Das Risiko, aus den höchsten Sphären abzustürzen, das Ikarus-Syndrom, hat seinen Ursprung vor allem in einer maßlosen Selbstüberschätzung und, mit fortschreitendem Bodenverlust, immer skrupelloseren und engmaschigeren Lügenkonstruktionen. Die eskalierende Überzeugung von der eigenen Unverwundbarkeit, trotz drohender Katastrophen, hat auch mit einer oft völligen Absenz an Selbstreflexion und Selbstkritik zu tun, die in einer narzisstisch ausgerichteten und auf Erfolg gebürsteten Psyche zur Grundausstattung gehört. Elizabeth Holmes studierte einen großen Lehrmeister in der Silicon-Valley-Disziplin "Fake it till you make it", den sie mit ihrem ewigen schwarzen Rollkragenpullover, einer tieferen Stimmlage und dieser unverwechselbaren Powerpoint-Gestik auch akribisch zu imitieren suchte: Apple-Gründer Steve Jobs war seinerseits vor 15 Jahren mit einem defekten Prototypen des iPhones, der auch noch ständig abstürzte, vor die Weltöffentlichkeit getreten. Erst ein halbes Jahr später konnten die technischen Mängel behoben werden. Es war eine Gratwanderung. Bei einem Auffliegen des Theaters wären die Apple-Aktien wohl ins Bodenlose gefallen.
Die Magier des Erfolgs, unter denen sich selbstherrliche Genies, Hasardeure, Börsenzocker, geltungsgierige Hochstapler und risikogeile Unternehmer, aber durchaus auch vorsätzliche Betrüger finden, verbinden ganz bestimmte Faktoren, so der britische Psychologe und Spezialist für Psychopathologie Kevin Dutton im profil-Interview: "Sie sind meist fantastische Schauspieler und soziale Chamäleons, die sich brillant anpassen und die Fähigkeit besitzen, sich in andere hineinzuversetzen und jede mimische Regung ihres Gegenübers zu interpretieren."
Dennoch stellt sich die Frage, warum Leute wie Elizabeth Holmes, der inzwischen verstorbene Wallstreet-Großbetrüger Bernie Madoff, der sich mit der Ponzi-Methode (benannt nach dem Italoamerikaner Carlo Ponzi, der das Geld seiner Anleger in den 1940er-Jahren veruntreute) um Milliarden bereicherte und viele Kleinanleger vor die Trümmer ihrer Existenz stellte, oder der noch immer flüchtige Wirecard-Mann Jan Marsalek so lange ihre Betrugsmaschinerien am Rotieren halten konnten. Schließlich hatten sie ihre Millionen und Milliarden ja auch von einer internationalen Business-Elite und nicht nur von naiven Neuanlegern in den Schlund geworfen bekommen.
„Wer mit seinen Lügen oder Täuschungsmanövern einmal Erfolg hatte", so die deutsche Kriminalpsychologin Lydia Benecke, deren Buch "Betrüger, Hochstapler und Blender" im kommenden Frühjahr erscheinen wird, „der lügt immer weiter und wird dabei immer dreister. Damit kannst du alles werden-Sektenführer oder Milliardär." Und mit jeder Erfolgsbestätigung werden diese Felix Krulls des 21. Jahrhunderts (nach Thomas Manns Romanfragment über den Hochstapler Felix Krull) dazu motiviert, einfach immer so weiterzumachen. Der deutsche Psychiater Christian Peter Dogs hatte immer wieder Topmanager auf seiner Couch liegen, "die ganz und gar in ihrer Scheinwelt lebten und ihre eigene Wahrheit erschufen, befeuert von Schmeichlern und Claqueuren", wie er in der "Zeit" erzählt. Ihre Lügen empfinden diese Menschen gar nicht mehr als solche, im Zustand des fortschreitenden Realitätsverlusts ist die eigene Welt die einzige wahre.
Der noch immer international gesuchte Ex-Wirecard-Vorstand Jan Marsalek, der im Sommer 2020, ganz in schwarzes Prada gekleidet, in einer Cessna vom niederösterreichischen Flughafen Bad Vöslau vermutlich nach Belarus flüchtete und sich heute in Moskau aufhält, lebte in einem ebensolchen Scheinuniversum. Per SMS schrieb er einem Freund im Frühsommer 2020, am Tag, als der Milliardenbetrug des Finanzdienstleisters aufflog: "Was für ein Morgen. Don't ask." Und fügte ergänzend hinzu, dass es jetzt nur mehr zwei Möglichkeiten gebe: "Alles gut oder 'bad news' und totale Katastrophe." Die "bad news" setzten sich durch. Zumindest partiell, denn immerhin ist der Mann, für den Fasanenjagden in England und Luxusresorts in Mozambique zum alltäglichen Lifestyle gehörten, noch nicht hinter Gittern gelandet.
Oft rattert die eigene Persönlichkeitsentwicklung auch dem Erfolg hinterher. Ehemalige Mitarbeiter des "WeWork"-Gründers Adam Neumann, der 2019 als CEO seines eigenen Unternehmens zurücktreten musste und von der japanischen Übernahmebank mit einem goldenen Fallschirm von mehr als einer Milliarde Dollar abgefunden wurde, attestierten ihrem Ex-Boss in einer TV-Dokumentation "eine erratische Unternehmungsführung wie ein Dreijähriger in Kombination mit dem Gefühl, dass ihm nichts und niemand etwas anhaben kann". Auch Samuel Bankman-Fried, das 31-jährige Ex-Krypto-Wunderkind, musste in diesem Jahr nach dem Supercrash seiner Krypto-Börse FTX die eigene Verwundbarkeit zur Kenntnis nehmen: Einen Deal zur elektronischen Fußfessel (gegen eine Kaution von 236 Millionen Dollar) konnte er wieder vergessen, nachdem er versucht hatte, Zeugen im Anklageverfahren zu beeinflussen. Aus dem Elternhaus in Palo Alto ging es direkt in die Untersuchungshaft. Der hochbegabte Sohn zweier Stanford-Professoren, der bis zu 20 Milliarden Dollar am Tag verschob, war schon wieder an seiner Hybris gescheitert. Im November war er in sieben Punkten (noch nicht rechtskräftig) verurteilt worden, unter anderem wegen Betrugs und Geldwäsche. Die Verkündigung des Haftausmaßes wird im kommenden März erwartet, es drohen bis zu 120 Jahre. Sein Lebensziel, "einen sehr großen Eindruck auf diesem Planeten zu hinterlassen", hat Bankman-Frieds aber zweifellos erreicht.
Gar zur Vorlage einer eigenen Netflix-Serie ("Inventing Anna") hat es die Deutsch-Russin Anna Delvey (eigentlich Sorokin) gebracht, die mit dreister Lässigkeit die High Society von New York geschröpft und ihren Pomp auf Pump gelebt hatte. Schaden: vergleichsweise harmlose 300.000 Dollar. Nach Verbüßung einer Haftstrafe steht Delvey heute in New York unter Hausarrest. Über die Runden kommt sie mit dem Verkauf von Interviews und Buchdeals. "Eine Betrügerin nennen Sie mich?",fragte sie einen TV-Interviewer. "Nein, das bin ich sicher nicht. Okay, ich habe ein paar strafbare Handlungen begangen. Aber steckt nicht in jedem von uns ein bisschen Anna?"