Mensch des Jahres 2008

Das Jahr des Barack Obama

Barack Obama: Der Mensch des Jahres 2008.

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Von Gunther Müller, Martin Staudinger und Robert Treichler

Barack Obama war noch nie in Österreich. Gut möglich, dass er unser Land während seiner Amtszeit nie besuchen wird. Und dennoch: Für profil ist der nächste Präsident der USA auch aus heimischer Perspektive der Mensch des Jahres. Dafür gibt es zwei entscheidende Argumente: die Globalisierung in Zeiten der Weltwirtschaftskrise und die Persönlichkeit Obamas. Die Turbulenzen in der global vernetzten Ökonomie bringen es mit sich, dass die politischen Entscheidungen des US-Präsidenten auch für Österreich bedeutsamer sein werden als die konkreten Ausformungen der vom heimischen Parlament beschlossenen Konjunkturpakete. Vereinfacht gesagt: Rettet Obama General Motors oder nicht, dann wackelt Opel oder nicht, und die österreichischen Autozulieferer müssen schließen oder nicht. Und schafft es Obama, durch politische Maßnahmen und geeignete Kommunikation das Vertrauen in die US-Wirtschaft, in Banken und Märkte wiederherzustellen (oder scheitert er dabei), wird dies den ATX in jedem Fall stärker beeinflussen als das Tun und Lassen des österreichischen Bundeskanzlers.

Aber es ist nicht die Bedeutung des Amtes in dieser Umbruchphase allein, die Obama zur meistbeachteten Figur für uns macht. Der demokratische Senator aus Illinois hat im Jahr 2008 eine Strahlkraft entwickelt, die man einem Politiker nicht zugetraut hätte. Plötzlich war da ein Mann in den Medien, der dem hässlichen Bild, das sich das Volk von seinen Vertretern üblicherweise macht, so gar nicht entsprach. Obama traute man zu, nicht bloß machtgierig zu sein, nicht blind der eigenen Klientel verpflichtet, nicht aus Feigheit opportunistisch. Er musste durch einen der härtesten US-Wahlkämpfe aller Zeiten gehen und stand am Ende nicht nur als Sieger da, sondern als Mann, der Versöhnung verheißt und das innig ersehnte Ende der Spaltung der amerikanischen Nation.

profil verfolgte die aufregende Blitzkarriere des ersten US-Präsidenten schwarzer Hautfarbe mit angemessenem Staunen. Als Obama - damals Senator im Lokalparlament von Illinois - bei der Convention der Demokraten im Jahr 2004 in Boston eine umjubelte Rede hielt, berichtete profil-Mitarbeiterin Beverly Davis von der tosenden Begeisterung der Delegierten und zitierte Bob Shrum, den Wahlkampfleiter des damaligen Kandidaten John Kerry, mit dem prophetischen Satz: "Obama wird der erste schwarze Präsident der USA" (profil Nr. 32/2004). Kurz darauf porträtierte profil-Mitarbeiter Robert Misik den Shootingstar unter dem Titel "Obamania" (profil Nr. 33/2004). Misik war auch vier Jahre später dabei, als Obama in Berlin vor 200.000 Fans seinen Status als weltweite Kultfigur genoss (profil Nr. 31/2008). Zwei Jahre zuvor hatte profil-Korrespondent Sebastian Heinzel im Gedränge der New Yorker Buchhandlung Barnes & Noble gestanden, wo Obama sein Buch "Der Mut zur Hoffnung" präsentierte und das Publikum "wie ein Rockstar" begrüßte (profil Nr. 45/2006). Der langjährige profil-Korrespondent Martin Kilian begleitete den Weg des neuen Präsidenten, und Stefan Janny, dem früheren Chefredakteur von profil, gelang es zusammen mit Beverly Davis, im September 2007 ein Interview mit dem Hoffnungsträger zu führen.

Das journalistische Interesse von profil an Obama spiegelt die allgemeine Erregung über den Ausnahmepolitiker wider. Eine Integrationsfigur und dabei nicht sterbenslangweilig - diese Kombination hat die Politik selten zu bieten. Eine kurze Auflistung der 2008 relevanten österreichischen Politiker, der lebenden und der verstorbenen, bestärkte profil in der Entscheidung, Barack Obama zum Menschen des Jahres zu küren. Auch wenn der Redaktion klar ist, dass das österreichische Nachrichtenmagazin damit eine Wahl trifft, die eine Redaktion eines beliebigen anderen Landes auf allen Kontinenten der Erde auch treffen könnte - oder gar schon getroffen hat (dem amerikanischen Magazin "Time" blieb diesmal in Wahrheit überhaupt keine andere Wahl). Originell sein zu wollen hätte in diesem Fall für uns bedeutet, sich der Realität zu verweigern. Das tun wir aus Prinzip nicht.

Für Österreich ist Obama auch insofern bedeutsam, als der Antiamerikanismus - von linker und von rechter Seite - hierzulande ein politischer Faktor ist. Mit der Wahl des neuen US-Präsidenten stehen die Chancen gut, dass sich die Welt mit den USA wieder versöhnt und auch in Österreich die Ablehnung der Supermacht stark abnimmt, von der die Ära Bush geprägt war.

profil versucht im Folgenden, den Menschen des Jahres in Skizzen festzuhalten. Außergewöhnliche Momente in seinem Leben, herausragende Charaktereigenschaften und ein Ausblick, mit welchen Aufgaben Obama in den kommenden Monaten konfrontiert sein wird.

I. Vaterlos

Barack Obamas Herkunft und die Brüche in seiner Vita machen ihn zu einem Symbol für die globalisierte Gesellschaft des 21. Jahrhunderts.

"Barry? Barry, bist du's?"

"Ja … Wer spricht da?"

"Barry, hier ist deine Tante Jane aus Nairobi. Kannst du mich hören?"

"Wie bitte, wer ist da?"

"Tante Jane. Hör zu, Barry, dein Vater ist gestorben. Er hatte einen Verkehrsunfall. Hallo? Kannst du mich hören?"

Barry ist Barack Obama, ein junger Mann von 21 Jahren. Sein Vater hat die Familie verlassen, als Barack zwei Jahre alt war. Jetzt hat er ihn für immer verloren.

Der Verlust des Vaters, den er kaum kannte, ist das vielleicht prägendste Erlebnis im Leben von Barack Obama. Jedenfalls beginnt er damit das erste Kapitel seiner Autobiografie, deren Originaltitel "Dreams from My Father" lautet - Träume von meinem Vater.

Einmal besucht der Vater, ein gebürtiger Kenianer, der an der Universität von Hawaii Wirtschaftswissenschaften studiert hat, die Familie für einen Monat auf Hawaii. Barack ist zu dieser Zeit im Schulalter. Er kann mit dem unerwartet auftauchenden Vater, der ebenso plötzlich wieder abreist, nichts anfangen. Ebenso wenig mit den Briefen, die er später unregelmäßig von ihm erhält. Als Barack an der Highschool ist, lässt er den Kontakt zum Vater ganz abreißen.

Jahre später, nach dem Tod des Vaters, reist Barack Obama nach Kenia, um sich mit seiner Herkunft auseinanderzusetzen. Es gelingt ihm auf eine fast metaphysische Weise. Er sieht seinen Vater in den Kenianern um ihn herum, und Barack schreibt: "Der alte Herr ist da, denke ich, auch wenn er nichts zu mir sagt. Er ist hier, er will, dass ich verstehe."

Barack Obama lernt die Geschichte seines Vaters und seiner Großeltern kennen, deren Land und damit auch seine afrikanischen Wurzeln. Erst als er am Grab des Vaters dessen innere Zerrissenheit nachvollziehen kann, gelingt es dem Sohn, selbst innere Ruhe zu finden - und eine Gelassenheit, die zu einem Charakterzug wird und schließlich zu einem Markenzeichen, das in kaum einem Porträt unerwähnt bleibt.

Es sind auch die Brüche in der Vita von Barack Obama, die wesentlich zu seiner Attraktivität beitragen - nicht zuletzt, indem sie den Antagonismus zu seinem ungeliebten Vorgänger George W. Bush verstärken: Letzterer hatte immerhin einen US-Präsidenten zum Vater, er kam mit dem Rückhalt einer mächtigen, alteingesessenen Politikerdynastie zu Amt und Würden und blieb dabei dennoch ein Kleinbürger aus der texanischen Provinz.

Obama hingegen schaffte es quasi aus dem Nichts heraus ins Weiße Haus: die politische Variante des amerikanischen Mythos vom Tellerwäscher, der zum Millionär wird. Er stammt aus einer zerrissenen, über mehrere Kontinente verstreuten Familie und verkörpert damit auch die globalisierte Gesellschaft des 21. Jahrhunderts.

II. Der Mann, der inhalierte

Es gibt Dinge, die ein US-Präsidentschaftskandidat unter keinen Umständen darf: zugeben, dass er Drogen konsumiert hat, zum Beispiel. Barack Obama tat genau das.

Eigentlich hätte Barack Obama niemals für das Amt des US-Präsidenten kandidieren können. Das liegt nicht an seiner Hautfarbe und auch nicht an seinem eigenartigen Namen, sondern an einem Geständnis in seiner Autobiografie "Ein amerikanischer Traum" aus dem Jahr 1994: Darin berichtet er offen über seine Drogeneskapaden als Highschool-Schüler auf Hawaii. Sein bester Freund Ray hatte die Insel verlassen, der pubertierende Barack fühlte sich verloren, heimatlos und war frustriert. Er begann, mit Drogen zu experimentieren, um seinen Kopf frei zu bekommen. "Haschisch hatte geholfen, Alkohol, manchmal Kokain, wenn man das entsprechende Geld hatte", schreibt er in seinem Buch. Bloß vor Heroin war er zurückgeschreckt.

In den USA sind solche Geschichten für politische Gegner ein gefundenes Fressen, denn sie können politische Karrieren zerstören. 1987 musste Douglas Ginsberg seine Kandidatur für den Vorsitz des Obersten Gerichtshofes zurückziehen, weil publik wurde, dass er in seiner Studentenzeit Marihuana geraucht hatte. Fünf Jahre später wären Bill Clintons Präsidentschaftsambitionen fast geplatzt, weil die Medien kolportierten, Clinton habe als junger Mann Marihuana geraucht. Zuerst leugnete der Kandidat, schließlich entschied er sich für eine schwammige Ausrede: Ja, er habe gekifft, den Rauch allerdings nie inhaliert, und außerdem habe es ihm nicht geschmeckt.

Als Barack Obama im Oktober 2006 öffentlich über eine Kandidatur für das Amt des US-Präsidenten nachdachte, verwiesen Berater seiner parteiinternen Konkurrentin Hillary Clinton umgehend auf die Drogenvergangenheit des Senators von Illinois. Doch Obama zeigte sich unbeeindruckt und sagte in einem Interview im Oktober 2006 in Anspielung auf Bill Clinton: "Natürlich habe ich inhaliert, genau das ist ja der Punkt." Damit nahm er seinen Gegnern den Wind aus den Segeln: Drogenkonsum in der Vergangenheit ist eine Sache, der Umgang damit eine andere. Einfach bei der Wahrheit bleiben - diese einfache Formel erwies sich für Obama als genialer strategischer Schachzug.

Den Wählern gefiel die für Politiker ungewöhnlich authentische Art Obamas, Kontrahenten erkannten das. Fortan wurde er mit diesem Kapitel aus seiner Vergangenheit nicht mehr konfrontiert, weder von Hillary Clinton noch vom republikanischen Wahlkampfteam rund um John McCain.

III. Die amerikanische Erbsünde

Irgendwann musste die Rassenfrage zum Thema werden: Obama machte aus diesem Moment trotz widrigster Umstände einen Triumph.

Im März 2008 sorgte Obamas ehemaliger Pastor Jeremiah Wright mit einer provokanten Rede für Aufsehen: Wright sagte, die USA seien selbst schuld an den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Man könne nicht mit terroristischen Mitteln gegen andere Völker vorgehen und erwarten, selbst davon verschont zu bleiben, so Wright. Der Vorwurf des streitbaren Schwarzen, die USA seien nach wie vor ein zutiefst rassistisches Land, gipfelte in dem Satz: "Gott verdamme Amerika."

Obama geriet umgehend ins Kreuzfeuer der Kritik und musste reagieren. Am 18. März 2008 hielt er in Philadelphia eine 30-minütige Rede über die "Rassenfrage, die wir nie ausgeräumt haben", und deren Ursprung in der Sklaverei, "der Erbsünde dieser Nation". Obama sprach vom "Zorn, der in Teilen der weißen Gemeinschaft existiert", und forderte die Amerikaner auf, einen Weg zu finden "aus der Rassensackgasse, in der wir seit Jahren stecken".

Politische Beobachter vermuteten zunächst, dass die Affäre Obama schaden würde. Denn in den USA ist das Rassismusthema immer noch eine tiefe Wunde, über die nicht gern gesprochen wird. Doch Obama schaffte es, eine neue Debatte ins Rollen zu bringen: Allein auf der Online-Videoplattform YouTube sahen sich über zehn Millionen Menschen die Rede an. Im Internet, in den Medien, in Talkshows, an Universitäten, kurz: im ganzen Land wurde eine beispiellose Diskussion über Rassismus in den USA geführt. Auch bei den Demokraten selbst hatte ebenfalls plötzlich eine kritische Selbstbetrachtung begonnen. Die Partei, die auf ihre Offenheit und ethnische Vielfalt stolz ist, habe kaum schwarze Führungsleute, kritisierte etwa Donna Brazile, die Ex-Wahlkampfchefin des ehemaligen Vizepräsidenten Al Gore. Obamas Image als Mann, der die Nation einen möchte, wurde durch die Rede "A More Perfect Union" weiter gestärkt. Die Zahl seiner Anhänger wuchs auch unter weißen Amerikanern.

Barack Obama hatte bewiesen, dass er jedem Versuch, ihn einem Lager zuzurechnen, mühelos widerstehen kann.

IV. Die perfekte Kampagne

Ein US-Präsidentschaftskandidat leitet ein Unternehmen mit ein paar hundert Millionen Dollar Umsatz und steht dabei rund um die Uhr unter Beobachtung. Ein Fehler kann das Aus bedeuten. Obama machte keinen.

Was befähigt einen Kandidaten, zum Stichtag am 20. Jänner 2009 an die Spitze der USA aufzurücken? Er darf in entscheidenden Momenten keinen Fehler machen. Anfang September 2008 kam es zu einem solchen Moment: Zwei Monate vor dem Wahltermin kollabierte der US-Finanzmarkt, die Börsenkurse an der Wall Street stürzten ab, milliardenschwere Kreditinstitute gingen bankrott, die Arbeitslosigkeit schnellte hoch, die Angst vor einer Neuauflage der großen Depression griff im ganzen Land um sich.

Die Präsidentschaftskandidaten mussten in einer extrem unübersichtlichen Situation eine klare Linie vorgeben. John McCain gelang das nicht. Er forderte, den Wahlkampf vorübergehend zu unterbrechen und ein bereits fixiertes TV-Duell mit Obama abzusagen, um an Rezepten gegen die Krise zu arbeiten. Gleichzeitig attackierte er seinen Gegner und warf ihm vor, Steuererhöhungen zu planen. Obama hingegen behielt kühlen Kopf: "Das ist doch genau die Zeit, in der die Amerikaner etwas von uns hören wollen", sagte Obama. Er wolle lieber mit McCain eine gemeinsame Erklärung zur Lösung der Krise veröffentlichen, das Problem solle von Demokraten und Republikanern im Parlament gemeinsam angepackt und dürfe nicht durch den Wahlkampf belastet werden. Auf seinen Wahlkampfstopps erläuterte er, warum das Bankenrettungspaket nicht in erster Linie der Wall Street nützte, sondern der breiten Masse: "Millionen von Arbeitsplätzen könnten verlorengehen. Eine lange und schmerzvolle Rezession könnte die Folge sein."

In den Umfragen legte Obama in den darauf folgenden Wochen um bis zu zehn Prozentpunkte zu.

Die Reaktion Obamas auf die Wirtschaftskrise erwies sich als einer der markantesten Punkte in einem Wahlkampf, in dem sich der demokratische Kandidat über Monate hinweg trotz schärfster Beobachtung seiner innerparteilichen wie auch republikanischen Gegner keinen nennenswerten Fehler leistete.

V. Die Farbe des Geldes

Die größte Herausforderung erwartet ihn schon zu Amtsantritt: Obama muss die USA vor einer Depression bewahren. Alle Welt erwartet, dass er das kann.

"Multi-Tasking ist noch milde ausgedrückt", schreibt der britische "Independent" über die Herausforderungen, die 2009 auf Obama warten. "Eine bessere Metapher ist jene des Schachgroßmeisters, der ein Dutzend Partien gleichzeitig spielt - mit der zusätzlichen Komplikation, dass sie alle miteinander in Verbindung stehen. Ein falscher Zug auf einem Brett kann auf einem anderen eine Katastrophe auslösen."

Am Dienstag, 20. Jänner, wird Barack Obama vormittags vor dem Kapitol in Washington den Eid auf die Verfassung der Vereinigten Staaten ablegen. Danach begibt er sich ins Weiße Haus, um unmittelbar danach seine ersten Amtshandlungen durchzuführen. Alles deutet darauf hin, dass sie im Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise stehen und ein Konjunkturprogramm betreffen.

Bereits jetzt liegt die Arbeitslosigkeit in den USA mit 6,7 Prozent so hoch wie seit mehr als 30 Jahren nicht. Wirtschaftsforscher fürchten, dass sie im ersten Halbjahr 2009 auf bis zu 8,5 Prozent steigen könnte. In absoluten Zahlen haben seit Dezember 2007 1,9 Millionen Amerikaner ihren Job verloren, allein im November 2008 wurden 533.000 Menschen auf die Straße gesetzt.

Ende Dezember vergangenen Jahres kündigte David Axelrod, einer der wichtigsten Berater des neuen Präsidenten, sofortige und deutliche Steuererleichterungen für die amerikanische Mittelklasse an: zunächst als Notfallmaßnahme, bei der Erstellung des Budgets dann aber auf Dauer festgeschrieben.

Das gesamte Wirtschaftsprogramm, das auch direkte Investitionen in die Infrastruktur der Vereinigten Staaten - Straßen, Schulen, Krankenhäuser - beinhaltet, soll ein Volumen von 675 bis 775 Milliarden Dollar haben und drei Millionen Arbeitsplätze sichern oder schaffen.

Bei Paul Krugman, Wirtschaftsnobelpreisträger 2008, stößt dieser Plan auf klare Zustimmung: Je mehr davon, desto besser, findet der bekennende Obama-Sympathisant, warnt aber vor allzu großem Optimismus. "Herrn Obamas derzeit guter Stand in den Umfragen basiert auf der Hoffnung der Öffentlichkeit, dass er Erfolg hat", schrieb Krugman vergangene Woche in seiner "New York Times"-Kolumne. "Aber er braucht eine solide Basis an Unterstützung, die auch dann bestehen bleibt, wenn es nicht gut läuft."

Dafür hat Barack Obama offenkundig schon vorgebaut: "Es gibt keine schnellen oder einfachen Lösungen für diese Krise, und es wird wahrscheinlich schlimmer werden, bevor es besser wird", prophezeite er kürzlich den Amerikanern.

Welchen wirtschaftspolitischen Kurs Obama abseits der Krisenbewältigung einschlägt, ist derzeit noch nicht klar abzusehen. "Barack Obamas Wahlkampfrhetorik hinterließ den Eindruck eines Zerrissenen, was die Handelspolitik betrifft, und er hat bislang nichts getan, um das zu zerstreuen", schalt ihn etwa das angesehene Nachrichtenmagazin "The Economist" in seiner Weihnachtsausgabe.

Bei vielen Themen, etwa beim Freihandel, hatte sich Obama vor seinem Wahlsieg deutlich links gegeben. Jene Berater, die auf dieser Linie lagen, spielen im Präsidententeam jedoch keine tragende Rolle mehr. Lawrence Summers, der künftige Leiter des Nationalen Wirtschaftsrats etwa, hat sich in der Clinton-Zeit als Befürworter deregulierter Finanzmärkte hervorgetan. Allerdings hat inzwischen auch er seine Haltung geändert und spricht sich für eine stärkere staatliche Kontrolle aus.

Es wird wohl viel daran liegen, wie entschlossen und schnell Obama in den ersten 100 Tagen seiner Amtszeit handelt. An den politischen Rahmenbedingungen sollte er nicht scheitern: Sowohl im Repräsentantenhaus als auch im Senat, den beiden gesetzgebenden Kammern der Vereinigten Staaten, verfügen seine Demokraten über klare Mehrheiten - die republikanische Opposition kann seinen Handlungsspielraum also kaum beschränken und würde es angesichts der ernsten Situation vorerst wohl auch kaum tun. Wenn die Krise mit politischen Mitteln zu bewältigen ist, dann stehen die Chancen Obamas gut.

VI. Zweiter Vorname: Hussein

Wie sein Vorgänger George W. Bush wird sich Obama intensiv mit dem Islam beschäftigen müssen. Sein Vorteil: Er weiß, womit er es zu tun hat.

Barack Hussein Obama: Der rechtskonservative Nachrichtensender Fox News machte im Wahlkampf wochenlang eine Strategie daraus, den Mittelnamen des demokratischen Präsidentschaftskandidaten besonders zu betonen. Gleichzeitig setzten republikanische Spin-Doktoren das Gerücht in Umlauf, Obama sei als Kind in einer Koranschule ausgebildet worden. Dann wurde - diesmal angeblich aus dem Umfeld der parteiinternen Konkurrentin Hillary Clinton - auch noch ein Foto in Umlauf gebracht, das ihn bei einem Besuch in Kenia in moslemischer Tracht zeigt: mit weißem Turban und dem Wickelrock.

All diese Versuche zielten darauf ab, Obama als Krypto-Islamisten zu punzieren. In den USA konnten sie ihm bekanntlich nicht schaden. Im Rest der Welt könnten sie sich nun zudem als unschätzbarer Vorteil erweisen.

Es gibt Spekulationen, dass Obama schon frühzeitig in seiner Amtszeit ein moslemisches Land besuchen wird, um damit einen symbolischen Akt der Annäherung an den Islam zu setzen. Manche Beobachter tippen auf Indonesien. Nicht nur, weil der neue US-Präsident dort einen Teil seiner Kindheit verbracht hat, sondern auch deshalb, weil der südostasiatische Inselstaat für einen weitaus entspannteren Umgang mit der Religion bekannt ist als etwa der Nahe Osten.

Zwar wurde auch Indonesien von schweren Terroranschlägen getroffen, beispielsweise den Bombenattentaten von Bali mit über 200 Toten im Jahr 2002. Es fehlt aber die Radikalisierung durch regionale Konflikte, die etwa den arabischen Raum prägt - und damit auch die gängige, klischeehafte Ikonografie der Gewalt.

In Indonesien könnte Obama das beginnen, was er nicht nur als Nachfolger von George W. Bush und dessen erkennbar auch christlich überformter Weltpolitik wohl in Angriff nehmen muss: die Neudefinition des Verhältnisses zum Islam.

Auch hier sind die Erwartungen hoch, wenn nicht gar überhöht - besonders, was den wohl wichtigsten Teilaspekt in diesem Zusammenhang betrifft, den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern.

Die Gaza-Krise war kaum ausgebrochen, da machten sich Kommentatoren in aller Welt bereits Gedanken darüber, wie der neue US-Präsident sie wohl in den Griff zu bringen gedenke: "Eine Lösung hängt vor allem von Barack Obama ab, das kann niemand bestreiten", schrieb stellvertretend für viele die konservative französische Tageszeitung "Le Figaro".

Der Angesprochene selbst machte vorerst aber keine Anstalten, sich zu dieser Frage zu äußern. Bis zum Inaugurationstag vom 20. Jänner sei es immer noch der formell im Amt befindliche George W. Bush, der für Amerika spreche, ließ Obama über seine Berater ausrichten. Dass sich die Linie seiner Regierung in der Palästinenser-Frage maßgeblich von jener seiner Vorgänger unterscheiden würde - etwa durch eine verminderte Parteinahme für Israel -, ist bislang zudem nicht zu erkennen. Im Wahlkampf hatte Obama klar und deutlich Position bezogen: Er erwarte sich nicht von Israel, dass es Verhandlungen mit der radikalen Hamas aufnehme, die jüdische Siedlungen im Grenzgebiet zum Gaza-Streifen permanent mit selbst gebastelten Raketen beschießt. Und er befürworte Vergeltungsschläge dagegen: "Wenn jemand Raketen in mein Haus schießt, wo meine beiden Töchter schlafen, werde ich alles in meiner Macht Befindliche tun, um das zu stoppen. Ich erwarte, dass die Israelis das Gleiche tun", sagte Obama bei einem Israel-Besuch im vergangenen Juli.

In die gleiche Richtung weist die Tatsache, dass er mit Hillary Clinton eine Außenministerin ernannt hat, die nie ein Hehl daraus machte, dass sie auf der Seite Israels steht.

Wie sich dieser Nahost-Konflikt im Jahr 2009 auch immer entwickelt und wie auch immer die US-Regierung sich dabei verhält: Die Aufmerksamkeit der Welt wird sich auch in dieser Frage auf Barack Obama richten.

VII. Krieg und Frieden

Der neue Präsident hat zwei Kriege geerbt. Zumindest einen der beiden hat der Commander in Chief nie gewollt. Kann er trotzdem gewinnen?

Am vergangenen Heiligen Abend wurde in der afghanischen Provinz Paktika Charles P. Gaffney Jr. bei einem Feuergefecht von einer Rakete in Stücke gerissen. Der 42-jährige Korporal der 101. US-Luftlandedivision war das letzte amerikanische Todesopfer, das der Krieg gegen die Taliban in diesem Jahr forderte.

Insgesamt wurden seit dem Einmarsch von US- und NATO-Truppen nach dem Fall des radikalislamischen Regimes in Afghanistan 1042 westliche Soldaten getötet. Allein 2008 waren es 293, und die Zahl steigt stetig. Im Sommer lag sie erstmals höher als jene der Gefallenen im Irak.

Über die kurzfristige Strategie besteht in dieser Frage wenig Zweifel: Im Irak soll die Zahl der US-Soldaten relativ rasch reduziert werden. Aufgeben will Obama das Land aber nicht. Amerikanische Militärstützpunkte sollen dort auch in Hinkunft bestehen.

Parallel zum Abzug aus dem Irak ist eine deutliche Verstärkung der Truppen in Afghanistan vorgesehen, wo im September auch Parlamentswahlen stattfinden: Damit wird es wohl nicht getan sein. Selbst 10.000 oder 20.000 Soldaten mehr werden die Sicherheitslage in einem Land dieser Größe und Komplexität nicht maßgeblich verbessern, wenn mit ihrer Entsendung nicht auch eine Veränderung der grundsätzlichen Strategie einhergeht - eine, die der zunehmenden Radikalisierung der afghanischen Bevölkerung Einhalt gebietet.

Obama hat keinen dieser Konflikte - den einzigen, in denen amerikanische und europäische Truppen derzeit als Kriegsparteien kämpfen - angezettelt oder gewollt. Die Weltöffentlichkeit wird den Präsidenten dennoch daran messen, wie er sie in den kommenden vier Jahren managt. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass er einen Teil der Verantwortung zumindest symbolisch auf seine Vorgänger abgewälzt hat, indem er Bushs Verteidigungsminister Robert Gates im Amt beließ.

2009 wird er auf beiden Kriegsschauplätzen zumindest Anfangserfolge nachweisen müssen: weniger tote US-Soldaten, mehr Stabilität. Andernfalls könnte ein Teil des Vertrauensvorschusses, den ihm die Amerikaner und der Rest der Welt gewährt haben, rasch verspielt sein.

Postskriptum

Der Mensch des Jahres 2008 könnte durchaus mit dem Menschen des Jahres 2009 identisch sein. Wenn Barack Obama auch nur teilweise hält, was sich die Welt von ihm vor Amtsantritt verspricht, wird er dieses Jahr prägen. Sollte er aber scheitern, wird er die größte enttäuschte Hoffnung der vergangenen Jahrzehnte sein - und als solche wohl auch die Person des nun anbrechenden Jahres. Es sieht also in jedem Fall jetzt schon nach Titelverteidigung aus.

Der Letzte, der es schaffte, in zwei aufeinander folgenden Jahren vom Magazin "Time" zum Menschen des Jahres gekürt zu werden, war übrigens US-Präsident Richard Nixon: 1971 und 1972. Zwei Jahre später, 1974, musste er wegen des Watergate-Skandals zurücktreten.

Erstmals erschienen am 5.1.2009 in profil 2/2009