Jahresausgabe

Gift-Szene: Was war im Jahr 2022 so alles „toxisch“?

Männer, Frauen, Beziehungen. Weltmeisterschaften, Sponsorings, Büros. Königshäuser, Dirigenten, Teenager. Über eine Begriffs-Inflation mit giftigem Effekt – und psychohygienischer Wirkung.

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„Wir leben in einem Zeitalter aufgeregter Privat-Zensoren”, erklärte TV-Ikone Harald Schmidt in einem profil-Interview im September: „Manchen von denen würde ich einfach gerne auf die Schulter klopfen und sie fragen: Würde dir vielleicht ein Teller warme Suppe etwas helfen?” Aber nicht nur die in ständigem Kommentier-Alarm befindlichen Hobby-Schäumer aus den digitalen Debattierwelten lieben den Begriff „toxisch”. Quer durch alle Medien wird mit dem Wort um sich geworfen. 2022 wurde die Punze „toxisch” wirklich auf alles, was Probleme, Konflikte und Unbehaglichkeiten versprach, gestempelt.

Das giftige Adjektiv geistert schon seit ein paar Jahren durch unseren Sprachgebrauch, so wie zuvor „narzisstisch” (eine Diagnose, die jeder bekam, der sich nur beim Anstellen vordrängte oder nicht gleich ein SMS beantwortete), „Dystopie” (eine Art Begriffs-Filetstück in vielen (pseudo-)intellektuellen Debatten), oder auch jene notorische Diskurs-Phrase, die uns irgendwann den letzten Nerv zog: „Da muss man das Narrativ neu denken.”

Für die Popkultur deflorierte Britney Spears den Begriff schon im Jahr 2004 mit ihrem Song „Toxic”, in dem sie ihre Sucht nach einem zerstörerischen Lover besang. Die Soulsängerin Mary J. Blige erzählt im Hit „No more drama” vom Befreiungsschlag aus einer solchen Konstellation, die mit dem Refrain „I’m so tired, so tired” endete. Von Billie Eilish über Justin Bieber bis Cro könnte man eine Kette von „Co-Dependency”-Songs aufzählen, wobei: Die Ko-Abhängigkeit ist als Modewort inzwischen auch schon in die Jahre gekommen.

Mary J. Bliges Müdigkeit kann man sich nur anschließen. Im vergangenen Jahr eskalierte der Einsatz des Wortes, dessen ursprünglich Bedeutung sich aus dem Waffenarsenal der griechischen Antike ableitete. Homer ließ seinen Helden Odysseus seine Pfeile mit einem pflanzlichen Gift versehen. Aus dem Begriff „tóxikon phármakon” entwickelte sich der Allgemeinbegriff „Toxikon” und der Wortstamm für das Lehrfach der Toxikologie, jener Wissenschaft, die sich mit Giften, Vergiftungen und deren Behandlung beschäftigt.

Inzwischen ist „toxisch” zum „hyperinflationären Buzzword” mutiert, wie auch die „New York Times” bemerkte. Unter dem Klischeebegriff wird alles verschlagwortet, was man vielleicht präziser als destruktiv, neurotisch, bedrohlich, unempathisch, manipulativ, beklemmend, zwänglerisch, beängstigend, irritierend oder einfach nur unangenehm bezeichnen könnte.

Einige Beispiele aus dem supertoxischen Jahr 2022: Die Fußball-Weltmeisterschaft entwickelte aufgrund ihres Austragungsorts Katar und des dortigen Katastrophen- Verständnisses für Menschenrechte „toxische Qualitäten”. Intendant Markus Hinterhäuser sah sich bei den Salzburger Festspielen mit dem Vorwurf „toxischen Sponsorings” konfrontiert, weil die Kreml-nahe VTB-Bank Teodor Currentzis musicAeterna-Ensemble unterstützt. Das Engagement des russisch-griechischen Dirigenten, der sich jeglicher Putin-Kritik enthielt, war selbstredend ebenso toxisch. Die Ohrfeige, die der Schauspieler Will Smith vor einem Milliardenpublikum dem Oscar-Präsentator Chris Rock verpasste, war ein Höhepunkt „toxischer Männlichkeit”. So verharmlosend wie falsch scheint es dagegen, Wladimir Putin auf eine ebensolche zu reduzieren (was nicht heißt, dass nicht genau das trotzdem millionenfach geschah).

Um der Gleichberechtigung auch im negativen Kontext Genüge zu tun, musste man nicht lange warten, bis auch die „toxische Weiblichkeit” ausgerufen wurde. Die Arbeitspsychologin Nancy Doyle argumentierte im US-Wirtschaftsmagazin „Forbes“, dass jede den Bogen überspannende Eigenschaft am Arbeitsplatz eine toxische Wirkung entfalten könne. Frauen hätten die Tendenz, „passiv-aggressive Verhaltensmuster” oder die Rolle der überfürsorglichen Büro-Mutter in ihr Verhalten zu integrieren und würden sich damit in einen „Kreislauf toxischer Weiblichkeit“ begeben.

Gab es Probleme im Job, war man noch vor einigen Jahren tendenziell Opfer eines pathologisch narzisstischen Vorgesetzten; inzwischen muss für diverse Übel in beruflichen Belangen eine „toxische Unternehmenskultur” herhalten.

Womit wir bei der psychohygienischen Wirkung des Begriffs – und einer Erklärung seines Triumphzugs in unser Vokabular – angelangt sind: Toxisch sind immer die anderen. Das befreit von Schuld, entlastet von Eigenverantwortung und kritischer Selbstreflexion. Der als toxisch punzierte Gegenpart übernimmt die Funktion eines Sündenbocks. Die historische Altlast von bedeutungsverwandten Begriffen wie „giftig”, „schädlich” oder „zersetzend” ist uns dabei leider längst nicht mehr bewusst. Antisemitische Mythen und faschistische Theorien bilden einen oft unsichtbaren, aber immer noch wirksamen Hintergrund dieses Diskurses. Der sich seit dem Mittelalter hartnäckig haltende Mythos von den Juden, die Brunnen vergiften, um die Herrschaft an sich zu reißen, findet sich in extremistischen Verschwörungsmilieus und digitalen Darkrooms in einer oder anderer Form bis heute – toxisches Gedankengut.

Doch davon hat man im Mainstream wenig oder gar keine Ahnung. Wir leben in einer Gesellschaft, in der die Psychologisierung von allem und jedem samt aus der Hüfte geschossenen Begleit-Diagnosen zu einer Art Breitensport mutiert ist. Verhältnisse oder Menschen als „toxisch” zu stempeln, ist entlastend und dementsprechend praktisch. Das Verharren in toxischen Beziehungen, toxischen Jobs oder toxischen Familienkonstrukten macht die Betroffenen zu Opfern von Kräften, denen sie hilf- und schuldlos ausgeliefert sind – und denen sie nur durch einen radikalen Bruch entkommen können.

Ein Bilderbuch-Beispiel dieses Prinzips ist die in der ersten Dezember-Woche gestartete Netflix-Dokuserie „Harry & Meghan”, in der sich das ins freiwillige Exil in die USA gegangene britische Herzogs-Paar im Rahmen eines 100-Millionen-Deals als Märtyrer einer toxischen Institution (nämlich der britischen Monarchie) offenbarte. Es bedarf keiner besonders gefinkelten analytischen Fähigkeit, um die Doppelmoral hinter diesem Unterfangen zu enttarnen.

Der wochenlange Schau-Prozess zwischen Amber Heard und ihrem Ex-Mann Johnny Depp wiederum galt in diesem Jahr als Lehrbeispiel für eine toxische Beziehung, in der wohl beide Parteien in einem Wechselspiel brutaler Abwertungen einander nichts geschenkt hatten. Die Psychotherapeutin Bärbel Wardetzki warnt im profil-Interview allerdings davor, solche

Paarbildungen vorschnell als „toxisch zu stempeln”: „Denn dadurch wird die Situation ganz schnell in Täter-Opfer-Kategorien eingeteilt. In der Regel sind dann die bösen Männer die Täter und die armen Frauen die Opfer. Diese Einteilung finde ich schlecht. Denn in dem Moment, wo ich mich selbst zum Opfer stemple, nehme ich mir alle Kraft zur Veränderung.”

Kürzlich erlebte ich in einem Park den fluchlastigen Disput eines Teenagerpärchens, den sie schließlich mit dem Schrei „Oida, du bist so toxisch, i halt di nimma aus” verließ. Das macht Hoffnung: Die Karriere des Begriffs sollte mit der Ankunft in der Umgangssprache eigentlich ihren Niedergang angetreten haben. Let’s detox 2023!

Angelika   Hager

Angelika Hager

leitet das Gesellschafts-Ressort