profil-Fotoredakteurin Doris Klimek auf Zypern
Titelgeschichte

In 18 Mini-Reportagen um die Welt

Wie und wohin wir reisen, erzählt viel über unsere Psyche. Die profil-Redaktion packt die prägendsten, schrägsten und aufregendsten Trips ihres Lebens aus. [E-Paper]

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Dass der New Yorker Anthony Bourdain vor drei Jahren seinem Leben auf einer Reise ein Ende setzte, besaß eine tragische Logik. Schließlich war der neben Jamie Oliver bekannteste Koch der Welt notorisch grenzüberschreitend. Für die CNN-Serie "Parts Unknown" reiste der mehrfache Bestsellerautor vom Jemen bis in die Arktis, um in den entlegensten Winkeln die absurdesten Gerichte auszuprobieren: Die höchste Ekelschwelle( "nach Chicken McNuggets", wie er hinzufügte) überwand er beim Verzehr des Anus eines Warzenschweins, da waren rohe Robben-Augäpfel in Grönland und Affenhirn in China nahezu Kinderkram. In dem eben in den USA angelaufenen Kino-Porträt "Roadrunner" betreibt Bourdain in einem früheren Interview Motivforschung bezüglich seiner eigenen Rastlosigkeit: "Reisen verändern dich. Sie hinterlassen Spuren in deinem Ich, durchaus auch Narben. Wenn du auf der Suche nach dem perfekten Urlaub bist, hast du schon verloren. Denn dann versäumst du wahrscheinlich das Beste."

"Vielleicht sind diese Reisen auch eine Art Versprechen auf ein noch nicht gelebtes Leben"

Das Beste sind in Bourdains Reiseverständnis Horizonterweiterungen, die man in keinem Reiseführer oder Influencer-Blog findet. Situationen, die unsere Situationselastizität herausfordern. Begegnungen, die uns direkt in die DNA eines Landes und seiner Leute führen. "Entdeckendes Reisen" nennt diese Form der suchenden, oft auch riskanten Fortbewegung der deutsche Philosoph Peter Vollbrecht: "Vielleicht sind diese Reisen auch eine Art Versprechen auf ein noch nicht gelebtes Leben. So können wir auch die unentdeckten Möglichkeiten unserer selbst erkunden." Ein illustres Beispiel dafür sind die Reisetagebücher des später ermordeten Thronfolgers Franz Ferdinand, der 1892 auf dem Torpedo-Rammkreuzer "Kaiserin Elisabeth" mit 400 Mann Besatzung durch die Welt tourte, in der Südsee heldenmütig "Menschenfresser-Stämme" besuchte, mit Stammeshäuptlingen Tauschgeschäfte betrieb und dazu zu notieren wusste: "Die Eingeborenen machten keinen besonders günstigen Eindruck."

Im vergangenen Jahr hatte die Welt Urlaub von uns Reisenden. Im Sommer der großen Reiseverunsicherung, in dem der Heimaturlaub nahezu moralisch zwangsverpflichtend und dem Credo von Torbergs Tante Jolesch ("Ich bin überall a bissele ungern") häufig Rechnung getragen wurde, widmeten wir unsere Cover-Geschichte unter dem Titel "Heimat, fremde Heimat" (Heft Nr. 29/2020) den hiesigen Lieblingsorten der profil-Crew: Entsprechend der facettenreichen Redaktions-Typologie war da natürlich auch viel Schräges, Überraschendes und Abseitiges dabei. Leser, die Urlaub im Sinne der Definition des Schriftstellers David Foster Wallace als "Schonung vor den Unannehmlichkeiten des Lebens" verstehen, werden möglicherweise die nächsten Seiten mit Kopfschütteln begleiten. Denn die Erzähl-Miniaturen und Mikro-Reportagen des profil-Teams bieten wenig Erholungswert; sie sind voller Abenteuer-Libido, aufregend, manchmal nahezu lebensgefährlich, in jedem Fall nicht im Pauschaltourismus buchbar, den vor 180 Jahren übrigens der Engländer Thomas Cook erfunden hat.

Tatsächlich sind Trips abseits der Trampelpfade und organisierter "Follow-me"-Gruppenpulks nahezu Bootcamps für unsere soziale Intelligenz und unsere Adaptionsfähigkeit.

Der Beginn unseres autonomen Reiseverhaltens fällt in der Regel mit dem Abnabelungsprozess aus dem Elternhaus zusammen. Erstmals das Parfüm der ultimativen Freiheit kosten und mit dem Rucksack durch Europa. Was war das für ein herrliches und nahezu erregendes Gefühl, sich von den mürrischen Feuerwehrmännern von Saint-Tropez morgens mit dem Schlauch am Hafenquai aus dem Schlafsack spritzen zu lassen. Aufbleiben, bis der Arzt kommt. Die Millennials und die nachfolgenden

Generationen können angesichts solcher Veteranen-Backpacker-Romantik nur milde lächeln. Die Welt hat für sie längst Westentaschen-Format, Freunde auf allen Kontinenten sind nur einen Mausklick entfernt, Auslandssemester und sogenannte Gap-Jahre (also Reisetouren vor dem Studien-oder Berufsbeginn) integrative Bestandteile jeder Youngster-Biografie aus der gehobenen Mittelschicht. Das exzessive Posten der Urlaubsidyllen gilt inzwischen in dieser Altersgruppe als uncool und nahezu verzweifelt. Instagram-Voyeure können dieser Tage verstärkt beobachten, dass der manchmal unerträglich gewordene Dolce-Vita-Exhibitionismus mit all seinen Meerblick-Zimmern, Meeresfrüchte-Platten und Textzeilen wie "Und ihr so?"eher der 40-sehr-plus-Generation vorbehalten bleibt.

"Der Tourist zerstört das, was er sucht, indem er es findet"

Den Begriff "Flugscham", den die Generation Greta in die Welt gesetzt hatte, wird in der Praxis nicht unbedingt konsequent gelebt. Allzu verführerisch sind 39-Euro-Tickets nach Barcelona, einer jener Städte, die durch den "Overtourism" (2019 wurden 30 Millionen Besucher registriert) ihre Seele verkauften und wo das Leben für die Einheimischen zunehmend so unerträglich wie unleistbar wurde. "Der Tourist zerstört das, was er sucht, indem er es findet",skizzierte der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger den Teufelskreis des enthemmten Tourismus.

Von Versäumnis-Panik oder der Hipster-Kurzform "Fomo" (The fear of missing out) war unser Reiseverhalten vor der Pandemie geprägt. Ein durchschnittliches Reisejahr, inklusive ein paar Städtetrips, einer Ferien-Flugreise in den Süden und ein paar längeren Autotrips im Inland, schlägt sich mit einem Kohlendioxid-Ausstoß von circa acht Tonnen nieder; der deutsche Klima-Experte Nikolaj Koch konstatiert im Magazin "Geo",dass das "in etwa das Doppelte ist, was einem Erdbewohner jährlich zusteht."

Das wird sich ändern müssen, wenn man nur halbwegs im Besitz seines Verstands ist. Menschen reisen seit 1,2 Millionen Jahren, früher nur mit einem Faustkeil im Handgepäck, immer vom Gedanken beseelt, dass es anderswo besser, schöner und anregender ist.

Der britische Philosoph Alain de Botton geht in seinem Plädoyer "Die Kunst des Reisens" sogar so weit, die Sehnsucht nach dem Reisen mit jener nach der Liebe gleichzusetzen: "Ich glaube, wir haben zu allen Zeiten das Reisen mit dem Glück assoziiert. Es gibt zwei große romantische Fantasien darüber: die erste betrifft die Liebe, die zweite das Reisen. Auch wenn wir zwölf verheerende Urlaube hinter uns haben und 15 gescheiterte Liebesaffären, wir werden immer noch daran glauben, dabei glücklich zu werden." In diesem Sinn wünschen wir Ihnen eine glückliche Lesereise, ganz ohne den bösen Kohlendioxid-Ausstoß.

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Angelika   Hager

Angelika Hager

leitet das Gesellschafts-Ressort