Charlotte Roche: "Für einen guten Witz verkaufe ich meine Familie“

Bestsellerautorin Charlotte Roche ist es müde, über Körperflüssigkeiten und Pickelausdrücken, Sex und Selbstbefriedigung zu sprechen. Ein Gespräch über die Lust am Älterwerden, Uhrenticks, brennende Flüchtlings heime und ihren neuen Roman "Mädchen für alles“.

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Das Hopper Hotel St. Antonius nahe des Kölner Bahnhofs. In einem Zimmer im ersten Stock absolviert Charlotte Roche Interviewtermine nach streng getaktetem Plan; das mit Ober- und Unterpunkten übersäte Blatt Papier, das auf dem Tisch liegt, teilt die Minuten und Stunden ein. Diese Woche erscheint "Mädchen für alles“, der dritte Roman der Autorin, eine für Roches Verhältnisse geradezu dezente Erzählung, die sich nur am Rand mit den in ihren Bestsellern "Feuchtgebiete“ (2008) und "Schoßgebete“ (2011) nahezu exzessiv beackerten Körperflüssigkeit-Tampon-Hämorrhoiden-Sex-Themenkreisen beschäftigt. "Mädchen für alles“ berichtet vom Alltagsunglück einer im Kern depressiven Frau, ohne Sinn im Leben, von den "Tretminen einer Ehe“, von einem Wohlstandsdasein, das schierer "Horror“ ist. Roche, 37, blaues Sweat-Shirt, blaue Jeans, reißt das Hotelfenster auf. "Frischluft“, sagt sie, wedelt mit den Händen und nimmt auf einem großen Sofa von unbestimmbarer Farbe Platz. Während der kommenden Stunde wird Roche unentwegt ihre Sitzposition ändern, viel lachen. Ihre Arbeit will sie endlich nicht mehr allein durch das Prisma des Geschlechtlichen wahrnehmen.

INTERVIEW: WOLFGANG PATERNO MITARBEIT: SEBASTIAN HOFER

profil: Themen wie Achselgeruch oder Schambehaarung haben Sie bereits in vielen Interviews erörtert. Sie erwecken den Eindruck, man dürfe Sie alles fragen. Darf man das? Charlotte Roche: Natürlich. Selbst wenn mich manche Fragen verletzen, denke ich: Es macht Sinn, über das Thema Achselbehaarung zu sprechen, weil ich ja auch darüber geschrieben habe. Nachdem ein Buch erschienen ist, will und kann ich keine Rückzieher machen.

profil: Gespräche über Achselhaare bedeuten für Sie gewissermaßen die Normalität? Roche: Ich kann nicht beleidigt sein, ich habe diese Fährte in meinen Romanen "Feuchtgebiete“ und "Schoßgebete“ ja selbst gelegt. Journalisten haben mir während Interviews von ihren Hämorrhoiden oder flotten Dreiern mit gekauften Asiatinnen erzählt. Offensichtlich bewirken meine Bücher, dass diese Männer denken: "Wem soll ich das sonst erzählen, außer der verrückten Sex-Tante?“

profil: Sie waren noch nie mit einer Frage konfrontiert, die den Abbruch eines Interviews nach sich gezogen hätte? Roche: Natürlich gibt es grenzwertige Gesprächspartner, die den Inhalt meiner Bücher mit meinem Leben gleichsetzen, die nicht abstrahieren können. Beim Erscheinen von "Feuchtgebiete“ sagte ein Reporter: "Liebe Frau Roche, ich wundere mich, dass Sie sich gewaschen haben und es nicht nach Schweiß oder noch schlimmeren Sachen riecht, wenn man den Raum betritt.“ In dem Buch geht es bekanntermaßen um Körperausscheidungen und Gerüche. Es ist schon ziemlich dumm, deshalb auf den Gedanken zu kommen, man trete einer unfassbar übel riechenden Autorin gegenüber. Ich musste damals übrigens bekennen, ich sei gewaschen, was wiederum für den Interviewer enttäuschend war. Ich breche also keine Gespräche ab. Mein sportlicher Ehrgeiz wird geweckt, auch solche Treffen menschlich vernünftig und halbwegs würdig zu einem Ende zu bringen.

profil: Sie gehörten ab 1998 zu den stilbildenden Moderatorinnen im Musikfernsehen. Profitieren Sie heute von Ihren früheren Erfahrungen? Roche: Wer ein Interview zu führen hat, steht unter Stress. Die ganze Stimmung, alles steht und fällt mit den Fragen, der Vorbereitung. Der Interviewer ist der Gastgeber. Mir haben einige berühmte Menschen damals total die Laune verdorben, indem sie mich live mit einsilbigen Antworten total auflaufen ließen. Diese Art von Machtspielen hasse ich.

Mit Gefühl und Empathie, verschwenderisch eingesetzt in legendären Interviews, prägte Roche Ende der 1990er-Jahre eine neue, damals sehr zeitgemäße Art des Fernsehens. In der von ihr moderierten Sendung "Fast Forward“ auf dem Musiksender Viva Zwei erhob sie das tabulose Geplänkel mit Weltstars zur Kunstform, brachte Robbie Williams dazu, seine Unterhose zu zeigen (und zeigte ihm im Gegenzug, dass sie selber keine trug, "weil sie alle schmutzig waren“), lockte selbst notorisch verstockte Künstler wie Thom Yorke durch ihre höfliche Frechheit aus der Reserve und gewann dafür unter anderem den Grimme-Preis. Nach der Einstellung der Sendung 2005 folgten etliche TV- und Rundfunkformate, so die NDR-Talkshow "3 nach 9“ (gemeinsam mit dem "Die Zeit“-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo) oder das ZDF-Format "Roche & Böhmermann“ (gemeinsam mit Jan Böhmermann) sowie eine Palette ähnlich gelagerter Plaudereien mit ähnlich gearteten Moderatorinnen - also solchen, die bereits nach dem Rollenmodell Roche gecastet worden waren.

profil: Ihr neuer Roman "Mädchen für alles“ erscheint dieser Tage. Nun müssen Sie die Sager liefern. Roche: Ich bin mit "Mädchen für alles“ wahrscheinlich zum letzten Mal bei Stefan Raabs "TV total“. Raab hört auf, und es ist ein Riesending. Wenn ich da zu Gast bin, geht es darum, zu unterhalten und lustig zu sein. Das geht aber nur dann, wenn der Talkmaster einen glänzen und nicht krepieren lässt. Das war bei Harald Schmidt und ist bei Raab so: Beide freuen sich, wenn man kommt und liefert. Es passiert ja eher selten, dass schreibende Menschen in Comedyshows eingeladen werden. Viele Kollegen kommen nicht dorthin, weil sie live nicht besonders unterhaltsam sind, wahrscheinlich weil sie zu lange im Keller eingesperrt sind und dort schreiben müssen.

Das Buch stand sehr lange auf Platz 1 der Bestsellerlisten. Man muss sich das so vorstellen, als ob man wochenlang auf Koks ist.

profil: Elfriede Jelinek klagte einst, dass sie sich von Journalisten oft buchstäblich habe ausziehen lassen. Können Sie das nachvollziehen? Roche: "Feuchtgebiete“ war ein Riesenüberraschungserfolg, fast ein Schock. Das Buch stand sehr lange auf Platz 1 der Bestsellerlisten. Man muss sich das so vorstellen, als ob man wochenlang auf Koks ist: Man kann nicht schlafen, ist die ganze Zeit aufgeregt. Man empfindet fast Todesangst bei dem Gedanken, auf Platz zwei abzurutschen. In dem Roman ist ja ausgiebig von Selbstbefriedigung, Analverkehr, Körperhygiene die Rede. Damals haben mich immer Männer interviewt, mir vollkommen fremde Männer, mit denen sehr Intimes besprochen wurde. Am Ende stellte sich ein Gefühl wie Prostitution ein, als sei man immer wieder durch die Hecke gezogen worden. Man kann dann nicht mehr.

profil: Sie waren die öffentliche Frau. Roche: Jeder hatte eine Meinung, jeder eine noch stärkere. Man musste den Roman nicht mehr gelesen haben. Damals war ich das Buch. Ich kam in einen Raum als Buch auf zwei Beinen: "Hallo! Ich bin’s, euer Buch!“ Das muss man erst mal verkraften. Deshalb brauche ich auch immer ein paar Jahre, bis der nächste Roman kommt.

Nach dem Sensationserfolg von "Feuchtgebiete“ (meistverkauftes Buch in Deutschland 2008, Gesamtauflage gut zwei Millionen Exemplare) musste die damals junge Autorin öffentlich bekennen: "Den größten Hit meines Lebens hab ich schon hinter mir.“ Nur drei Jahre später folgte, mit neuem Verlag und einer Startauflage von 500.000 Stück, der nächste Hit: "Schoßgebete“, wie sein Vorgänger kenntlich autobiografisch geprägt und mit handfesten Intimszenen unterfüttert. "Schoßgebete“ verhandelt auch die große persönliche Tragödie der Autorin: Auf der Anreise zu Roches geplanter Hochzeit im Juni 2001 starben bei einem Autounfall ihre drei Brüder, ihre Mutter überlebte schwerverletzt.

profil: Haben Sie den Verkaufserfolg der "Feuchtgebiete“ inzwischen ergründet? Roche: Es muss einen Nerv getroffen haben. Man kann aber nicht kalkuliert schreiben, um ihn zu treffen. Ich hab damals über ein Phänomen geschrieben: Warum spüren viele so einen immensen Druck, stets gut riechen zu müssen? Welche kosmetischen Produkte soll sich ein gut aussehender, wohlriechender Mensch leisten? Wie weit haben wir uns von unseren Körpern bereits wegentwickelt? Das Buch war vielleicht der Befreiungsschlag von all dem, was man sonst nur heimlich im Badezimmer macht: Pickelausdrücken und Periode, Selbstbefriedigung und Sex.

profil: Ihre Mutter schärfte Ihnen ein, man müsse lügen können. Hilft das? Roche: Das ist die Voraussetzung des Entertainments. Man muss versuchen, Unangenehmes ins Lustige und Unterhaltsame zu drehen. Es darf für einen selbst nicht allzu düster und zum Davonlaufen sein. Man spielt eine Rolle. Man denkt während solcher Situationen über was Schönes nach: Mach das ruhig mit meinem Körper, ich denk mich in der Zwischenzeit ganz woanders hin. Das ist der Job.

profil: Sie sagten kürzlich, Sie hätten privat keine Lust mehr, Witze zu reißen. In dieser Hinsicht seien Sie "leergebumst“ … Roche: … mein Zoten-Pulver ist verschossen.

profil: Gilt das auch für Ihr Auftreten in der Öffentlichkeit? Roche: Für einen guten Witz verkaufe ich nach wie vor meine ganze Familie. Das ist mir dann scheißegal. Sobald mein Gegenüber lacht, hab ich gewonnen: Ja, das war es jetzt wert. Man lernt das beim Musikfernsehen. Man lacht über unglaublich traurige Situationen und reißt im Zweifelsfall lieber einen Witz. Hauptsache unterhaltsam.

Sie ist noch immer Entertainerin. Sie deutet eine Verbeugung an, klatscht in die Hände, zieht einen imaginären Zylinderhut, lacht. Letzten Endes ist Unterhaltung kein bloßes Herumhampeln, sondern eine endlose Reihe einzelner Handlungen, zum großen Auftritt arrangiert.

profil: Anlässlich der Veröffentlichung von "Mädchen für alles“ werden Sie erneut im medialen Mittelpunkt stehen. Sind Sie gerüstet? Roche: Nein, keinesfalls. Gut möglich, dass ich einen Nervenzusammenbruch erleide und verrückt werde, weil alles so unnatürlich ist. PR-Termine in endloser Folge lassen sich psychisch nicht gut auf die Reihe kriegen. Man redet dabei die ganze Zeit ausschließlich über sich selbst. Das macht man im normalen Leben nicht. Man muss zu dem Rummel deshalb die entsprechende Einstellung finden, wie bei einem japanischen Baderitual: Man geht abends nach Hause, schwemmt die Schlacke von sich und sieht ihr dabei zu, wie sie im Gully verschwindet.

profil: Besteht ein großer Unterschied zwischen der Privatperson und der öffentlichen Figur Charlotte Roche? Roche: Ein gigantischer! Ich bin ein komplett anderer Mensch, wenn ich schreibe. Ich bin dann viel näher bei mir selbst. Der Alltag ist dann auch viel durchorganisierter: Jeden Morgen um die exakt selbe Uhrzeit wird gesund gefrühstückt, fast wie ein Aberglaube.

profil: Die Protagonistin in "Mädchen für alles“ organisiert ihren Tag ebenfalls nach der Uhr. Roche: Das ist mein Tick. Sehe ich auf einer Digitaluhranzeige "2:22 Uhr“, freue ich mich kindisch. Das passiert oft an einem Tag. Es gibt viele tolle Uhrzeiten: 14:41 Uhr. 16:16 Uhr. Ich denke dann, irgendjemand will mir damit etwas sagen.

Die Zimmeruhr zeigt gerade 14:41 Uhr. Es bleibt Roches Geheimnis, wer ihr soeben was mitgeteilt hat.

profil: In "Mädchen für alles“ spielen Schamhaare und Kopulieren untergeordnete Rollen. Beabsichtigen Sie einen Imagewechsel: weg von der Sex-Autorin, hin zur seriösen Schriftstellerin? Roche: "Mädchen für alles“ ist viel weniger autobiografisch als "Feuchtgebiete“ und "Schoßgebete“. Das Buch ist viel romaniger. Früher war in den Romanen viel von meinem Leben drin. Wenn dann jemand gesagt hat, ich kann damit überhaupt nichts anfangen, habe ich mich damit getröstet, dass das immerhin mein Leben war. "Mädchen für alles“ erzählt nun eine erfundene Geschichte. Deshalb bin ich auch auf die Reaktionen neugieriger.

profil: Haben Sie Angst vor Verrissen? Roche: Ich bin psychisch überhaupt nicht in der Lage, Kritiken über meine Bücher zu lesen oder am Bildschirm zu verfolgen. Ich kultiviere seit Jahren eine absolute Distanz. Einen unfassbaren Verriss über etwas, das mir heilig ist, würde ich nicht verkraften. Die positiven Besprechungen lese ich übrigens auch nicht, sonst lebe ich ja wie im Wolkenkuckucksheim. Wenn man nur Gutes über sich selbst liest, wird man auch komplett irre.

profil: Jetzt klingen Sie eine Spur zu kokett. Roche: Es gibt ein regelrechtes Frühwarnsystem durch den Verlag und mir nahestehende Menschen. Ich erhalte eine morgendliche SMS, die mich davor warnt, "Die Zeit“ zu lesen: "Achtung, Kritik.“ Mittags trifft die E-Mail ein, den "Spiegel“ nicht zu lesen. Kein Satz von einer Kritik, gut oder schlecht, findet sich aber in meinem Kopf wieder, sonst gäbe es vermutlich kein weiteres Buch. Eine schlechte Kritik würde mich in den Selbstmord treiben, eine gute bewirken, dass ich wie Graf Koks rumstolziere und mir einbilde, ich bin die beste Schriftstellerin der Welt.

profil: Literaturkritik ist aber Teil des Business. Roche: Der Literaturkritiker spricht: "Wow, ist das Baby hässlich, es ist krüppelig und wird nie wachsen!“ Da halte ich mir lieber die Ohren zu.

Roche-Romane fallen in der Regel nur zu einem Teil in den Zuständigkeitsbereich der Literaturkritik; viel mehr entzünden sich an ihnen fast schon gewohnheitsmäßig gesellschaftspolitische Großdebatten über Glanz und Elend des zeitgenössischen Frauseins. Beispielhaft fiel die Nachbereitung der "Schoßgebete“ durch - die von Roche im Buch als eine Art Über-Ich herbeizitierte - Alice Schwarzer aus, die sich von der Autorin als "feministischer Racheengel“ dargestellt wähnte, den Tenor des Buchs entsprechend kläglich fand: "Was uns hier im Namen eines sogenannten neuen Feminismus als verwegen und sündig verkauft wird, ist in Wahrheit ziemlich spießig und arm. Wir haben es in dem Buch mit einer verstörten Frau zu tun, die um jeden Preis versucht, ihr kleines Glück zu zimmern. Das hatten wir doch schon mal.“ Durchaus, aber nicht derart tragikomisch erzählt.

profil: "Mädchen für alles“ thematisiert auch die Uniformität des modernen Menschseins: Man muss Sport treiben, sich operativ verschönern lassen, ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft sein. Verstehen Sie sich als Aufklärerin? Roche: Ich bin auf jeden Fall stolz, wenn eine Frau bei einer Lesung zu mir sagt: "Ich lache mich kaputt über deine Bücher, weil du beschreibst, wie scheiße wir uns fühlen müssen, wenn wir nicht sportlich sind, auf unsere Haut aufpassen und als Hausmütterchen verkümmern.“ Frauen sollen sich nach der Lektüre besser und nicht schlechter fühlen. Dann habe ich mit meinem Schreiben viel erreicht.

profil: Einst bezeichneten Sie sich als "perverse Sau“. Gehören solche Töne nun der Vergangenheit an? Roche: Man verändert sich. Ich bin ja auch Mutter. Während des Schreibens versuche ich aber, das nicht mitzudenken und so frei und unmoralisch zu schreiben, als gäbe es meine Familie nicht. Das Ergebnis wird dann zwischen zwei Buchdeckel geklappt.

Jeden halbwegs gebildeten Literaturkritiker interessiert es einen Scheiß, ob die Protagonistin im Roman ich bin - oder auch nicht.

profil: Die "Bild“-Zeitung entdeckte noch in jedem Ihrer Bücher ein vollwertiges Porträt Ihrer selbst. Davon wird auch "Mädchen für alles“ nicht ausgenommen werden. Roche: Die "Bild“-Menschen halten zum Kunstprodukt Roman keinerlei Abstand. Jeden halbwegs gebildeten Literaturkritiker interessiert es einen Scheiß, ob die Protagonistin im Roman ich bin - oder auch nicht. Mit der Frage, was echt und was Erfindung ist in meiner Literatur, beschäftigt sich nur der Boulevard. Sobald ich über eine geistesgestörte Mutter schreibe, machen die sich Sorgen: Ist die Autorin diese Mutter? Die "Bild“-Fraktion stellt ständig Fragen wie: "Wie oft duschen Sie am Tag? Wie oft befriedigen Sie sich selber? Wie oft gehen Sie mit Ihrem Mann in den Puff? Lieben Sie Analverkehr?“ Das sind keine Literaturkritikerfragen, das ist superdummes und plattes Gerede. Bei "Bild“ arbeiten keine intelligenten Menschen, sondern solche, die mit dem Holzhammer ihr Geld verdienen.

Und die dabei keine Rücksicht auf andere nehmen, schon gar nicht auf Charlotte Roche. Nach dem Unglück ihrer Familie bemühten sich Journalisten, die sich als "Bild“-Mitarbeiter ausgaben, unappetitlich und mit - nach Darstellung Roches - geradezu erpresserischen Methoden um eine Reaktion der Trauernden. Diese erfolgte in Form einer öffentlichen und juristischen Anklage gegen die Methoden des Boulevardblatts sowie, von dessen Seite, diversen unter die Gürtellinie platzierten Artikeln über und gegen Roche. Der Rechtsstreit endete mit einem Freispruch im Zweifel pro Boulevard. Roche beharrt auf ihrer Sicht der Dinge: ",Bild‘ ruiniert Menschen.“

profil: Ihr alter Hass auf die Zeitung scheint ungebrochen. Roche: Kein einziger Journalist innerhalb des Springer-Konzerns, in dem auch "Bild“ erscheint, erhält ein Belegexemplar von "Mädchen für alles“. Ich werde immer laut gegen Springer agieren und sauer sein, bis ich sterbe. Andere klagen still ihre Persönlichkeitsrechte ein und gewinnen auch ihre Prozesse. Und noch andere haben Angst davor, der Zeitung den Krieg zu erklären, weil sie Angst haben, ihn verlieren zu können.

profil: Zu politischen Themen werden Sie so gut wie nie befragt. Haben Sie keine politische Meinung? Roche: Natürlich, nur werden diese Dinge nicht so publik, weil es in der Politik bekanntermaßen selten um Sex geht. Schreibe ich an einem Buch, bin ich zwei Jahre lang so gut wie vom Erdboden verschluckt. In dieser künstlichen Blase setzt man sich mit dem Geschehen um einen herum zwar auseinander und bleibt ihm trotzdem seltsam fern. Taucht man dann wieder auf, hat sich die Welt vollkommen verändert. Man reibt sich die Augen: Um Gottes willen, was ist los?

Es ist unsere Pflicht, für die Flüchtlinge so viel Geld wie möglich auszugeben und so viele Menschen, wie es nur geht, aufzunehmen.

profil: Menschen werden in Bussen durch Europa kutschiert und an den Grenzen mit Tränengas empfangen: In der Flüchtlingskrise ist die Würde des Menschen wieder antastbar … Roche: … und in Deutschland brennen Flüchtlingsheime. Ich bin keine Deutsche, ich muss mich aber für das Land, in dem ich wohne, zutiefst schämen. Dass nun auch noch Quoten und Verteilungsschlüssel Familien, die vor dem Krieg in Syrien flüchten mussten, auseinanderreißen sollen, ist inakzeptabel und unmenschlich. Es ist unsere Pflicht, für die Flüchtlinge so viel Geld wie möglich auszugeben und so viele Menschen, wie es nur geht, aufzunehmen.

profil: Sie sind laut eigener Aussage seit Jahrzehnten in therapeutischer Behandlung. Der Wiener Seelenforscher Sigmund Freud hätte an Ihnen seine Freude gehabt. Roche: Therapie ist Religionsersatz, ich glaube an die Psyche. Für mich ist alles tiefenpsychologisch erklärbar. Bei Abendessen unter Freunden treten manchmal Gehässigkeiten auf, Aggressionen. Dann erst wird es hochinteressant. Ich liebe es auch, wenn jemand einen Witz macht, der unfassbar verletzend ist. Für uns Therapieerfahrene gibt es bekanntlich keine Witze, die durch Zufall verletzen, sondern alles, was man sagt, hat Sinn und war irgendwie doch Absicht.

profil: Auch als Gastgeberin des Abendessens gehen Sie solchen Dingen auf den Grund? Roche: Ich fülle die Gäste mit Alkohol ab, hetze sie aufeinander und schaue dabei zu, was herauskommt. Wenn man im Therapietrichter steckt, ist man verdammt, die Welt auf diese Weise zu betrachten.

profil: Sie sprechen auch offen über Ihre inzwischen überwundene Magersucht. Flirten Sie gerne mit dem Desaster? Roche: Komplett. Ich will aber auch eine Art Vorbildwirkung entfalten, Vorbild sein für jemanden, dem es peinlich ist, darüber zu sprechen, nach dem Motto: "Da ist diese durchgeknallte Nudel und labert ständig von Therapie und Sucht. Da kann ich mit meinen Problemen auch Hilfe suchen.“ Aufklärung, von Humor ummantelt.

profil: Sind Sie gut im Älterwerden? Roche: Ich bin stolz auf meine grauen Haare, werde gesiezt und um Rat gefragt wie eine Weise. Ich hasse es, wenn Menschen denken, man könnte durch Eingriffe so aussehen wie früher. Das funktioniert nicht. Man sieht dann doch nur aus wie Madonna, die in ein Wespennest gefallen ist. Das ganze Gesicht geschwollen!

profil: In "Mädchen für alles“ schreiben Sie, dass wir alle "bald tot im Vergleich zum Universum“ seien. Werden Ihre Bücher auch bald vergessen sein? Roche: Das wäre überhaupt nicht schlimm. Ich habe ja schon erstaunlich viele Leserinnen und Leser gefunden - echte Menschen, nicht Journalisten. Das ist ein unglaubliches Glück. Aber ich bin nicht so größenwahnsinnig, zu denken, ich hätte ein Vermächtnis, das bleibt.

profil: Sie werden in drei Jahren 40. Hölderlin schrieb von der "Hälfte des Lebens“. Roche: Ein Kind sagte mir kürzlich: "Halt die Klappe, du bist alt.“ Für Kinder und Teenager bin ich bereits uralt.

profil: Für Teenager ist es auch eine unheimliche Vorstellung, dass ihre Eltern noch immer Sex haben könnten. Roche: Eine geradezu abstoßende Vorstellung. Kinder sagen zu mir bereits jetzt, ich sei eine Oma. Das nordet einen aber auch schön ein. Man kauft sich einen Sarg und legt sich eine halbwegs natürliche Einstellung zum Tod zu.

Charlotte Roche: Mädchen für alles. Piper, 237 S., EUR 15,50

Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur, ist seit 2020 Textchef dieses Magazins und zählt zum Kernteam von faktiv.