Ausgespielt: Fußballer Toni Kroos

Fußball WM 2018: Die Grätschenfrage

Ein jäher Favoritentod, eine tor- und bodenlose Zumutung und der prickelnde Charme der Underdogs

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Am 27. Juni 2018 um 17:58 Uhr mitteleuropäischer Sommerzeit blieb die Welt für einen kurzen, ungläubigen Moment stehen. Sie hatte in den vergangenen Jahren mit allen möglichen Unwägbarkeiten fertigwerden müssen: Dieselaffären, Handelskriege, Datenskandale, ­Klimakatastrophen – aber nicht damit, dass Deutschland jemals bei einer Fußball-Weltmeisterschaft in der Vor­runde ausscheiden würde, noch dazu als Gruppenletzter! Um der sporthistorischen Dimension dieses Ereignisses gerecht zu werden, bemühten traumatisierte Fans in den sozialen ­Medien eine brachiale Analogie: Die Stunde Null – 1945/2018. „Heute sind wir alle sehr traurig“, erklärte Bundeskanzlerin Angela Merkel eine Spur prosaischer, und nicht einmal CSU-Quertreiber Horst Seehofer fühlte sich bemüßigt, eine gegenteilige Position zu beziehen.

Uninspiriert, apathisch, plan- und mutlos

Die Erklärung für den jähen Favoritentod in Russland ist recht einfach: Die deutsche Nationalmannschaft hat ­desaströsen Fußball geboten – uninspiriert, apathisch, plan- und mutlos. Torwart Manuel Neuer formulierte es noch drastischer: „einfach erbärmlich“. Selbst wenn man die Gruppenphase mit Ach und Krach überstanden hätte, wäre man spätestens eine Runde später abgeschmiert: „Jeder hätte gern gegen uns gespielt.“ Mit seiner Generalabrechnung stellte sich Neuer an die Spitze einer bemerkenswert selbstkritischen Gruppendynamik, der auch Bundestrainer ­Joachim Löw wenig Tröstliches entgegenzusetzen wusste: „Wir haben es nicht verdient weiterzukommen.“

Jahrzehntelang verbreitete die deutsche Nationalmannschaft mit ihrem geistlosen Blut-, Schweiß- und Tränen-Fußball Angst und Schrecken. 2006 übernahm Löw das Kommando und implantierte seinen Zöglingen eine ganz neue DNA: Er ließ sie nicht rumpeln und rempeln, grätschen und abstauben – er ließ sie spielen. Sie dankten es ihm mit einer eindrücklichen Leistungsbilanz: Unter Löw erreichte das ­Nationalteam bei jedem großen Turnier seit 2008 mindestens das Halbfinale. 2014 holte man schließlich die Weltmeisterschaft – die vierte insgesamt für Deutschland, aber die allererste, die selbst von erbitterten Piefke-Hassern als ästhetisch korrekt gewürdigt wurde.

So sollte es weitergehen, doch der Auftritt der DFB-Auswahl in Russland geriet zum fortgesetzten Debakel. Vier Jahre nachdem man Brasilien im WM-Halbfinale mit 7:1 ­erniedrigt hatte, wurde man selbst Opfer einer astreinen Demütigung: 0:2 gegen Südkorea, deren Stürmern schon mal nachgesagt wird, dass sie nicht einmal ein leeres Tor treffen (was ihnen in der 97. Minute dann aber tatsächlich gelang, weil Manuel Neuer spontan beschlossen hatte, die teameigene Offensive vor dem gegnerischen Strafraum zu verstärken). Schon im ersten Gruppenspiel hatte sich Deutschland von Mexiko läppisch auskontern lassen; im zweiten (gegen Schweden) brachte nur ein Kunstschuss von Toni Kroos in der letzten Minute der Nachspielzeit die rettende Wendung.

Nun schlägt die Stunde der Altgardisten und Revanchisten – Lothar Matthäus, Michael Ballack, Stefan Effenberg, Mario Basler und wie sie alle heißen. Die wohlfeilen Salven aus dem sicheren Expertenhinterhalt ließen nicht lange auf sich warten. Führungsfiguren seien jetzt gefordert, die, wie man selbst seinerzeit, die guten alten, unter Löw so schmählich verkannten deutschen Tugenden auf den Platz brächten: Kampfbereitschaft, Durchhaltevermögen, Sieger­mentalität. „Die Mannschaft war keine Einheit. Sie hat keine Leidenschaft gezeigt. Ihr fehlten Typen mit Ecken und Kanten“, gab Lothar Matthäus in seinem Leibblatt „Bild“ zu Protokoll. Für die britische „Sun“ resümierte er mit bräsiger Präpotenz: „Keine Anführer, keine Leidenschaft, keine Einstellung und die falsche Mannschaft.“ Deutschlands ruhmloses WM-Aus dürfte den selbstherrlichen Fußball-Ruheständlern bei ­allem vorgeschobenen Entsetzen auch tiefe Genugtuung bereitet haben. Man wollte ja nicht auf sie hören. Ab sofort muss wieder gegrätscht werden, keine Frage!

Spektakelfußball wird mehr und mehr zur Mangelware

Allen teutonischen Schwanengesängen zum Trotz ist die WM noch nicht ganz zu Ende. Doch auch einige der routinemäßigen Restfavoriten quälten sich überraschend kraftlos durch die Vorrunde. Argentinien, Spanien und Portugal hätte es mit ein klein wenig Pech genauso eiskalt erwischen können wie die Deutschen. Frankreich, im Vorfeld für seinen vor juveniler Strahlkraft strotzenden Kader gepriesen, irritierte mit einem Minimalismus, der an mutwillige Selbstbeschädigung grenzte. Brasilien ließ gegen Ende des dritten Gruppenspiels immerhin etwas von der allseits erhofften „jogo bonito“-Magie aufblitzen – aber auch nur, weil Ser­bien nach einem 2:0-Rückstand nicht einmal mehr den Anschein von Gegenwehr zu erwecken versuchte. England wollte partout nicht Gruppenerster werden, um sich im Hinblick auf das Viertel- und Halbfinale (!) die Vorzüge vermeintlich leichterer Gegner und geringerer Reisestrapazen zu sichern. Belgien war nobel – oder dumm – genug, diesen Hochmut mit einem 1:0 zu belohnen. Immerhin blieb dem Publikum ein 0:0 jener unterirdischen Güteklasse erspart, mit dem Frankreich und Dänemark zwei Tage zuvor den Tiefpunkt des Turniers markiert hatten.

Irrtümlicherweise werden Welt- und Europameisterschaften gern als Indikatoren für aktuelle Fußballtrends bemüht. In Wahrheit sind sie dafür nur mäßig geeignet. Die entscheidenden Entwicklungsakzente werden im Vereinsfußball gesetzt, wo die Zeichen schon länger auf konsequent exekutierten Offensivstrategien stehen. Bei der WM 2018 – wie schon bei der EM 2016 – ist davon ernüchternd wenig zu sehen, was vor allem daran liegt, dass die sogenannten „kleinen“ Fußballnationen, die naturgemäß über kein unerschöpfliches Reservoir von Talenten und Stars verfügen, den Rückstand gegenüber den „großen“ durch konsequent exekutierte Defensivstrategien wettmachen. Das durchschnittliche Niveau ist damit zwar erkennbar gestiegen, wenn auch oft um den Preis eines empfindlich verminderten Unterhaltungswerts. Spektakelfußball wird mehr und mehr zur Mangelware, denn jedes mutmaßlich noch so unterklassige Nationalteam ist mittlerweile professionell genug geschult, um die modernen Spielarten von Dominanz – Ballbesitz, Pressing, Kombinations- und Passspiel, taktische Flexibilität – souverän zu neutralisieren.

Daraus speist sich seit jeher der prickelnde (manchmal durchaus auch lähmende) Charme der Underdogs. In der kollektiven Sympathie für die Namen- und Chancenlosen schwingt immer ein gerüttelt Maß an Schadenfreude ­gegenüber den großspurigen Eliten mit. Man muss sie einfach mögen, die Isländer und die Senegalesen, die Iraner und die Marokkaner, die Tunesier und die Ägypter. Leider traten sie alle nach der Gruppenphase die Heimreise an. Die Russen waren zwar schon zu Hause – und durften trotzdem noch bleiben, bis auf Weiteres zumindest. (Den Begriff ­„Underdogs“ würde sich Wladimir Putin in diesem Zusammenhang wohl ohnehin entschieden verbitten.)

Der deutsche Altkanzler Gerhard Schröder verfolgte das Abschiedsspiel seiner Mannschaft übrigens erste Reihe fußfrei von der Ehrentribüne aus. Er klebte schockstarr im VIP-Sessel. Neben ihm stand seine Frau Soyeon Kim und reckte euphorisch beide Daumen in die Höhe. Sie stammt aus Südkorea.

Sven   Gächter

Sven Gächter