EXTRA Lebensstil

Spielen für den Ernstfall

Machen uns Spiele zu besseren Menschen? Oder dienen sie in einer entertainmentsüchtigen Zeit nur zur Flucht aus der realen Trostlosigkeit Richtung virtuelle Glückseligkeit? Die Antwort liegt wohl irgendwo dazwischen. Games können zu seriösen Lehrmeistern werden und dennoch Spaß machen.

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Ernste Zeiten. Selbst Spiele werden seriös. Haben bislang nur entwicklungspädagogische Zielvorgaben oder psychologische Analysemodelle die kindliche Unbekümmertheit des Spielens beschwert und stand der (ent)spannende Müßiggang im Vordergrund, ist jetzt Schluss mit lustig. Auch der spaßige Zeitvertreib bekommt jetzt einen ernsten Anstrich – und eine englische Genre-Bezeichnung: „Serious Games“ aus der Kategorie des „Valuetainment“.

Gamification und Social Scoring 

Das klingt trauriger als es ist. Denn ganz wird auf die Unterhaltung nicht verzichtet. Sie dient in dieser Hybridvariante aber vielmehr als Passepartout für ein modernes Info- und Edutainment. Gamification setzt nämlich auf den gezielten Einsatz spielerischer Elemente, um Dinge oder Zustände zu erklären, Verhalten zu ändern oder zumindest zum Nachdenken anzuregen. 
In Bologna gelingt das seit 2017 mittels der App „Bella Mossa“ („Gut gemacht“). Mit ihr können durch Gehen, Radeln oder Öffifahren Punkte gesammelt und gegen Rabatte in lokalen Geschäften eingetauscht werden. Social Scoring im sympathischen Italo-Kleid statt in chinesischer Überwachungsuniform. Das Mobilitätsverhalten rund um den historischen Altstadtkern hat sich dank der spielerischen Belohnungslogik der App jedenfalls positiv verändert.

Gamification kontra Psychologie

Maximierung des gesellschaftlichen Impacts anstatt der Nutzungszeit? Mit Value- und Greentertainment-Formaten könnte das gelingen und Gamification zum Treiber für Achtsamkeit und Aktivismus werden.


In der Vergangenheit stießen Value- und Greentertainment-Formate – selbst wenn sie konstruktive Lösungswege aufzeigten – immer auch auf die Hürde des „psychologischen (Klima-)Paradoxons“: Je mehr klimawissenschaftliche oder auch soziale Fakten vorgesetzt wurden, desto geringer war und ist die Wahrscheinlichkeit, dass Spieler:innen oder Publikum selbst aktiv wurden. Die entertainisierte Faktenvermittlung reicht also nicht, um im großen Maßstab Verhaltensänderungen zu bewirken.


„Um ins Handeln zu kommen, braucht es eine intrinsische Motivation“, sagt etwa Christian Schuldt, seit 2013 Studienleiter und Autor beim Zukunftsinstitut. Und das „gelingt am besten durch freiwillige und spielerische Angebote zum Mitmachen.“ Oder anders gesagt: Engagement funktioniert dann, wenn es auch Spaß macht. Gamification setzt hier an.


Neben den im Text erwähnten Spielen gehört „Mission 1,5“ zu den bekanntesten Beispielen. Das Videospiel des United Nations Development Programme bewertet Lösungen der Gamer für Klimaprobleme und gibt die im Spiel gesammelten Informationen an Regierungen zur Verbesserung der nationalen Klimabemühungen weiter.


Inzwischen haben aber auch Unternehmen die Kraft des Spielerischen entdeckt. Bereits 2016 sparte etwa das US-Unternehmen Opower zwei Terawattstunden Strom ein, indem es gezielt das Element des sozialen Wettbewerbs einsetzte und man den eigenen Energieverbrauch mit dem der Nachbarn vergleichen konnte.


Das Potenzial für Gamification ist jedenfalls groß: Aktuelle Studien beschreiben Österreich als „Gamer-Land“ – 38 Prozent der Einwohner:innen geben an, regelmäßig Videospiele zu spielen.

Leben retten oder gleich die ganze Welt? 

Ähnliches hatte die auf Augmented (AR) und Virtual Reality (VR) spezialisierte Wiener Agentur Vrisch mit ihrem VR-Spiel „Jede Dose zählt“ im Sinn: Müllsammeln – aber richtig. Ebenfalls verhaltensändernd wirken soll in einem ganz anderen Milieu „Kampf dem Cholesterin“: Der Spieltitel ist Programm. Und „Vrisch“-Gründer und Geschäftsführer Axel Dietrich weiß auch von neuen AR-Spielen für Lawinensuchtrainings der Bergrettung zu berichten.
Lassen sich mit Spielen demnach ein gesunder Lebenswandel lernen oder Personen retten, vielleicht sogar die Welt? Menschen ein Stück verständnisvoller zu machen, könnte sich zumindest ausgehen. Denn Spiele ermöglichen es, in die Rolle eines anderen zu schlüpfen, die Welt mit dessen Augen zu sehen und zu erleben. Im besten Fall funktionieren Spiele so als Startrampe Richtung mehr Empathie. Darauf zielt etwa „Path out“ ab, ein vom Wiener Game-Studio Causa Creations in Zusammenarbeit mit der UNESCO entwickeltes Spiel, bei dem im Stil eines Mangas eine Fluchtgeschichte erzählt wird. Den Plot liefert die aktuelle Nachrichtenlage: In dem interaktiven Spiel gilt es, aus dem Bürgerkriegsland Syrien in die Türkei zu gelangen. Idealistisches Ziel des auf der wahren Biografie eines Vertriebenen aufgebauten Games: ein Gefühl dafür zu vermitteln, wie sich Flucht und die damit verbundenen Gefahren anfühlen, und Verständnis zu erzeugen für die komplexen, individuellen Schicksale hinter den als „Flüchtlinge“ etikettierten Menschen.

Brennpunktthemen im Fokus 

Das Spiel gibt es mittlerweile auch als Unterrichtsmaterial für Schulen. Causa Creations, ein Kreativteam rund um den gelernten Schauspieler und Choreografen Georg Hobmeier, arbeitet regelmäßig mit NGOs und Forschungsinstitutionen zusammen, um Erlebniswelten rund um gesellschaftliche Brennpunktthemen zu kreieren. So hat man auch schon mit Global2000 kooperiert, um Schüler im Mixed-Reality-Prinzip mit „Rising Tide“ spielerisch für den Klimawandel zu sensibilisieren. Und in Chemnitz schaffte man es mit der App „Glasfäden“, interaktive Einblicke in die Geschichte jener 90.000 Vietnamesen zu liefern, die vor 40 Jahren als Gastarbeiter in die damalige DDR kamen.

Virtuelles Trockentraining.

Gamification geht über den Privatbereich hinaus. Der spielbasierte Simulationstrainer „Notfall Lawine VR“ soll in der Ausbildung von Bergrettung und Lawinenwarndienst zur Anwendung kommen. 

Pädagogik im Spiele-Gewand

Sind Spiele also die pädagogischen Heilsbringer des 21. Jahrhunderts, die dabei helfen, den Generationen X, Y und Z den Weg zur eigenen Geschichte, zu Umweltschutz, Achtsamkeit und Menschlichkeit zu weisen und bei Identitätsfindung, Persönlichkeitsentwicklung und Beziehungsgestaltung helfen? Kurz: Sie zu besseren Menschen heranwachsen zu lassen? 
Natalia Wächter, die am Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaften der Karl-Franzens-Universität Graz unterrichtet und zu digitalen Spielen forscht, bremst die Zuversicht: „Zu spielen schadet sicher nie, aber man darf es nicht überbewerten.“ Untersuchungen aus Finnland haben anhand von Messungen von Gehirnströmen bei Jugendlichen zwar gezeigt, dass bei Gamern von „normalen“ Unterhaltungsspielen das räumlich-visuelle Erinnerungsvermögen, die visuelle Aufmerksamkeit und das sprachliche Erinnerungsvermögen besser entwickelt waren als bei Nicht-Spielern. Vor allem aber funktionieren Spiele in dieser Altersgruppe als (modernes) Mittel zum (sozialen) Zweck – nämlich um Freundschaften mit Gleichaltrigen und Gleichgesinnten zu knüpfen beziehungsweise um Anschluss zu finden an die in diesem Alter wichtigen Peer Groups. „Da passiert vieles rund um und mit Spielen, aber nur wenig durch die konkreten Spielinhalte“, so Wächter. 
Die Bildungsexpertin rät beim Einsatz von Spielen als Unterrichtsmittel generell zu Fingerspitzengefühl: Denn wenn ein Spiel als Nichtspiel identifiziert wird, wenn es als Verpackung für einen Lerninhalt dechiffriert wird, „wenn also die Absicht sichtbar wird, widerspricht das dem Grundcharakter eines Spiels. Und dann geht sehr schnell der Spaß verloren.“

Entertainment for future

Unterhaltung als seichte Berieselung? Das war gestern, sagen Trendforscher. In einer „Ära der Sinnhaftigkeit“ gewinnen nicht nur Spiele, sondern die gesamte Entertainmentbranche als Hebel für die ökosoziale Transformation an Relevanz.

Es klingt paradox, dass gerade die Unterhaltungsbranche zur Lösung der großen Herausforderungen unserer Zeit, der Klimakrise, beitragen soll. Schließlich ist sie selbst alles andere als grün. Die Pariser Denkfabrik „Shift Project“ hat errechnet, dass allein die Emissionen, die Streaming erzeugt, bis 2025 mehr als sieben Prozent der globalen Treibhausgase ausmachen könnten. Dem gegenüber steht jedoch ein wachsendes Bewusstsein für ökologische Nachhaltigkeit im Entertainment-Sektor.

Klimaneutrale Tourneen
Bereits seit 2009 hat es sich etwa die in Deutschland gegründete „Green Music Initiative“ zum Ziel gesetzt, Live-Konzerte ökologischer auszurichten. Und auch Bands wie „Coldplay“ oder das „Berlin Show Orchestra“ versuchen, ihre Tourneen in Zusammenarbeit mit Forschungseinrichtungen klimaneutral(er) zu gestalten.

Nachhaltige Festivals 
Viele Veranstaltungen laden auch das Publikum zum Weiterdenken und Handeln ein. So widmen sich immer mehr Festivals sozial-ökologischen Themen – etwa das „1,5-Grad-Festival“ in Brandenburg. Das „Sziget-Rockfestival“ in Budapest holte neben Bands auch Umweltaktivistin und Schimpansenforscherin Jane Goodall auf die Bühne. Und beim „Wacken Open Air“ setzt man Nachhaltigkeit nach dem Cradle-to-Cradle-Prinzip um. Dazu gehört etwa der Einsatz von Mehrweggeschirr oder Festival-Shirts, die keinen Mikroplastikabrieb erzeugen und kompostierbar sind.

Emissionsreduzierte Filmproduktionen
Beim Dreh der aktuellen Disney+-Staffel von „Mandalorian“ wurden mittels StageCraft-Technologie 30 Tonnen Kohlendioxid eingespart. Die Echtzeit-Projektion virtueller Hintergründe auf riesige LED-Bildschirme macht Kulissenbauten und Set-Umzüge großteils überflüssig.

Kino für die Umwelt
Neben kritischen Dokumentationen – darunter Klassiker wie Al Gores „Eine unbequeme Wahrheit“ (2004) oder „The Green Lie“ (2018), der die Greenwashing-Kultur entlarvte – zeigen auch immer mehr Spielfilme wie „Die Zukunft ist besser als ihr Ruf“ (2017), dass Hollywood und Co den Wertewandel vorantreiben möchten. 
Quelle: „Valuetainment – Die transformative Kraft der Unterhaltung“, Zukunftsinstitut, 2022

Scheitern als Lernvariante

Muss aber nicht sein. Simulationsspiele können diesbezüglich auf mehr Toleranz und Geduld beim User hoffen. Sie funktionieren nach einem Trial&Error-Prinzip, das zum Ausprobieren einlädt und das Scheitern als Lernvariante mitverkauft. Humor ist dabei kein Ausschlussgrund, zumindest nicht, wenn die Spieler den Gemeindebau der Zukunft kreieren. So passiert bei „Vienna – All Tomorrows“, einem außergewöhnlichen Crossover zwischen Computerspiel und Theaterstück, bei dem man sich als Stadtplaner mittels AR-Simulationen in einer Bühnenkulisse der Zukunft Wiens annehmen konnte. 
Dass Spiele menschliche Möglichkeitsräume ausweiten, sieht auch Johanna Pirker als großes Asset ihrer Zunft. „Man kann sich einiges erlauben, was im wirklichen Leben zu gefährlich oder zu teuer wäre“, sagt die gebürtige Steirerin, die nach Stationen an der Technischen Universität Graz und der ETH Zürich jetzt als Professorin für Medieninformatik an der Ludwig-Maximilians-Universität München arbeitet. Eine zeitgemäße Wissensvermittlung im „Entertainment Age“ nützt diese Grenzenlosigkeit und schafft neue Identifikationsangebote. 
So hat die Agentur Vrisch eine VR-Anwendung zur Wissensvermittlung für das Wildnisgebiet Dürrenstein-Lassingtal entwickelt. „Mittels Virtual Reality umgeht man das Betretungsverbot und kann in das UNESCO-Weltnaturerbe eintauchen, obwohl man physisch nicht vor Ort ist“, erklärt Axel Dietrich den Mehrwert des spielerisch und interaktiv aufbereiteten Naturkundeunterrichts. Er zielt auf die konservierten Reste kindlicher Spielfreude ab. Johanna Pirker hat dafür einen weisen Spruch als Kronzeugen parat: We don’t stop playing because we grow old – we grow old because we stop playing. 
 

Text: Klaus Höfler, Daniela Schuster