Kathryn Sargent besitzt als einzige Frau auf der Savile Row ein eigenes Atelier. Sie war auch die erste Head Cutterin Englands.
EXTRA Lebensstil

Tapfere Schneiderinnen: Männer-Maßschneiderei ist jetzt auch Frauensache

Die altehrwürdige Savile Row in London öffnet sich einer Generation junger Schneiderinnen, denen es bei ihrer Arbeit auch um Nachhaltigkeit geht. Wer den Faden aufnimmt, den führt er bis nach Wien.

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Die Story der prestigeträchtigen Maßschneider-Meile Savile Row ist eine lange Geschichte. Sie beginnt Anfang des 19. Jahrhunderts im Londoner Stadtteil Mayfair, handelt von Dandys, Aristokraten, Schauspielern, Rockstars, Bankern, Rechtsanwälten – und natürlich von deren altehrwürdigen Ausstattern: Huntsman in der Savile Row Nr. 1 etwa oder auf Nr. 15 Henry Poole. Seit 1806 hat das Herrenschneider-Atelier dort seinen Sitz.

Gentlemen only

Neben den rasiermesserscharf gebauten Bespoke-Anzügen – der Begriff geht auf persönliche Stoffreservierungen, „spoken for“, zurück –, die die Schneider-Werkstätten nach stundenlanger Handarbeit in alle Welt verließen, war es vor allem das geheimnisvolle Innenleben der Gentlemen’s-Clubs, das das Image der Savile Row über Epochen hinweg prägte. Was in den holzvertäfelten, zigarrenrauchgeschwängerten Geschäftsräumen zwischen Kunden und Schneidern während des Maßnehmens besprochen wurde, sollte der Außen- und insbesondere Damenwelt möglichst verborgen bleiben: egal, ob es dabei um vertrauliche Gedanken oder lästige Problemzonen ging. 
Denn auch wenn sie in den verwinkelten Hinterzimmern der Ateliers schon länger an den Nähmaschinen saßen: Frauen hatten in diesem Narrativ keinen Platz. Zwar wagten sich immer wieder einmal rebellische Exemplare wie Marlene Dietrich oder Katharine Hepburn als Kundinnen in die Savile Row. Einer Frau das Maßband und somit die Rolle des Head Cutters, den wichtigsten Posten in einer Maßschneiderei, zu überantworten, kam in der Vergangenheit jedoch für kaum eine der bekannten Werkstätten in Frage.

Große Branche, kleine Umbrüche

Nun ist das Epizentrum der britischen Schneiderkunst aber eben nicht nur ein Ort der Traditionen, sondern auch einer der Umbrüche und kleinen Revolutionen. Der exzentrische Tommy Nutter beispielsweise erfand den Savile-Row-Suit in den 1960er-Jahren neu und öffnete die Szene für die queere Community, was freilich nicht allen Häusern passte. Später zwangen Konfektionsware und die aufkommende Fast-Fashion-Bewegung die Schneidermeile zu unternehmerischem Umdenken. Und schließlich – spät, aber doch – verschafften sich auch eine Reihe ambitionierter Schneiderinnen sichtbaren Zugang zu namhaften Ateliers. Seither verpassen sie der Geschichte der Savile Row einen neuen Spin.

Neue Front-Frau 

Es ist das Jahr 1996, als Kathryn Sargent eine Zuschneiderlehre in der Werkstatt von Gieves & Hawkes, 1771 gegründet und eines der renommiertesten Häuser der Savile Row, beginnt. Mit dem Anspruch, für ihre Kunden Kleidungsstücke zu fertigen, die diese ein Leben lang schätzen, und mit dem Ziel, Anzüge auch für Damen zu entwerfen, arbeitete sich die junge Frau aus Leeds bis auf die Vorderbühne des Ateliers. Viele Medien berichteten, als Kathryn Sargent 2009 als erste Frau den Titel der Head Cutterin von Gieves & Hawkes erhielt. 
Als solche werkte Sargent nun nicht mehr hinter dem Verkaufsraum, sondern nahm Maß und beriet zu Schnitt und Stoffauswahl. Head Cutter sind nicht selten Vertraute und Wegbegleiter ihrer Klientel. Sie wissen deren Vorzüge zu unterstreichen und deren Schwachstellen zu kaschieren, kennen deren Vorlieben und stilistische „No-Gos“, mitunter sogar deren Seelenleben. 
Wenige Jahre später eröffnete Sargent ihr eigenes Bespoke-Tailoring-Atelier in der benachbarten Brook Street. Ein weiterer kleiner Meilenstein für die Savile Row, der sogar ein Kamerateam der BBC auf den Plan rief. Sargents präzise und doch emphatische Art des Maßnehmens und Zuschneidens brachte einen neuen Ton in die männerdominierte Savile Row und öffnete die Tür für nachfolgende Generationen junger Schneiderinnen, deren Unbeirrtheit und Talent die Branche in den letzten Jahren nachhaltig verändert haben und in Zukunft prägen werden. 

„Die Hauptsache ist, 
dass man sein Handwerk beherrscht. Bei der 
Ausführung sind Frauen vielleicht sogar ein 
bisschen mutiger als Männer.“  

Johanna Kastner

Wiener Maßschneiderin

Von Graz nach London

Und das weit über die Grenzen Londons hinaus – in der österreichischen Hauptstadt etwa. Spricht man mit der Herrenmaßschneiderin Johanna Kastner, die heute in der Wiener Annagasse sitzt, über ihre Zeit in der Savile Row, so geht es bald um Kathryn Sargent und deren Vorbildwirkung. Kastner ist eine der wenigen Frauen in einem Gewerbe, für das Wien in Vorkriegszeiten berühmt war, von den Nationalsozialisten aber unwiederbringlich zerstört wurde. 
Das Nähen, so sagt sie, habe sie immer schon begeistert. Nach der Matura ging es nach London. Fasziniert von der Savile Row, suchte sie nach einem Ausbildungsplatz und wurde nach zahlreichen Absagen im Atelier von Edward Sexton fündig. „Meine erste Aufgabe war das Putzen der Herrentoilette.“ 
Ihren eigentlichen Traum verlor die Grazerin trotz anfänglicher Hürden nicht aus den Augen. Die Arbeit in Maßschneider-Ateliers ist streng unterteilt: In Hosenmacher, Westenmacher, sogenannte Trimmer, die sich um Futter und Knöpfe kümmern. Hinzu kommen Finisher, zuständig für Taschen und Knopflöcher, und  Bügler. Johanna Kastner hatte sich schon in ihren Londoner Anfangstagen dem Coat Making verschrieben. Die Position der Jackenmacherin ist nach dem Head Cutter die wichtigste. 
Ihre siebenjährige Lehrzeit brachte Johanna Kastner nicht nur ihrem Ziel näher, sondern auch in das Atelier von Gieves & Hawkes – wo die Schneiderin auf die bewunderte Kathryn Sargent traf – und über Stationen in Italien schließlich zurück in die Heimat und zum Traditions-Herrenschneider Knize. Bloß der Zuschneideraum, Herzstück des Geschäfts und Ort des Kundenkontakts, blieb ihr verschlossen. 
Im Jahr 2005 eröffnete Kastner gemeinsam mit Sören Dronia die Werkstatt Kastner & Dronia in der Wiener Annagasse – ein Herrenschneider-Atelier ohne Geschlechterklischees und die strenge Aufgabentrennung der traditionellen Häuser. Beide sehen es positiv, dass mehr und mehr Frauen in die Herrenschneiderei vordringen: „Die Hauptsache ist, dass du dein Handwerk beherrscht.“ Und bei dessen Ausführung seien Frauen, so Johanna Kastner, vielleicht sogar ein bisschen mutiger.  

Zahlen bitte!

Die Wiener Schneiderinnung existiert seit der Mitte des 14. Jahrhunderts. Die älteste Erwähnung eines Schneiders im Stadtarchiv datiert sogar mit 24. April 1303. In den Jahrhunderten danach gab es ein blühendes Schneidergewerbe, nicht nur in der Hauptstadt, in  ganz Österreich. Kein Wunder: Bis in die 1950er-Jahre hatte fast jede:r einen eigenen Schneider, weiß Patrizia Hildegard Markus, Innungsmeisterin der Mode- und Bekleidungstechnik der Wiener Wirtschaftskammer zu berichten. Das hat sich längst geändert. Laut Mitgliederstatistik der WKO gab es per 31. Dezember 2022 in Österreich aber immerhin noch 1.831 Kleidermacher:innen. In Wien hielten 2019 nicht weniger als 306 Maßschneidereien die Tradition des Handwerks hoch. In 234 Betrieben stand eine Frau an der Spitze. 

Das Klientel wird weiblicher

Mut bewies auch Rachel Singer, Gesellin bei Maurice Sedwell. Singer wuchs im Südlondoner Stadtteil Putney auf und studierte Grafikdesign, ehe sie sich für eine Zusatzausbildung an der Savile Row Academy entschied. Ihre frühen Ausbildungsjahre finanzierte die heute 33-Jährige, indem sie an den Wochenenden Kleider für private Auftraggeberinnen nähte. Als Apprentice ist sie für mittlerweile fast alle Bereiche des Geschäfts zuständig. Etwa die Hälfte des Teams von Maurice Sedwell ist weiblich. Kontakt zu Kunden zu pflegen, sei, so sagte Rachel Singer in einem Gespräch mit der deutschen „Vogue“, für sie nie ein Problem gewesen. Auch wenn der Job „fast so intim wie der eines Arztes“ sei. 
Im Jahr 2019 gewann Singer den „Golden Shears“, eine Art Oscar des Schneiderhandwerks, mit einem Damen-Zweireiher mit Prince-of-Wales-Muster. Der renommierte Wettbewerb gilt als wichtiges Sprungbrett für junge Savile-Row-Schneiderinnen und -Schneider. Schon seit mehreren Jahren ist die Mehrheit der Teilnehmenden weiblich. Sie präsentieren Tailorings für Männer, immer häufiger aber auch für Frauen. Denn auch auf der anderen Seite des Verkaufspults wird der Frauenanteil größer.

Anschaffung fürs Leben

Die Zeiten, in denen Frauen und Männer aus beruflichen Gründen strengen Dresscodes folgen mussten, sind weitgehend vorbei. Savile-Row-Anzüge sind heute vielmehr stilistisches Statement, eine bewusste Entscheidung und: ein Investment. Rund 4.500 Pfund, umgerechnet also etwa 5.000 Euro, kostet ein Maßanzug der Londoner Schneidermeile, die Anfertigung dauert mehrere Monate und kann bis zu 70 Stunden Handarbeit beanspruchen. 
Der Wunsch, sich bespoke einkleiden zu lassen, hat heute weitaus seltener mit dem Geschlecht zu tun als damit, eine nachhaltige Kleiderwahl treffen zu wollen. Das Geschäft mit der Mode hat im vergangenen Jahrzehnt ein irrwitziges Tempo erreicht, die Lebensdauer angesagter Kleidungsstücke beträgt oft nicht einmal ein halbes Jahr. Ein Maßanzug hingegen ist eine Anschaffung fürs Leben und, geht es nach Rachel Singer, ohnehin „das Coolste, was man(n) tragen kann.“

Lauter als die Männer

Anda Rowland würde da wohl zweifellos zustimmen. Sie übernahm 2004 die Geschicke des Hauses Anderson & Sheppard als Vizepräsidentin. Ihr Vater hatte das Atelier in der Old Burlington Street in den 1970er-Jahren gekauft. Die Liste namhafter Kunden ist lang: Schauspieler wie Fred Astaire oder Gary Cooper, aber auch King Charles und Modedesign-König und Filmregisseur Tom Ford ließen sich hier bereits einkleiden. Einen Familienbonus bekommt Andra Rowland dennoch nicht. Auch sie, so verriet sie in einem Interview, müsse in Meetings mit den Chefs anderer Häuser „sechsmal so laut sein und direkt die Meinung sagen“, um gehört zu werden. Dass sich die Frauen der Savile Row nicht mehr in den Arbeitsräumen verstecken, sondern in sämtlichen Bereichen Sichtbarkeit erlangen, ist eine erfreuliche Tatsache, für konservative Vertreter der Branche aber eben noch keine Selbstverständlichkeit.

Keine Problemzonen

Vor allem dann nicht, wenn diese die weibliche Fraktion der Savile Row so konsequent vertreten wie das Phoebe Gormley tut. Gormley ist die einzige reine Damenschneiderin der Savile Row. Schon im Alter von 13 begann die Britin, aufgewachsen in einer kleinen Gemeinde nahe Suffolk, eigene Kleider zu nähen. Das lokale Stoffgeschäft, sei, so berichtet Gormley, ihre absolute Rettung gewesen. Mit 15 bewarb sie sich dann bereits um eine Praktikumsstelle auf der Savile Row. Im Alter von 20 gründete sie Gormley & Gamble und fand auf Einladung des Ateliers Cad & The Dandy Platz im ersten Stock der Savile Row 13. 
Dem Namen ihres Labels folgend, setzte die Schneiderin im Spiel ums Geschäft alles auf eine Karte: Maßgeschneidertes nur für weibliche Kundinnen. Eine Novität in der 200-jährigen Geschichte der Schneidermeile. Vielen Häusern sei die Arbeit mit Frauen, so vermutet Gormley, schlicht „zu anstrengend“, deren Körper „zu kompliziert“. Nicht selten empfinden auch Frauen selbst ihren Körper als schwierig, suchen den Grund für schlechtsitzende Kleidung in vermeintlichen Problemzonen. Phoebe Gormley möchte diesen Frauen mit ihrer Arbeit vermitteln, dass es ihren Körpern an nichts mangelt – außer an einer guten Schneiderin. 
 

Runter vom Fashion-Gas

Der weltweite Umsatz der Textilbranche hat sich in den letzten zwei Dekaden verdoppelt und wird inzwischen auf 2.000 Milliarden US-Dollar pro Jahr geschätzt. Das hat seinen Preis: Die United Nations Economic Commission for Europe (UNECE) spricht von einem sozialen und vor allem „ökologischen Notfall“. So sei die Textilbranche aktuell für 20 % der globalen Abwässer und für 10 % der weltweiten CO2-Emissionen verantwortlich, mehr als Flugverkehr und Seefahrt zusammen. Damit ist dieser Industriezweig nach der Ölindustrie die zweit-klimaschädlichste Branche der Welt. Laut einem Bericht des Europäischen Parlaments gehen zudem 35 % des Mikroplastiks, das in die Umwelt gelangt, auf Textilien zurück.


Verantwortlich dafür ist zu einem großen Teil der Trend zu „Fast Fashion“. Bekannte Modeketten fluten ihre Filialen mit bis zu 24 Kollektionen im Jahr. Das ständige Angebot neuer Mode sorgt nicht nur für massive Überproduktion, sondern auch für ausbeuterische Verhältnisse in der Produktion. Weil laut einer Greenpeace-Umfrage für 75 % der Käufer:innen der Preis ausschlaggebend ist, setzen die großen Händler seit Jahren auf eine Auslagerung der Produktion in ärmere Länder. Und: auf billige Kunststoffe, wie etwa Polyester. Rund 60 % der verkauften Kleidung besteht daraus. Für die Polyester-Produktion werden jährlich schätzungsweise  11 Milliarden Liter Erdöl verwendet. Sie verursacht dadurch dreimal mehr CO2-Emmissionen als etwa die Herstellung von Baumwolle.


Aber es gibt auch Mode, die guten 
Gewissens getragen werden kann: Dazu zählen etwa Secondhand-Stücke, Rent-your-dress-Roben, nachhaltig produzierte Kleidung oder eben Maßgeschneidertes. All diese Produkte gelten als Beispiele für die Slow-Fashion-Bewegung. Maßgeschneiderte Kleidung stellt dabei durch ihre lokale Produktion und die dadurch kurzen Transportwege sowie durch die Arbeit mit hochwertigen Materialien, die zu langlebigeren Produkten führt, eine besonders klimafreundliche Alternative zu Fast Fashion dar.

Text: Yasmin El Mohandes