Gesellschaft

Frauen im Sexstreik: Die große Verweigerung

Frankreichs gefeierte Porno-Philosophin Ovidie erregt mit einem Abstinenz-Pamphlet Aufsehen. In Südkorea formieren sich junge Frauen zu einer sexnegativen Bewegung. Was steckt hinter dem globalen Libidoverlust?

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Der Ekel kam schleichend, bis er sie "ganz überfiel". Es fühlte sich an wie "eine psychische Erschöpfung, ein Burn-out, eine Unmöglichkeit, einen Extrakilometer auf diesem langen Weg der Sinnlosigkeit zu gehen."Zu viele Gedanken an "unbequeme Positionen, Blasenentzündungen, an all den Geschlechtsverkehr, bei dem ich vorher, währenddessen, nachher Schmerzen hatte, an all die Opfer, die ich gebracht habe, um auf dem sexuellen Markt zu bestehen "Mit diesen Worten leitet Ovidie, 42, ehemalige Pornodarstellerin, Filmemacherin und Autorin, die mit feministischen Manifesten und Filmdokumentationen in Frankreich seit Jahren Teil der etablierten Kulturschickeria ist, ihr Buch "La chair est triste hélas" ("Wie traurig ist, ach, das Fleisch")ein. Thema des Bändchens, das seit letzter Woche in "Le Monde" und anderen Leitmedien, im nationalen Fernsehen und in den sozialen Medien heiß diskutiert wird: Ovidies inzwischen seit vier Jahren andauernder "Sexstreik". Ihr Werk will sie jedoch weder als "Manifest" noch als "feministische Lektion" verstanden wissen, sondern als "Selbstanalyse". Die Überschrift ihres Prologs lautet: "Ich kann nicht mehr." In einem Interview mit der Tageszeitung "Libération" erklärt Ovidie, die mit bürgerlichem Namen Eloïse Delsart heißt, den Hintergrund ihres Sexstreiks: "Ich bin weder Mitglied einer Sekte, noch betrachte ich meine Entscheidung als Herausforderung. Die Heterosexualität hat für mich ihren Sinn verloren. Ich habe nicht nur die Sexualität, sondern ein ganzes System verlassen. Viele unserer sozialen Interaktionen, egal ob in der Arbeit oder beim Einkaufen in der Bäckerei, basieren auf dem Prinzip der Verführung und sexuellen Anziehungskraft. Seit ich mich davon verabschiedet habe, haben sich meine Beziehungen zu Männern, aber auch zu Frauen entscheidend verändert."

Frauen seien in ihrer Sozialisierung noch immer darauf getrimmt, "einander auszustechen", Plattformen wie Instagram haben diesen Wettbewerbsstress noch verstärkt: "Wir wollen alle die Oberschlumpfine unter den Schlümpfen sein, wir sind ständig im Vergleich-Erfolg, Schönheit. Wir können beides bei anderen Frauen nicht genießen, nicht anerkennen, denn deren Erfolg hat bei uns eine permanente Unsicherheit zur Folge. Dass ich die Maschine gestoppt habe, ist eine Befreiung, auch in meiner Beziehung zu Frauen."

Feminismus und Pornografie

Dass Ovidies Exodus aus der "sexuellen Marktwirtschaft" ein derartiges Medienecho zur Folge hatte, erklärt sich auch aus ihrer Biografie: Die frühere Philosophiestudentin aus gutbürgerlichem Haus, damals mit einem Lehrer verheiratet, "militante Feministin und Aktivistin", entschloss sich um die Jahrtausendwende, in Pornofilmen aufzutreten. Ihr "sexpositives" Motiv skizzierte sie damals im britischen "Guardian": "Ich begann plötzlich zu begreifen, dass Feminismus und Pornografie durchaus miteinander verwoben werden können. Ich will Frauen in diesen Filmen zeigen, die nicht unterwürfig sind, sondern eine charismatische Macht besitzen und ihre Sexualität genauso genießen wie Männer. Es geht mir darum, Gleichberechtigung beim sexuellen Begehren zu zeigen."Unter dem zündenden Schlagwort "Le chic porno" (Porno-Schick) trat Ovidie, die neben ihren Filmauftritten im Jahr 2004 ihren literarischen Erstling "Porno Manifesto" publizierte und auch hinter die Kamera wechselte, gemeinsam mit der ehemaligen Stripperin Virginie Despentes (deren später verfilmtes Romandebüt trägt den schlichten Titel "Fick mich")und der Kunstkritikerin Catherine Millet ("Das sexuelle Leben der Catherine M.")eine internationale Welle an Filmen und Literatur los, die alle das gleiche Leitmotiv verfolgten: die Barrieren zwischen Hardcore-Pornografie und erotischer Kunst unter dem feministischen Banner sexueller Autonomie niederzureißen und das Patriarchat so mit dessen eigenen Waffen zu schlagen.

Konsequenz von #MeToo

Inzwischen hat sich die Welt gedreht. Virginie Despentes, die in einem profil-Interview damals erklärt hatte, als "Peepshow-Stripperin besser behandelt worden zu sein als als Supermarktkassiererin", avancierte mit ihrer "Vernon Subutex"-Trilogie, die den freien Fall eines Modernisierungsverlierers in die Obdachlosigkeit schildert, zur internationalen Starautorin. Millet publizierte mit "Eifersucht" die Leiden einer betrogenen Ehefrau und damit ein Stück doch wieder bourgeoiser autobiografischer Geständnisliteratur. Ovidie, die in ihren Filmen schon mal einen Mann in einem Zierfischaquarium versenkt hatte, setzte sich an den sexuellen Spielfeldrand. Ausschlaggebend sei dafür auch die #Me-Too-Bewegung gewesen, die seit 2017 über den Globus rollt und mit der Verhaftung des gewalttätigen Filmproduzenten Harvey Weinstein ihren ersten Triumph feierte. In einem TV-Interview erzählt Ovidie in der ihr eigenen Radikalität: "Die Flut an sexuellen Gewalttaten, die damals ans Licht trat, stellte mir die Frage: Wie kann ich all diese Henker auch nur irgendwie begehren?" Abgesehen davon sei sie überzeugt, "dass viel mehr Paare keinen Sex haben, als sie zuzugeben bereit sind".Das Phänomen des Libido-Burnouts tritt jedoch nicht nur gesellschaftspolitisch motiviert auf, sondern erscheint bisweilen auch recht alltäglich, wie Studien über Sexualfrequenz und-verhalten dokumentieren. "The Sex Recession" titelte das renommierte US-Magazin "Atlantic Monthly" knapp vor Beginn der Pandemie: Die jährliche Sex-Frequenz der Durchschnittsamerikanerinnen und-amerikaner war innerhalb von 14 Jahren von 64 auf 52 Mal gefallen. Besonders auffallend sei der Libidoverlust unter jungen Erwachsenen.

OVIDIE

Die französische Feministin und ehemalige Pornodarstellerin erregt die Nation mit ihrem Sexstreik.
 

Globales Phänomen

Wie sehr sich die Wisch-und-weg-Datingkultur, Beziehungs-ADHS und der frühe Zugriff auf pornografisches Material auf die Generation Tinder auswirken, wurde in Österreich noch nicht erforscht. "Die Sexualität hat viel von ihrem Abenteuercharakter verloren", meint Beate Wimmer-Puchinger, lange Gesundheitsbeauftragte für Frauen der Stadt Wien, "und sie ist sehr von Fragen wie 'Bin ich gut genug?' oder 'Kann mein Körper genügen?' bestimmt." Eine Beobachtung, die auch die Grazer Ärztin und Sexualmedizinerin Doris Köpp in ihrem Praxisalltag macht: Nicht nur Mädchen, die an perfektionistischen Rollenbildern verzweifeln, zählen zu ihrer Klientel, sondern auch junge Männer und Burschen, die an Erektionsstörungen leiden, weil sie "von der Angst, nicht zu genügen", beherrscht werden. Der frühe Zugang zu Pornos und der damit verbundene Stress, den dort verbreiteten Anforderungen nicht zu genügen, gilt unter Forschern als die Hauptursache für die schwindende sexuelle Libido unter jungen Erwachsenen.

SELBSTANALYSE

"Wie traurig ist, ach, das Fleisch", lautet die Übersetzung des französischen Titels. In dem Band begründet Ovidie ihren Sex-Exodus.
 

Radikale Männerverweigerung

Wie radikal sich das misogyne Klima einer Gesellschaft auf das Sexual-und Paarungsverhalten einer jungen Generation von Frauen auswirken kann, zeigt sich am Beispiel von Südkorea, der Nation mit der niedrigsten Geburtenrate weltweit (0,78 Kinder pro Frau) und der größten Gehaltsschere (31,1 Prozent) aller OECD-Länder. Fälle von häuslicher Gewalt und sogenannter "Spycam"-Verbrechen, also durch heimliche Kameras abgefilmte Frauen in Toiletten oder Umkleidekabinen (die oft als Rache-Pornos online gestellt werden), gehören, noch immer nachlässig verfolgt, zum Alltag dieser schwer patriarchalen Gesellschaft. In Südkorea stellen Ehe, Familie und die Pflege der Alten für Frauen keine Option, sondern eine Verpflichtung dar. Bilder von sogenannten Hochzeitshallen, in denen Brautpaare nach dem Fließbandsystem abgefertigt werden, sind landestypisch. Eine Frauenbewegung, die unter dem Kürzel 4B, wobei "bi" auf Koreanisch "Nein" heißt und die Zahl Vier sich auf ein Nein zu Ehe, Kindern, heterosexuellem Sex und Beziehungen bezieht, kämpft nicht mehr gegen das Patriarchat, sondern "lässt es gänzlich hinter sich", so eine Reporterin des "New York Magazine", die lange in die Welt der 4B-Frauen eingetaucht war. Erkennungsmerkmale der oft heimlichen Mitglieder sind streichholzkurz geschnittene Haare und kein Make-up, was insofern auffällig ist, als dass koreanische Frauen seit ihrer Adoleszenz darauf getrimmt sind, nur geschminkt und mit langem Haar auf dem Heiratsmarkt bestehen zu können. Die 24-jährige YouTuberin Yoon Ji-hye zeigt stolz ihr altes, dick geschminktes Selbst auf dem Smartphone und freut sich, "aus dem Korsett geflüchtet zu sein". Wie viele 4B-Mitglieder in dem 52-Millionen-Einwohner-Land tatsächlich subversive Rebellion betreiben, bleibt im Dunkeln. Geschätzt wird die Zahl auf 50.000. "Mir fehlt nichts, ich fühle mich befreit", erklärt Yoon Ji-hye. "Es gibt außerdem andere Wege, um sich Vergnügen zu bereiten."
 

Angelika   Hager

Angelika Hager

leitet das Gesellschafts-Ressort