschaftswachstum, Solidarität, ökologische Nachhaltigkeit – also wie stark die Umwelt in einem Land belastet wird – und „Agency“, ein Index, der die Chancen der Bevölkerung misst, ihre Lebenslage durch eigene Anstrengungen zu verbessern. Letzterer wird etwa durch Faktoren wie „Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt“, „Prekäre Beschäftigung“, „Lebenserwartung“, „Bildungsjahre“ oder „Vertrauen in Institutionen, die die Menschen stärken“ gemessen. Der Solidaritätsindex soll die Bedürfnisse der Menschen als soziale Wesen abfragen und wird etwa aus den Indikatoren Spendenverhalten, Vertrauen in andere Menschen und soziale Unterstützung errechnet. Er bezieht damit wichtige Werte einer Gesellschaft mit ein, die bis dato ignoriert wurden. In allen vier Kategorien verbesserte sich Österreich zwischen 2007 und 2018 und lag im Betrachtungsjahr 2018 auch deutlich über dem Durchschnitt von 35 untersuchten Ländern. Beim BIP schnitten wir um 26 %, bei der Befähigung um 9 %, bei der Solidarität um 18 % und bei der ökologischen Nachhaltigkeit um 12 % besser ab als die anderen betrachteten Nationen.
Jakob Brunner, 24 aktuell Tontechniker
Aktuell ist Jakob Brunner als Tontechniker tätig. Damit ermöglicht er es sich, seiner Leidenschaft nachzugehen: der Musikproduktion. Und im Idealfall kann er später von den Einnahmen leben. Ein gutes Leben bedeutet für ihn finanzielle Absicherung, Zeit für die Familie zu haben und einem Beruf nachzugehen, den man gerne macht. Er nimmt in seiner Generation keine großen Veränderungen wahr, wenn es um das Verständnis von Wohlstand geht. „Die meisten jungen Menschen wünschen sich genauso wie die Generationen zuvor, erfolgreich in ihrem Job zu sein, schnell finanzielle Sicherheit zu erlangen und sich im Alter wieder zurücklehnen zu können“, so der Wiener. Was er allerdings beobachte, sei eine durchdachtere Wahl der Profession. Die Jungen würden sich nach der Schule mehr Zeit nehmen, um nach einem für sie erfüllenden Beruf zu suchen.
Ein gutes Leben
Also alles paletti in Österreich? Jein. Sicher ist das Recoupling Dashboard interessant, „weil es versucht, auf Grundlage vorhandener Statistiken eine umfassendere Wohlstandsmessung durchzuführen“, sagt Claus Michelsen. Dennoch bleibt ein Problem, das alle mehrdimensionalen Versuche der Wohlstandsvermessung haben: Die Komplexität von Gesellschaften lässt sich schwer in Zahlen fassen, die über das reine Wirtschaftswachstum hinausgehen. So sind bestimmte Dimensionen, wie beispielsweise eine intakte Umwelt, nicht jeder Nation und schon gar nicht jedem Einzelnen gleich wichtig. Nur weil Österreich also in Sachen Nachhaltigkeit weit vorne liegt, heißt das noch nicht, dass uns das darüber hinwegtröstet, wenn der Traum vom Eigenheim platzt, das für viele noch immer Wohlstand definiert und nur für wenige noch leistbar ist.
Bislang sind deshalb auch alle Versuche, dem BIP mit neuen Kennzahlen den Rang abzulaufen, nicht von nachhaltigem Erfolg gekrönt. Vielleicht lässt sich Wohlergehen ja auch gar nicht wirklich messen mit Methoden, die aus der Wirtschaft kommen. So schreibt denn auch der niederländische Aktivist und Autor Ludger Bregman in seinem Bestseller „Utopien für Realisten“ aus dem Jahr 2019: „Wirklicher Fortschritt beginnt mit etwas, das keine Wissensökonomie erzeugen kann: mit einem Verständnis dessen, was es bedeutet, gut zu leben.“
Wohlstand ohne Wachstum?
Was zu einem guten Leben gehört, ist individuell natürlich höchst verschieden und muss letztlich auf persönlicher Ebene entschieden werden. Lässt sich daraus überhaupt eine neue Wohlstandsdefinition ableiten oder gar konkrete Politik? Für Niko Paech, außerplanmäßiger Professor an der Universität Siegen mit den Forschungsbereichen Ökologische Ökonomie und Nachhaltigkeit, ist das sogar ein Muss. „Wenn die Erde für künftige Generationen erhalten werden soll, ist Wachstum keine Option, zumal es der Natur den letzten Rest gibt. Die Gesellschaft sollte sich schrittweise auf eine Welt ohne Wachstum einstellen“, sagte er in einem Interview mit der „taz“. Denn „alle Versuche, Wachstum von ökologischen Schäden abzukoppeln, sind nicht nur gescheitert, sondern schlagen inzwischen sogar ins Gegenteil um.“
Für die von ihm geforderte „Postwachstumsökonomie“ braucht es jedoch nicht nur eine politische Weichenstellung, sondern auch einen grundsätzlichen Wertewandel in der Gesellschaft – weg vom Wachstumsgedanken. „Die Pointe besteht darin, nicht das Wachstum von Ressourcen zu entkoppeln, was schlicht unmöglich ist, sondern ein gutes Leben vom Geld, folglich vom Wachstum zu entkoppeln“, so Paech.
Nicht einfach, wie etwa Politökonomin Maja Göpel aufzeigt. Der Gedanke „Mehr ist immer besser“ präge unsere Kultur in Bezug auf Konsum und Erfolg immens, schreibt die renommierte deutsche Transformationsforscherin und Gründerin der „Scientists for Future“-Initiative in ihrem 2020 erschienenen Bestseller „Unsere Welt neu denken“. Dadurch würden wir als Gesellschaft auch intrinsisch konstant nach Wachstum streben – ob es nun um das Wirtschaftswachstum des Landes, das grenzenlose Umsatzwachstumsziel in der Privatwirtschaft oder auch den individuellen Aufstieg in der sozialen Klasse und das Wachstum des eigenen Besitzes und Einkommens gehe, erklärte die Forscherin im „Zeit“-Podcast „Alles gesagt“. „Dabei wissen wir aus der Glücks- und Wohlergehensforschung, dass es gar nicht unbedingt das steigende, sondern ein sicheres Einkommen ist, was uns glücklich macht.“
Wohlstandwende – aber wie?
Was braucht es für ein neues Wohlstandsdenken, eine Wohlstandswende gar? Geht es nach Göpel, sollten immaterielle Ziele wie freie Zeit oder Erfüllung mehr Gewicht in unserem Verständnis von Wohlstand erhalten. Dass diese Faktoren zu einem „guten Leben“ beitragen, würden zahlreiche Studien zeigen.
Vom Glück in der Zukunft kann man sich heute aber nichts kaufen. Wie der Wertewandel aussehen soll und kann, muss daher noch ausgehandelt werden. „Wir haben in den vergangenen Jahren unseren ,Egoteil‘ zu stark trainiert“, so die Forscherin gegenüber dem „Handelsblatt“. Zwei maßgebliche Subsysteme, die als Hebel dieser Dynamik dienen, seien zum einen das zu konkurrenz-fokussierte Bildungssystem und zum anderen der digitale Raum sowie Medien, in denen zu sehr auf Personalisierung gesetzt würde. „Wir müssen uns wieder mehr auf Gemeinsames besinnen. Es ist an der Zeit, die Seite in uns wieder stärker zu trainieren, die sich als Teil eines größeren Kooperationssystems wahrnimmt und die Konsequenzen des eigenen Verhaltens für andere stärker in den Fokus rückt“, so die Transformationsforscherin.
„Wirklicher Fortschritt beginnt mit etwas, das
keine Wissensökonomie erzeugen kann: mit einem
Verständnis dessen, was es bedeutet, gut zu leben.“
Zeit ist auch Geld
Die Jungen denken – wenn auch oft notgedrungen – bereits um. „Es wird immer suggeriert, dass mehr Arbeit zu mehr Besitz führt“, sagt Ole Nymoen, Ökonomiestudent und Host des 2019 gemeinsam mit Wolfgang M. Schmitt gegründeten Podcasts „Wohlstand für alle“, der regelmäßig Wirtschaftskunde für rund 50.000 wöchentliche Hörer:innen bietet. „Aber das stimmt nur bedingt. Nicht nur die niedrigen, sondern selbst höhere Lohnklassen können es sich kaum leisten, eine Wohnung für ihre Familie in der Stadt zu kaufen.“ Man dürfe sich also nicht wundern, wenn junge Menschen lieber im Hier und Jetzt gut leben wollen. Nymoen sieht als Trend der Generation Z, zu der er selbst gehört, eine Verlagerung in Richtung mehr Freizeit und weniger Arbeitszeit – kurz: ein neues Denken in Richtung Zeitwohlstand. Deshalb einer ganzen Generation Faulheit vorzuwerfen, sei absurd. „Insbesondere, wenn man bedenkt, dass diejenigen, bei denen der Ertrag landet, den ich als Lohnarbeiter erwirtschafte, ihr Leben sehr wohl in vollen Zügen genießen.“
Ole Nymoen hat seine eigene Wohlstandsdefinition jedenfalls auch längst angepasst: „Für mich bedeutet es erst einmal, die eigenen Bedürfnisse mit möglichst wenig Aufwand stillen zu können.“
Bedürfnisse ernst nehmen
Weitere Vertreter:innen seiner Generation, die profil Extra zu ihrem Verständnis von Wohlstand befragt hat, sagen, dass sie im Gegensatz zu ihren Eltern größeren Wert darauf legen, einen sinnerfüllenden Beruf zu wählen. Sie geben auch mehr auf die Umwelt und ihre mentale Gesundheit acht. Trotzdem bleiben auch für sie finanzielle Absicherung und ein leistbarer, schöner Wohnraum die wichtigsten Aspekte für ein gutes Leben. Denn auch für die Jungen ändert sich das Prinzip der berühmten Bedürfnispyramide des Soziologen Abraham Maslow nicht. Erst wenn grundlegende Bedürfnisse wie Sicherheit abgedeckt sind, werden Themen wie Kooperation, Klimaschutz oder Selbstverwirklichung verfolgt.
Es benötigt deshalb Initiativen aus der Politik, die dabei unterstützen, Grundbedürfnisse abzudecken und den Kopf frei von Sorgen und offen für den Wertewandel zu machen. Das bereits viel diskutierte bedingungslose Grundeinkommen oder ein Mietendeckel könnten Lösungsansätze sein. Eine Politik, die das schafft und gleichzeitig auch immaterielle Bedürfnisse wie mentale Gesundheit und ein ökologisches Gleichgewicht ernst nimmt und diese fördert, kann auch wieder eine Politik sein, die zu einem wachsenden Wohlstand ihrer Bevölkerung beiträgt – im Sinne eines guten Lebens, nicht im Sinne von Wachstum.
Amina Guggenbichler, 22 Studentin
Amina Guggenbichler studiert soziale Arbeit und ist Aktivistin. Vergangenes Jahr besetzte sie gemeinsam mit der Organisation „Erde brennt“, in der sie Pressesprecherin ist, die Uni Wien und forderte mehr soziale und ökologische Gerechtigkeit an den Hochschulen. Sie stellt einen Wandel des Wohlstandsverständnisses in ihrer Generation fest. „Ich glaube, dass uns Faktoren wie mentale Gesundheit, Reisen oder Beziehungspflege wichtiger für unser Wohlbefinden sind als Häuser und Autos.“ Dass sie sich damit von der Vorgänger-Generation unterscheidet, ist ihr bewusst. „Meine Mutter war alleinerziehend und hat Sozialhilfe bezogen. Ihr war es in meinem Alter wichtig, selbstständig und finanziell unabhängig zu sein. Das ist aktuell nicht mein primäres Ziel. Ich lebe viel mehr im Moment als sie.“ Dass das natürlich auch eine Frage von Privilegien ist, ist ihr klar. Ein gutes Leben bedeutet für die Studentin, ihrer Leidenschaft nachgehen zu können und Freiheit zu haben.
Text: Sophie Ströbitzer, Daniela Schuster