Blick in den kommunalen Supermarkt in Weinburg (Niederösterreich)
Österreich

Gegen das Landsterben: Wenn der Bürgermeister einen Supermarkt führt

Beinahe jede dritte Gemeinde in Österreich muss ohne Nahversorger auskommen. Im niederösterreichischen Weinburg hält man dagegen – die Kommune wurde zum ADEG-Partner und betreibt den Markt mit Verlust selbst.

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Wäre es nach der Logik des freien Marktes gegangen, müssten die 1400 Weinburger (Bezirk St. Pölten, Niederösterreich) auf einen Nahversorger in ihrer Kleingemeinde verzichten. Doch der ADEG-Markt lebt. Mehr noch: Der Laden ist gewissermaßen eine Abteilung der Gemeinde. Das wird am vergangenen Mittwoch besonders deutlich: Der Bürgermeister kommt persönlich vorbei, um die Leiterin des Markts zu verabschieden – mit Blumenstrauß und allen Ehren. Sie war ja seine Mitarbeiterin, angestellt bei der Gemeinde Weinburg.

Der Betrieb hat sich für private Pächter nicht gelohnt

Michael Strasser

Bürgermeister, Weinburg (NÖ)

Weinburger Markt-Logik

Bürgermeister Michael Strasser spaziert mit profil durch seinen Shop. Und er erzählt, warum die Gemeinde den Betrieb übernahm: „Obwohl wir Geld zugeschossen haben, hat sich der Betrieb für private Pächter nicht gelohnt. Wir mussten alle paar Jahre neu ausschreiben“, sagt der SPÖ-Mann, während er zwischen Obstregal und rabattierten Blumen steht. Noch unter seinem Vorgänger entschloss man sich, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Seit März 2021 betreibt Weinburg die Filiale in Eigenregie. Mit Postschalter und Bankomat. Arbeitgeber der Supermarktmitarbeitenden ist die Gemeinde.

Bürgermeister Michael Strasser übergibt Blumensträuße an Claudia Stuphan und Julia Pfeiffer

Bundesweite Initiativen

Das Beispiel Weinburg macht österreichweit Schule. Und das aus gutem Grund: Die aktuellsten Daten von der Statistik Austria aus dem Jahr 2021 zeigen, dass in 540 von damals 2095 österreichischen Gemeinden kein Nahversorger vor Ort war. Die Tendenz sei „steigend“, heißt es aus dem Landwirtschaftsministerium. Land-Bürgermeister kennen das Problem: Nicht nur den Betrieb der Supermärkte will sich niemand mehr antun, auch Banken und Postfilialen siedeln ab. 

Die Gemeinden müssen kreativ werden: Auch andernorts betreibt man Nahversorger kommunal, teilweise unterstützt durch Förderung des Landwirtschaftsministeriums. Im BML weiß man um die Relevanz und hat die Versorgung am Land als Priorität ausgegeben. Über 60 Millionen Euro fließen direkt oder indirekt in „Stärkung der für das Gemeinwohl wichtigen Strukturen und Funktionen“, heißt es auf Anfrage.

In St. Anton an der Jeßnitz, 40 Kilometer südwestlich von Weinburg, hat man zwar „glücklicherweise“ noch einen Pächter für den örtlichen Markt gefunden, hätte ihn aber notfalls selbst geführt, um den Ort am Leben zu erhalten. ÖVP-Bürgermeisterin Waltraud Stöckl betont in einem Telefonat mit profil, dass es in solchen Fragen „egal“ sei, „welcher politischen Couleur“ man angehöre.

Nicht immer muss die Gemeinde einspringen. In zahlreichen Ortschaften tun sich Erzeugergemeinschaften zusammen. In Euratsfeld bei Amstetten macht der Hofladen „D’Speis“ dem nahen Spar Konkurrenz. In gut sortierten Regalen kann die Kundschaft rund um die Uhr lokal produzierte Waren auswählen, selbst scannen und bezahlen. Und auch Automaten sind nicht nur in der Stadt eine kostengünstige Lösung.

In Weinburg ist die Gemeinde Franchise-Nehmer der 1895 gegründeten „Arbeitsgemeinschaft der Einkaufsgenossenschaften“ (ADEG), die heute Teil des Milliardenkonzerns REWE ist. Deshalb findet man nicht nur lokale Erzeugnisse wie Nudeln und Mehl in den Regalen, sondern auch das Standardsortiment eines städtischen BILLA, der ebenfalls zur REWE-Gruppe gehört.

Blick auf den Weinburger Nahversorger vom Parkplatz aus

Handwerker, Mütter, Großmütter

Am frühen Morgen zeigt sich ein Querschnitt der Kundschaft. Handwerker holen sich an der Fleischtheke eine Jause. Mütter, die mit leerem Wagen vom Kindergarten zurückkehren, kaufen ein paar Kleinigkeiten wie Milch und Eier. Eine Pensionistin lädt Mineralwasser und Kartoffeln auf ihr Radl und schiebt es nach Hause. Aus einem anderen Einkaufskorb lugt eine große braunrote Jagdwurst heraus. Wurstwaren und belegte Semmeln sind die Verkaufsschlager, aber auch auf Nischenprodukte, die man in der Gegend nicht bekommt, hat man sich laut Claudia Stuphan spezialisiert. „Mittags kommen dann die Kinder aus der Schule, da wird es noch einmal voller“, sagt die Noch-Filialleiterin an ihrem letzten Arbeitstag.

Doch nicht nur Kinder, vor allem ältere Kunden ohne Führerschein sind auf den kleinen ADEG angewiesen. Ortschef Strasser glaubt, dass ein Supermarkt im Ort „die Selbständigkeit von Menschen im Pensionsalter verlängern kann“. Könnten diese nicht mehr lokal einkaufen, würde sie der „Weg höchstwahrscheinlich ins Altersheim führen“. Nicht nur durch den kommunalen Supermarkt, auch durch einen von der Gemeinde finanzierten Bus durch Weinburg versuche man diese Autonomie so gut es geht zu unterstützen.

Für alleinstehende Pensionisten sind wir oftmals der einzige Kontakt

Claudia Stuphan

ehemalige Filialleiterin

Markt als Dorfplatz

Ein weiterer Mehrwehrt ist die soziale Funktion des Ladens. „Wir sind schon ein wenig Psychologinnen“, sagt Stuphan. „Gerade für alleinstehende Pensionisten sind wir oftmals die einzigen, mit denen sie Kontakt haben.“ Damit zählt die ADEG-Filiale in der Mariazeller Straße auch zu einem der wichtigen Orte im Gemeindegefüge. Zwar verfüge man über ein „sehr aktives Vereinsleben mit allein 600 Mitgliedern bei den Naturfreunden“, wie Vizebürgermeister Franz Gallhuber unterstreicht, doch sind an einem Mittwochmorgen bei Temperaturen um den Gefrierpunkt, Plätze für einen Plausch rar gesät. Der kleine Laden wird zum Dorfplatz-Ersatz, an den zahlreichen Aushängen informieren sich die Weinburger über die anstehenden Veranstaltungen. 

Dass der Markt ein Verlustgeschäft ist, nimmt man daher in Kauf. Zwar hält sich Strasser mit genauen Zahlen bedeckt, lässt aber durchblicken, dass es sich um eine vierstellige Summe handelt. „Seit der Eröffnung vor knapp drei Jahren konnten wir jährlich den Umsatz steigern. Ziel ist es, den Markt kostenneutral zu führen. Ohne den Bankomaten wären wir diesem Ziel schon näher“, sagt das Gemeindeoberhaupt. „Der Automat kostet uns circa 8000 Euro pro Jahr. Die Banken machen Rekordgewinne, ziehen sich aber aus ‚unrentablen‘ Gegenden zurück. Die Bargeldversorgung der Bürger stellen wir jetzt mit Steuermitteln her. Das ist nicht fair.“

Ortsschild in Weinburg und Hauptstraße

Raum für Eigenheiten

Ob es an der Verfügbarkeit von Bargeld liegt oder doch eher am Vertrauen, das man in Weinburg ineinander hat, bleibt offen, doch kommt es im kleinen Supermarkt weder zu Ladendiebstählen, noch hätte jemand Hausverbot, betont Julia Pfeiffer, die den Laden zum ersten Februar übernommen hat. „Eine Kundin darf sich auch immer ein Einkaufswagerl ausleihen, damit sie die Sachen besser nach Hause transportieren kann. Später bringt sie es dann brav zurück.“ 

Bei so viel Kundennähe überrascht es nicht, dass das Weinburger Märktchen Mitarbeiter und Kunden in einer WhatsApp-Gruppe zusammenbringt. Dienstags und mittwochs bietet das Team hausgemachte Spezialitäten an. Über den Messenger-Dienst teilt man das Tagesgericht mit, den Weinburgern schmeckt es. „Der Schweinebraten war in nullkommanix weg“, berichtet das Supermarkt-Team nicht ohne Stolz.

Mehr als Einkauf

In Weinburg gelang es, einen der wenigen Orte und Zusammenkunft und Interaktion zu bewahren, auch wenn das die Gemeinde aus ihrem Haushalt stemmen muss – wie die Bücherei oder den Bauhof.

Und so ermöglichen sich auch Neustarts wie für Claudia Stuphan. Auf die Frage, was sie denn vorhabe, sagt die scheidende Chefin, dass sie jetzt „eine Ausbildung als Masseurin“ anfange. „Wenn ich es mit 47 nicht mehr mache, mache ich es nie mehr.“ Die Berufsaussichten sind gut. In Weinburg sucht man nämlich nicht nur seit Jahren dringend einen Allgemeinarzt, auch bei den Masseuren der Umgebung sollen die Terminkalender voll sein.

Moritz Gross

schreibt im Rahmen des 360° JournalistInnen-Traineeship für profil.