EXTRA Lebensstil

„Unsere Ernährung muss zukunftsfitter werden“

Hanni Rützler ist Food-Trendforscherin. Sie beschäftigt sich mit Innovationen im Lebensmittelsektor, nachhaltigen Nahrungsmitteln und der Frage: Wie und was werden wir künftig essen? Fleisch etwa verliert die Pole-Position.

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profil Extra: Was würden Sie aktuell als wichtigste nachhaltige Entwicklung in der Ernährungskultur beschreiben?

HANNI RÜTZLER: Dass wir „Peak Meat“ erreicht haben und Fleisch die Pole-Position auf unseren Tellern einbüßen wird. Das geht nicht von heute auf morgen. Aber es hat in Teilen der Gesellschaft schon begonnen – und es zeichnen sich viele Alternativen ab, im Supermarkt, in den Laboren, nicht zuletzt auch in der gehobeneren Gastronomie. Viele Start-ups und innovative Netzwerke versuchen, Landwirtschaft und Esskultur entlang des ganzen Foodsystems nachhaltiger zu gestalten. Uns fehlt im Moment noch oft die Fantasie, was wir essen können, wenn wir weniger Fleisch konsumieren wollen. Die Flexitarier:innen, also Personen, die Fleisch mögen, aber nicht mehr jedes, sind für mich als Trendforscherin schon im Mainstream gelandet. Das Motto ist, bewusster Fleisch zu essen – nicht mehr so billig, weniger häufig. Und offen zu sein für Alternativen. Nur das Fleisch oder den Speck wegzulassen, ist sicher zu wenig. Die Top-Gastronomie ist hier hochgradig innovativ. Innovative Köchinnen und Köche sind für die Weiterentwicklung des Geschmacks ganz wichtig – und da gibt es wunderbare Köpfe, die tolle Entwicklungsarbeit leisten.

Fast jedes traditionell österreichische Gericht hat Fleisch als Basis. Wie kann sich fleischlos in der Breite durchsetzen?

In der städtischen Gastronomie wird das vegetarische Speisenangebot immer größer und vielfältiger, auch weil es internationaler ist. Am Land beobachte ich mitunter eine – auch politisch forcierte – Trotzhaltung. Diese Ignoranz gegenüber neuen Entwicklungen gibt mir zu denken. Schade, dass wir in Österreich, wo wir uns doch als Genussland verstehen, meinen, alle mit einem „traditionellen“ Angebot glücklich zu machen – und dabei die Chance verpassen, unsere Esskultur zukunftsfitter zu machen. Wir haben jahrzehntelang die Fleischproduktion gefördert. Diese zeigt jetzt eindeutig ihre Schattenseiten. Und darauf müssen wir reagieren. Man darf nicht alles an die Endkonsumentinnen und -konsumenten delegieren und auch nicht an einzelne Produzentinnen und Produzenten. Wir können nicht nur gegen Fleisch agieren, sondern müssen aktiv Alternativen fördern.

„Diese Ignoranz gegenüber neuen Entwicklungen gibt mir zu denken.“ 

Hanni Rützler

futurefood studio

Welche Alternativen wären das?

Damit sind wir bei einer weiteren großen Entwicklung – eng verbunden mit neuen Technologien. Wir haben erlebt, wie Plant-based-Lebensmittel als Fleisch- oder Milchersatzprodukte nach und nach in den Supermärkten ihren Platz gefunden haben. Wir sind mitten in einer neuen Lebensmittelqualitätsdebatte: Was bedeutet Qualität? Muss eine Kopie die gleichen Nährstoffe haben? Darf sie besser sein? Muss sie billiger sein? Muss man ein Original immer ersetzen oder dürfen auch neue Produkte entstehen? Wir sehen die erste Generation von Produkten, die nicht mehr versuchen, etwas zu kopieren, sondern neue Esslösungen anbieten. Plant-based-Lebensmittel sind Hightech-Produkte – wir bekommen gar nicht mit, was mittlerweile alles möglich ist. Dabei verändert sich auch die Wertschöpfungskette. Früher haben wir mit Pflanzen Tiere gefüttert. Jetzt veredeln wir Pflanzen und bringen sie kulinarisch in die Nähe von Fleisch. So erschaffen wir eine neue Produktwelt.

In diesem Zusammenhang wird oft auch Präzisionsfermentation genannt. Was steckt dahinter?

Mit Hilfe von Mikroorganismen werden einzelne Inhaltsstoffe oder Aminosäuren, die die Bausteine von Proteinen sind, nachgebaut, so dass man ein Rührei machen kann, das so schmeckt und ausschaut wie das Original. Damit sind wir unabhängiger vom Klima, von der Saison, vom Wasserbedarf. Es gibt also viele gute Argumente für technologische Innovationen, um unsere Lebensmittelproduktion nachhaltiger zu gestalten. Gleichzeitig könnte man so Esskulturen – wie z.B. den Sonntagsbraten – erhalten, die wir uns sonst nicht mehr leisten können. Genauer gesagt können wir es uns nicht mehr leisten, uns bei tierischen Lebensmitteln auf Weidehaltung statt industrielle Massenproduktion zu konzentrieren.

Eine dritte Innovation wäre In-vitro – also cultured fish, meat oder milk? 

Aktuell laufen mehrere Zulassungsverfahren, die noch einige Jahre dauern werden. Es muss uns gelingen, eine Diskussion zu führen, die Ängste abbaut und die Auseinandersetzung mit Alternativen fördert. Das sind sehr komplexe Themen. Es braucht Zeit, sie zu verdauen und zu überlegen, was Sinn ergibt – auch in globaler Perspektive für die Sicherstellung der Welternährung. Der weltweite Run auf diese Technologien ist jedenfalls groß. Wir sollten uns auch in Europa verstärkt überlegen, wie wir uns weiterentwickeln können und wo neue Chancen für nachhaltige, kreislauforientierte Produktionsmethoden liegen.

„Wir sehen die erste Generation von Produkten, die nicht mehr versuchen, etwas zu kopieren, sondern neue Esslösungen anbieten.“ 
 

Hanni Rützler

über Plant-based-Produkte

Kann man die Lebensmittelindustrie und die Klimakrise überhaupt noch getrennt voneinander betrachten?

Nein, eigentlich nicht. Man kann aber innovativ damit arbeiten. Wir haben Bäuerinnen und Bauern, die den Klimawandel antizipieren und anfangen, auch in Österreich Oliven anzubauen, Artischocken, Reis, Zitronen, Orangen ... Ich beschreibe diese Entwicklung mit dem Foodtrend „Local exotics“. Foodtrends sind für mich immer Antworten auf aktuelle Wünsche, Probleme, Sehnsüchte, Herausforderungen. „Local exotics“ sind dafür ein gutes Beispiel, genauso wie Plant-based-Food als Antwort auf den zu hohen Fleischkonsum. Es geht nicht um Verbote. Es geht um vielfältige Lösungen, um einen Mix aus Tradition und Innovation. Die populistische Schnitzel-Verbot-Debatte vernebelt nur den Blick auf die Vielfalt, die es auch in unserer Esskultur gibt, um sich nachhaltiger, klimafitter, gesünder und genussvoller zu ernähren.

Fehlt uns hier das Bewusstsein der Dringlichkeit?

Die Jüngeren sind hier besonders offen für den Wandel und haben einen ganz anderen Zugang zum Essen entwickelt. Er wurde Ausdruck ihres eigenen Wertegerüsts, ihres Lebensstils, ihrer Haltungen. Das Bewusstsein, welche Bedeutung die Ernährung für die Gestaltung der Zukunft hat, ist bei den Jüngeren viel stärker ausgeprägt. Ich finde es ganz spannend, dass sie wieder auf die Straße gehen und diskutieren – oder sich kleben lassen. Das Thema Klimawandel und Essen ist hoch auf der Agenda.

Wo braucht es ein Umdenken in der Gesellschaft?

Ich würde mir wünschen, dass wir wieder offensiver Zukunft denken und uns überlegen, wie wir diese gestalten. Ich möchte, dass wir entlang der Lebensmittelkette viel stärker Zukunftsszenarien diskutieren und sich Produzent:innen und Händler:innen vermehrt die Frage stellen: Wer bin ich und wer möchte ich sein, um meinen Beitrag für ein nachhaltiges, zukunftsfittes Ernährungssystem zu leisten? Der Druck nimmt zu, uns nachhaltiger aufzustellen. Krisen sind Zeiten, in denen man noch ganz anders auf die Realität schauen kann: indem wir nicht nur durchtauchen, sondern die Sache strategisch angehen, um uns hier zukunftsfit und nachhaltig auszurichten.
Zum Schluss noch: Wir vergessen, dass es uns trotz aller Krisen und Herausforderungen wirklich gut geht. Wir müssen uns alle an der Nase nehmen. Und das kann man beim Essen sehr gut, indem man das Tempo rausnimmt und auch wieder genießt und nicht nur über Probleme redet. Das gemeinsame Essen, das Austauschen, das Teilen –das ist so ein wichtiger Punkt, um Hoffnung zu schöpfen und das Leben zu spüren. 

Was sind …

… Vegourmets?
Hier kommt weder Fleisch aus industrieller Fertigung auf den Teller noch plant-based Fleischersatz. Die Köchinnen und Köche dieser Bewegung zaubern aus Gemüse, Hülsenfrüchten, Getreide und Kräutern Gerichte, die ganz ohne Tierisches auskommen.

… Carneficionados?
Fleisch? Ja gerne, aber nur aus nachhaltiger Produktion, die weder Klima noch Tieren unnötig schadet. Kein Verzicht, aber Genuss in Maßen.

… Real Omnivores?
Gegessen wird alles und zwar „from nose to tale“ und „from leaf to root“. Auch Insekten, Algen, Schnecken stehen auf dem Speiseplan. Hauptsache innovativ und wertschätzend.

(Zukunftsinstitut: FOOD REPORT 2024)

Interview: Anna Gugerell