Georg Uecker über die "Lindenstraße": „Wir haben alles getan, um Idyllen zu brechen“
profil: Wie sind Sie zur „Lindenstraße“ gekommen? Georg Uecker: Wie die Jungfrau zum Kind. Ich habe in Köln Theater gespielt, Horst D. Scheel, der Casting-Direktor der „Lindenstraße“, hat mich nach einer Vorstellung angesprochen, man suche Leute für eine neue Serie. Es gab damals ja nur drei öffentlich-rechtliche TV-Sender, das junge RTL sendete aus einer Garage.
profil: War von Anfang an klar, dass sie den homosexuellen Carsten Flöter verkörpern werden? Uecker: Im Nachhinein denken viele: Natürlich, der Uecker ist schwul, deshalb spielt er diese Rolle. Aber das habe ich damals überhaupt nicht mitbedacht. Eigentlich hätte ich auch Frank Dressler, einen Ärztesohn, der in die Drogenszene abrutscht, spielen können, der ist extrovertiert und hätte mir viel mehr entsprochen als der schüchterne Carsten. Aber ich wollte lieber eine Figur spielen, die mir fremder war. Es gab damals keine schwulen Serienfiguren. Ich hatte also auch keine Vorbilder.
profil: Carsten wurde als idealer Schwiegersohn eingeführt, bevor er sich nach einem Jahr outete. Uecker: Wir mussten diesen Umweg gehen, die bürgerlichen Mütter sollten denken: Der wär' doch was für meine Tochter. Wir wollten die Zuschauer abholen, aber auch die Entscheidungsträger im Sender.
profil: Hatte Carsten tatsächlich den ersten schwulen Kuss im deutschen Fernsehen? Uecker: Es war der erste schwule Kuss in einer Familienserie. In Nischenfilmen, die spätabends oder nachts liefen, wurde schon früher zur Sache gegangen. Aber bei uns stand kein Warnschild: Achtung, schwule Kunst. Wir konnten direkt in die Wohnzimmer kommen, auch zu Menschen, die sich mit diesem Thema nie freiwillig auseinander gesetzt hätten. Mutter Beimer schlug ein Ei auf, und dann küssten sich zwei Männer.
profil: Es kam bereits 1987 zu einem homosexuellen Kuss, da gab es kaum Aufregung. 1990 ging die Hölle los. Warum? Uecker: Die Haltung der Zuschauer war bigott. Sie haben zwar akzeptiert, dass es ein schwules Paar gibt, aber sie wollten keine Körperlichkeit zwischen Männern sehen. Der erstes Kuss war eine einmalige Geschichte. 1990 gab es eine Fortsetzung: Carsten küsste seinen Freund am Ende der Folge, die Woche darauf landeten die beiden im Bett. Natürlich sah man keinen Sex, aber die postkoitale Szene. Im Kopf läuft ein Film ab. Einige Leute meinen retrospektiv, sie hätten eine Sexszene gesehen.
profil: Welche Reaktionen kamen? Uecker: Das ganze Repertoire dieser Hass-Sprache, die man heute oft erlebt, von „man solle mich auf den Eiern aufhängen oder kastrieren” bis zu „Der gehört vergast”. Einer schickte ein Foto von einer nackten Frau mit einem Pfeil auf die Vulva, darauf stand: „Hier rein.” Damals waren Shitstorms ja viel aufwändiger. Man musste Briefe zur Post bringen. Es gab Leute, die schrieben auf das Kuvert „Lindenstraße, München“. Aber sogar diese Briefe kamen an, da muss man der deutschen Post ein Kompliment machen.
profil: Sie wurden damals unter Personenschutz gestellt. Uecker: Das ging über mehrere Monate. Es gab Briefbombendrohungen gegen den Sender. Ich war für die Leute eine ideale Projektionsfläche, weil ich selber schwul bin. Aber auch aus der Gay-Community war der Druck enorm. Viele schwule Männer meinten, Carsten solle wilder und frecher sein. Einige fanden: So bin ich doch gar nicht! Da konnte ich nur erwidern: Ich doch auch nicht! Es gab mit meiner Rolle eine einzige schwule Figur im deutschen Vorabendfernsehen, klar, dass die nicht alle Facetten und Erwartungen abdecken konnte.
profil: Zu Spitzenzeiten hatten die „Lindenstraße“ fantastische Quoten: Rund 60 Mio. Leute lebten in der BRD, mitunter saßen 15 Mio. vor den Bildschirmen. Die Kritiken waren anfangs trotzdem schlecht. Warum? Uecker: Sie waren vernichtend. Es war ein Experiment, uns fehlte das Know-how. Wir hatten Ton-Leute, die von der Sportschau kamen. Unsere Ästhetik unterlief Sehgewohnheiten. Dieser Nicht-Eskapismus: Die Wohnungen sehen genauso normal bis schäbig aus wie bei den Zuschauern. Die Akteure waren nicht so perfekt wie Pamela Anderson in „Baywatch“. Familien aus Griechenland unterhielten sich in ihrer Muttersprache miteinander, und das wurde untertitelt. Damals gab es kaum Filme in Originalsprache. Wir haben alles getan, um Idyllen zu brechen. Das Traumpaar Hans und Helga trennte sich. Es gab einen Schauspieler mit einer spastischen Lähmung.
profil: Die „Lindenstraße“ sprengte zudem die Grenzen zwischen Fiktion und Realität. Uecker: Benny Beimer machte eine Umweltschutzaktion, die gleichzeitig in echt stattfand. Es gab eine Diskussion über Ausländerwahlrecht, dann hingen in der Serie, aber auch an vielen Orten in Deutschland, Plakate auf denen „Wählt Gung“, das war eine Figur aus der Serie, stand. Gleichzeitig gab es diese Ironie, dass man nur eine TV-Show ist. Etwa, als Else Klings Fernseher kaputt war, und sie alle nervte, dass sie ihre Lieblingsserie verpassen würde. Als sie dann bei den Nachbarn schaute, sah man den Abspann der „Lindenstraße“. Oder: Mutter Beimer saß in der Arztpraxis und hielt eine Zeitung hoch, auf der die Schauspielerin Marie–Luise Marjan, die ja Helga Beimer spielt, zu sehen war.
profil: Sollte dieser Meta-Humor auch Intellektuelle ansprechen? Uecker: Klar, solche Szenen mochte ich sehr. Aber wir wollten auch die Gesellschaft herausfordern. Carsten Flöter feierte 1997 eine Verpartnerung. Vier Jahre bevor es die registrierte Partnerschaft in Deutschland gab, tauschte er mit seinem Freund vor einem Pfarrer Ringe aus. Wir haben Entwicklungen vorweggenommen, und Leute verwirrt, die meinten, das habe doch keine rechtliche Relevanz.
profil: Auch der Umgang mit HIV war ungewöhnlich: Das erste Opfer war nicht schwul. Uecker: Auf dem Höhepunkt der AIDS-Hysterie war dem „Lindenstraße“-Erfinder Hans W. Geißendörfer klar, wir müssen diese Stigmatisierung hinterfragen. Deshalb ist Benno gestorben, ein freundlicher Hetero. Das hat starke Reaktionen ausgelöst. Carsten hat später ein HIV-positives Kind adoptiert, dafür gab es ein reales Vorbild. Ich war in einer Talkshow eingeladen gewesen, da hatte ein schwules Paar davon erzählt. Diese Kinder waren nicht so beliebt bei heterosexuellen Paaren, deshalb gab man sie auch an Homosexuelle, die zwar nicht als Paar, aber als Einzelperson das Pflegerecht bekamen. Ein unfassbarer Zynismus.
profil: Wie funktionierte es, zeitnah auf Dinge zu reagieren? Uecker: Kurz vor der Ausstrahlung wurde neu gedreht. Szenen, die es bereits gab, wurden ausgetauscht. Da musste man immer höllisch aufpassen mit den Anschlüssen. Deshalb hatten wir auch in unseren Verträgen stehen, dass wir unsere Haare nicht verändern dürfen. Notfalls gab es einen Trick. Wenn jemand in der Serie aus dem Bad kommt, und seine Haare abtrocknet, dann weiß man: Neue Frisur, die man vertuschen möchte.
profil: Der junge Schlingensief soll ja auch bei der „Lindenstraße“ gearbeitet haben? Uecker: Er war rund ein Jahr lang Aufnahmeleiter. Geißendörfer fand ihn einen guten Typen. Wenn Schlingensief betrunken war, meinte er immer: „Ich bin zwar nicht schwul, aber, wenn ich es einmal werde, bist du der Erste, dem ich Bescheid gebe“. Ich glaube, er war froh, dass er ein Büro hatte, um eigene Projekte voranzutreiben.
profil: Den Filmemacher Rainer Werner Fassbinder haben Sie auch in jungen Jahren kennengelernt. Uecker: Ich ging noch zur Schule, als ich ihn in einer Bar traf. Alle hatten Angst vor ihm, er manipulierte gern. Wir sprachen über Genets Roman „Querelle“, was ja tatsächlich sein letzten Film werden sollte. Ich, der engagierte Jungschwule, er, verkokst ohne Ende. Er konnte ziemlich direkt sein, meinte, ich solle mit einem Mann, der an der Bar saß, doch einfach vögeln. In der Schwulenszene hieß Fassbinder „die Mary“. Alle in seinem Team hatten Frauennamen, auch, wenn sie stramme Heteros wie der Kameramann Michael Ballhaus waren – der wurde Sonja genannt.
profil: Am 29. März läuft die letzte Folge „Lindenstraße“. Blicken Sie mit Nostalgie zurück? Uecker: Ich bin nicht der nostalgische Typ, aber eine gewisse Melancholie ist da, weil es eine besondere Form der Zusammenarbeit war, die es so nicht mehr geben wird. Dieser Austausch zwischen den Autorenteams und den Akteuren, wir hatten Ensemble-Versammlungen wie am Theater und einen eigenen Kindergarten. Mittlerweile wird alles viel schneller produziert. Wir waren ein gallisches Dorf.
Interview: Karin Cerny
Georg Uecker, 57,
spielte von Beginn an den schwulen Arzt Carsten Flöter in der „Lindenstraße“, und war später in zahlreichen TV-Comedy-Formaten wie „Schillerstraße“ oder „Genial daneben“ aktiv. Er engagierte sich politisch und sozial, setzte sich im Kampf gegen Rassismus und AIDS-Diskriminierung ein. 2018 erschien seine Autobiografie „Ich mach' dann mal weiter!“, in der auch von seiner Krebs- und HIV-Diagnose erzählt.
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