Ein Essay von Franz Schuh: Öffentlichkeiten
Eine klassische Unterscheidung, eine „Schnittstelle“, eine einschneidende Zäsur charakterisiert die bürgerliche Öffentlichkeit, nämlich die systematische Trennung von Information, Bildung und Unterhaltung. Der Dreiklang der Sparten hat einen pragmatischen Sinn: Zum Glück kann und soll nicht jeder Meteorologe lustig sein. Der Unterhaltungswert von Wissenschaft spielt gewöhnlich keine Hauptrolle, auch wenn sie manche Wissenschafter zum Nahebringen oder auch nur zum öffentlichen Wertschätzen einlädt. Siehe die herrliche Fernsehsendung „Science Busters“.
Es kann ja nicht eine einzige Darstellungsweise geben, in der sich alle Gegenstände und Sachverhalte gleichermaßen veröffentlichen lassen. Das sei, sagte Hans Magnus Enzensberger, die Ideologie, die in der „Sprache des SPIEGEL“ stecke, nämlich über alles ein und dieselbe Ausdrucksweise zu verhängen. Die Einsprachigkeit, der undifferenzierte Ausdruck für alles fördert die Erkennbarkeit, die Marke, den Warencharakter der Publikation. Es beeinträchtigt die Differenziertheit, die Angemessenheit einer Schreibweise an die Sache.
Der lustige Meteorologe von großem Unterhaltungswert ist durch das Wetter nicht gerechtfertigt. Das Nützliche der Trennung zwischen Unterhaltung, Information und Bildung wird allerdings verdeckt und nicht selten auch zerstört durch idiosynkratische Isolierung der Sparten, zum Beispiel der Unterhaltung, die hauptsächlich gelten soll. Davon kommen die Öffentlichkeitsformen, die von Verblödungsmaschinen betrieben werden.
Typisch reagiert der Moderator Thomas Gottschalk auf die leiseste Kritik, indem er sich dem Ernstgenommenwerden entzieht: Es sei doch bloß Unterhaltung, was er mache. Dass ausgerechnet die Sparte Unterhaltung ihre scheinbare Unschuld dafür einsetzen kann, politische Propaganda zu vervollkommnen, hat Goebbels eindringlich unter Beweis gestellt. Davon geht die Welt nicht unter, sang Zarah Leander im Krieg. Tja, man glaubte damals, es wird einmal ein Wunder geschehen. Es geschah aber nicht. Was geschah, war kein Wunder. Und Jahrzehnte später hat das Fernsehen die Serie „Holocaust“ produziert, deren Macher stolz darauf waren, „Holocaust als Unterhaltung“ erfunden zu haben. Sie haben, aus meiner Sicht (die keineswegs generell geteilt wird), die Breitenwirkung des Themas auf Kosten seiner Banalisierung erreicht.
Davon geht die Welt nicht unter, sang Zarah Leander im Krieg. Tja, man glaubte damals, es wird einmal ein Wunder geschehen. Es geschah aber nicht. Was geschah, war kein Wunder.
In der Sparte Information kann man gut Desinformation betreiben, und wenn heute im Namen einer Partei ausgerufen wird, der 1. Mai sei von nun an „Tag der Bildung“, komme ich als Traditionalist um den Verdacht nicht herum, dass so eine Partei von Bildung keine Ahnung hat. Es gibt sinnvolle Trennungen, die aber ideologieanfällig sind. Manche davon sind „naturgemäß“ anfälliger als andere. Die Sparte „Bildung“ wiederum bildet ein hervorragendes Terrain für Verbildung, während nichts öder sein kann als das Treiben in der „Unterhaltung“.
Unter Ideologie verstehe ich – zugegeben versimpelt – „falsches Bewusstsein“; falsch aus Leidenschaft oder Interessiertheit, finanzieller oder politischer Natur: Sachverhalte werden gedreht und gewendet, entweder zynisch oder tatsächlich geglaubt, und zwar so, dass sie einer „Idee“ entsprechen, die ohne sachliche Grundlage auskommt und dennoch als die größte oder gar einzige Wahrheit erscheint. Mein Kollege als Philosophiestudent, Herbert Kickl, wirkt, und auch das ist das Schöne an ihm, ganz offen ideologisch. Seine FPÖ, sagt er öffentlich, sei „die einzige Partei, die für Frieden und Neutralität einsteht“, und seine „1.-Mai-Botschaft an die Kriegstreiber in den anderen Parteien“ lautet: „Unsere Söhne und unsere Töchter, die bekommt ihr nicht.“
Daraus spricht eine archaische Variante des Auftritts in der Öffentlichkeit: gar nicht der „Volkskanzler“, sondern der „Volkstribun“, dessen opernhaftem Aufstieg und Fall Richard Wagner mit seinem „Rienzi“ ein Denkmal gesetzt hat. Kickls Dramatisierung mit dem lauten Unterton, die Einzigen zu sein, die den Schutz der Söhne und Töchter garantieren (die „die Anderen“ auszuliefern bereit sind), könnte im Wettbewerb des Politkitsches eine Spur zu weit gegangen zu sein, um noch die gewünschte Propagandawirkung zu tun. Aber nicht nur, dass der Held unsere Söhne und Töchter beschützt, seine Partei sei auch „die einzige Partei für die arbeitenden Menschen, Familien, Bodenständige und Patrioten im Gegensatz zu den Systemparteien“.
Kickls Dramatisierung mit dem lauten Unterton, die Einzigen zu sein, die den Schutz der Söhne und Töchter garantieren (die „die Anderen“ auszuliefern bereit sind), könnte im Wettbewerb des Politkitsches eine Spur zu weit gegangen zu sein, um noch die gewünschte Propagandawirkung zu tun.
Ich werde dankbar darauf zurückkommen. Zunächst betone ich eine andere durchaus sachdienliche Dreiteilung von Öffentlichkeitsformen, die das zivilisierte Leben begünstigen und die in einem sehr komplexen Zusammenhang zueinander stehen: „intim“, „privat“, „öffentlich“. Wer sich reflexiv die Komplexität des Intimen antun will, der lese „Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität“ von Niklas Luhmann. Luhmanns Soziologendeutsch nehme man als eine „Codierung“, die man besser gut beherrscht, wenn man in der Soziologen-Branche eine Rolle spielen will. Man kann sich bei Luhmann aber auch an solchen Fragen erfreuen wie der Differenz von plaisir und amour. Sie sind ja weniger aus der Wissenschaft bekannt als aus unserer durch und durch codierten Lebenserfahrung.
Unter Codierung verstehe ich, dass sich im Laufe der Geschichte Ensembles von Verhaltensweisen und begrifflicher Regeln herausgebildet haben, die unsere eigenen
Gefühle so modellieren, dass wir sie dann tatsächlich erkennen, wenn wir glauben, sie zu haben. Das heißt, dass der Anteil an Spontaneität selbst in der dafür berühmten Gefühlswelt überschätzt wird: Vieles ist vorgeordnet, auch im trivialen Sinn: Der Kuss, den Menschen in ihrer Intimität einander verabreichen, stammt weniger von Klimt, sondern mehr aus Hollywood. Auch das Intimste kann kulturindustriell, also durch öffentlich eingeübte Strategien gefertigt sein.
Nach meiner Rechnung wird die heikle Intimität in den unterscheidbaren Öffentlichkeiten durch das Private ergänzt. Die Privatheit weist einerseits in Richtung Intimität, aus der „die Anderen“ ausgeschlossen sind. Andererseits hat die Privatsphäre eine Seite, zu der wenigstens Auserwählte eingeladen sind. Als privat definiere ich zum Beispiel das Berufsleben und auch Teile des Familienlebens, sofern es nach außen gewandt ist und Einblicke in die eigenen vier Wände gewährt. Taufen, Hochzeitsfeiern, Gesellenbrief, Entgegennahmen des Maturazeugnisses, Promotionsfeiern sind privat, und mit solchen Privatheiten ist durchaus auch die Öffentlichkeit ausstaffiert.
Ein auf den ersten Blick erkennbares Problem zeigt sich, wenn die rhetorisch fein säuberlich getrennten Öffentlichkeitsformen einander in die Quere kommen und jeweils Totalitätsansprüche stellen. Ich erinnere an die heute altbacken wirkende kulturkritische These, dass wir uns allesamt zu Tode amüsieren. „Wir“ amüsieren uns nicht mehr, privater Hass würgt die Hetz ab, und die Öffentlichkeit, in der man einst ein Befreiungspotenzial gerade noch vermuten durfte, ist giftig geworden – nicht ganz, aber in der Tendenz. Was einst als „Spaßgesellschaft“ hochgehalten oder niedergemacht wurde, ist an sich selbst verzweifelt und im Erleiden der Polykrisen größtenteils untergegangen.
Die Unterhaltung behält, wenn auch weniger glaubwürdig, ihre kompensatorische Brauchbarkeit. Sie trickst in der Bedeutung der Öffentlichkeiten Information und Bildung aus und versucht die gesamte Öffentlichkeit auf die eigenen unterhaltsamen Belange zu trimmen. Einen ähnlichen Überwältigungsvorgang kann man – ebenso aufgrund des vorherrschenden Unterhaltungsbedürfnisses – auch der Intimität nachsagen. Das veröffentlichte Intime lässt sich weitaus besser verkaufen als die für viele abschreckenden Bildungsinhalte.
Öffentlichkeit definierte Richard Sennett als den Ort, Fremde kennenzulernen, soziologisch gesprochen als den Ort „nicht personaler Beziehungen“. Mit deren Verlust verliert sich auch die Geltung des nicht personalen, des politischen Handelns. Die Bedeutung des Nichtpersonalen sei, so Sennet, durch „eine Tyrannei der Intimität“ verschwunden, bei der der Sinn fürs Politische hinter Intimität, hinter Persönlichem und Psychologischem verschwindet.
Öffentlichkeit befindet sich im Zustand des Verfalls. Der Verfall der klassischen, bürgerlichen Öffentlichkeit wird durch die digitale Revolte beschleunigt, unter anderem durch die Uminterpretation von Meinungsfreiheit. Die neue Freiheit zelebriert eine Öffentlichkeit auf der Grundlage „sozialer Medien“, in denen ein jeder sagen kann, was er nur will – und das ist gewiss Freiheit, allerdings nur formale Freiheit.
Formale Freiheit kann die Unterscheidung unterschlagen von Beliebigem, von irgendeinem Gewäsch, von entlarvendem Ressentiment einerseits und andererseits von Öffentlichkeitswürdigem. Da ist nichts mehr zu machen, denn der freie Mensch will sich doch von niemandem sagen lassen, was denn öffentlichkeitswürdig ist und was nicht, und wenn es gegen’s Geschäft geht, dann schon gar nicht. Was bleibt, ist nicht mehr die intakte Öffentlichkeit (eine Utopie, an die man sich vielleicht erinnern kann), sondern Einzelleistungen im Bereich von „Kunst & Kultur“.
Bevor die Idee Platz gegriffen hat, man könne Information jenseits aller Tatsachen simulieren und als wahr durchsetzen, hatte der Journalismus (als Hersteller von Öffentlichkeit) unter anderem einen historischen Hintergrund. Die Idee der lügenhaften Wahrheitssimulation schlug durch Trump skurrile Volten in die Öffentlichkeit. Für mich ist der schönste Beweis dafür keine der nachweisbaren Lügen, von denen eine sogar zugegeben und zugleich gerechtfertigt wurde, und zwar ungefähr so: Diese Lüge – die über die Einwanderer – sei besser, weitaus höher stehend als die Wahrheit. Diese Lüge leite nämlich die Menschen zum Verstehen dazu an, wie es mit ihnen und mit der Welt in Wahrheit stünde. „Haitianer essen Hunde“, lautete die Lüge, die sich schnell und massenhaft verbreitete. Mit der Lüge die Wahrheit sagen – so lautet das neue Prinzip der Information auf der Erfolgsstraße.
Bevor die Idee Platz gegriffen hat, man könne Information jenseits aller Tatsachen simulieren und als wahr durchsetzen, hatte der Journalismus (als Hersteller von Öffentlichkeit) unter anderem einen historischen Hintergrund.
Meine Lieblingslüge aus dem Arsenal zur Entkräftung der Wahrheit ist Trumps Behauptung, bei seiner Inauguration seien viel mehr Menschen gewesen als bei der Obamas. Das ist deshalb ein hervorragender Beleg für die Perversion von Öffentlichkeit, weil es hier die Lüge mit dem Offensichtlichen aufnimmt: Die Fotos dokumentieren sine ira et studio, dass bei der Inauguration Obamas mehr Menschen waren als bei der Trumps.
Das Historische am Journalismus offenbart sich darin, dass das journalistische Ideal seiner zentralen Verfahren nach vom Empirismus herrührt: Es sind die Sinneserfahrungen – das, was man gehört und gesehen hat, auch das, was man begriffen hat, vor allem durch das Berühren oder durch andere Handgreiflichkeiten. Die Journalistin und der Journalist in diesem Sinn sind das Auge und Ohr der Öffentlichkeit. Sie sind die Todfeinde derer, die ausschließlich für Geld oder zum Zweck bloßer Propaganda sehen oder gesehen, gehört und gezeigt werden wollen.
Eine der Utopien der Öffentlichkeit heißt „Licht in die Sache bringen“. Die Etablierung von Öffentlichkeit hat mit Offenlegen (auch mit dem Sichzeigen) zu tun, sei es von Geheimgehaltenem oder auch von noch Unerforschtem: die Neuigkeit. Die Öffentlichkeit ist ein Ort der Orientierung, daher auch ideal für die Desorientierung. Die zeitgenössische Gesellschaft lebt von und leidet unter solchen Paradoxien: Alles Gute bietet sich auch zum Missbrauch an.
Auf den Plätzen und auf der Straße kann Öffentlichkeit hergestellt werden, gewünschte für Feste, oft unerwünschte für Protestkundgebungen. Es sind Orte, an denen man leicht Einblick bekommt – Orte, die in der analogen Welt geeignet sind für das Sichzeigen als zusammengehörige, begehrliche Masse, sei es von Fußballvereinen oder politischen Parteien. Ohne politischen Hintergedanken kann ich auf Herbert Kickl zurückkommen, darauf, wie er Orte – spezifisch einen Ort: das Bierzelt – intimisierend zu seiner spezifischen Öffentlichkeit umfunktioniert. „Bierzelt“, soll der Parteiführer gesagt haben, „das ist Heimat, das ist Tradition, das ist gelebtes Brauchtum.“
Franz Schuh ist Autor, Essayist und einer der eminenten Intellektuellen des Landes. Zuletzt veröffentlichte er den Band „Ein Mann ohne Beschwerden“, im August erscheint bei Zsolnay „Steckt den Sand nicht in den Kopf“.