4Chan-Gründer Christopher Poole.

Das Internet von seiner schlimmsten Seite: 4Chan

Von Wölfen und Mäusen: Auf 4Chan tummeln sich frustrierte Nerds, Sexisten, Faschisten - und manchmal sogar Mörder. Leider ist das Forum auch äußerst einflussreich.

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Im Grunde gäbe es ja nichts auszusetzen an der Theorie, dass das Internet den Menschen nicht schlechter macht. Schließlich war er auch schon vor Twitter oder krone.at gehässig und unter bestimmten Umständen sogar gewalttätig. Der Mensch ist auch ohne Maus des Menschen Wolf. Leider hat die Theorie einen Haken. Er heißt 4Chan, ist seit gut 13 Jahren online und macht ausnahmsweise einen Warnhinweis nötig: Lassen Sie bitte die Finger davon! 4Chan ist kein schöner Ort. 4Chan ist ziemlich krank und leider ansteckend.

Dabei sieht es auf den ersten Blick noch recht harmlos, fast langweilig aus. Bei 4Chan handelt es sich um ein sogenanntes Imageboard, also eine Diskussionsplattform, auf der vor allem Bilder gepostet und diskutiert werden. Visuell fällt die nach einem obskuren japanischen Vorbild gestaltete Site sehr unambitioniert aus und erinnert damit an die Frühformen des Internet, was nicht ganz zufällig sein dürfte, denn wie jene ist auch 4Chan notorisch anarchisch, unkontrolliert, bizarr und für Einsteiger eher undurchschaubar. Es funktioniert ein wenig wie der Wilde Westen: Neuankömmlinge werden routinemäßig zur Sau gemacht, Claims abgesteckt und Frauen höchstens wegen ihrer Geschlechtsteile wahrgenommen. Wem die Diskussionsforen österreichischer Tageszeitungsportale unangenehm erscheinen, der dürfte von 4Chan juckende Hautausschläge bekommen. Ein beliebiger, relativ typischer Beitrag geht etwa so: Neben ein Foto von einem abgetriebenen Fötus schreibt der anonyme Poster: "Ich bin unschlüssig, was Abtreibung angeht. Einerseits unterstütze ich sie, weil dabei Kinder getötet werden. Andererseits gibt sie Frauen eine Wahl.“

Zuletzt schaffte es 4Chan in die deutschsprachigen Nachrichten, weil der mutmaßliche Doppelmörder von Herne, der 19-jährige Schulabbrecher Marcel H., seine Taten in dem Forum live präsentierte und dort dafür auch gefeiert wurde. Der Loser als Held - und sei es um den Preis zweier Menschenleben.

4Chan ist ein echtes Massenmedium

Nun sollte niemand ein Onlineforum für einen Doppelmord verantwortlich machen (andernfalls würden die rund 27 Millionen monatlichen 4Chan-Nutzer ein akutes Bedrohungspotenzial darstellen). Allerdings scheint die Geisteshaltung, die auf der Site kultiviert wird, reichlich infektiös zu sein. Zudem handelt es sich eben nicht um ein obskures Nischenforum und auch nicht um eine klandestine Gemeinschaft im verschlüsselten Darknet, sondern, im Gegenteil, um eine jederzeit und für jeden zugängliche und nicht nur deshalb äußerst publikumsträchtige Site. Nach Unternehmensangaben rufen monatlich 27,7 Millionen Nutzer die Site insgesamt über 700 Millionen Mal auf und posten täglich bis zu eine Million neuer Nachrichten. Zum Vergleich: Die erfolgreichste deutschsprachige Nachrichtensite, Bild.de, verzeichnet im Monat rund 330 Millionen Seitenaufrufe, der heimische Marktführer ORF.at knapp 75 Millionen. 4Chan ist also ein echtes Massenmedium. Natürlich suhlen sich nicht alle 4Chan-User in menschenverachtenden Hasspostings. Die Bandbreite der verschiedenen Unter-Foren ist beachtlich und reicht von relativ entspannten Diskussionsgruppen über Kochen, Reisen und Origamifalten und sexuell durchaus verwirrende Foren für "My Little Pony“-Fans bis zu dem notorischen "politically incorrect“-Bereich und dem aus schlechter Tradition noch sehr viel brutaleren "Random“-Forum, das nach seiner Webadresse auch schlicht unter "/b/“ firmiert und die bei Weitem beliebteste Untergruppe auf 4Chan darstellt.

Dabei gilt: Was auf 4Chan vor sich geht, muss den gemeinen Internetnutzer nicht interessieren, um ihn zu betreffen. 4Chan macht leider Schule. Und Stimmung. Und zum Teil sogar gute Laune: Die Site ist eine der einflussreichsten Meme-Brutstationen überhaupt. Die via 4Chan erstmals massenhaft popularisierten, meist absichtsvoll absurden Wort- und Bildwitze prägen heute die Kommunikation in Onlinekanälen und sozialen Medien. Wer Bildern von schlecht gelaunten Katzen syntaktisch bedenkliche Sprechblasen verpasst, handelt in der Tradition von 4Chan. Wer in einem Chat statt eines Kommentars ein animiertes Bildchen postet, ebenso. Das nervt 4Chan-User, denen ihr Avantgardestatus ungemein wichtig ist, natürlich gewaltig. Nichts stört 4Channer mehr als die Vereinnahmung durch den Mainstream, die ausdrücklich verhassten Normalos - weshalb sie auch immer radikaler werden und auf diesem Weg fast schon zwangsläufig irgendwann bei der ultimativen Provokation landen, also zwischen Hitler-Verehrung und Leichenfotos.

Von Anonymität zu aggressivem Zynismus

Der Anfang dieses Wegs liegt in einem New Yorker Bubenzimmer. Ende 2003 richtete der damals 15-jährige Christopher Poole 4Chan nach japanischem Vorbild als Diskussionsforum für Manga-, Anime- und Computerspiele-Nerds ein. Dass die Site sehr schnell über die erwartbaren paar Tausend Eingeweihten hinausgewachsen ist, liegt auch an ihrer sehr benutzerfreundlichen Bedienoberfläche: Niemand muss sich registrieren, ja nicht einmal die Mühe machen, ein Online-Pseudonym einzutippen, weil 4Chan jeden Nutzer per Voreinstellung als "Anonymous“ ausweist. Diese Anonymität gibt den Ton vor, der im Forum entsprechend schnell in Richtung eines aggressiven Zynismus eskalierte.

Als "Anonymous“ sind Teile dieser Subkultur auch über die Grenzen des Forums hinweg aktiv. Das unter diesem Namen tätige, informelle Hackerkollektiv weitete den frühen Aktionismus der 4Chan-Trolle (die, legendäres Beispiel, das beliebte Online-Kinderspiel "Habbo Hotel“ mit ihren Avataren überrannten) ins Offline-Leben aus. Eine erste große Drohgebärde wurde im Sommer 2008 gegen die Church of Scientology aufgebaut - allerdings nicht, wie man glauben möchte (glauben will!), aus sektenkritischen Motiven, sondern aus schlichter Egozentrik: Scientology hatte ein sehr lustiges Online-Video, in dem Tom Cruise leicht manisch über seine Kirche fabuliert, vom Netz genommen, wodurch sich die 4Channer in ihrem Recht auf uneingeschränkten Spaß eingeschränkt fühlten. Es folgten weitere, weltweit rezipierte Anonymous-Hacks etwa gegen Unternehmen, die nicht mit der Plattform WikiLeaks kooperierten, oder gegen weibliche Hollywoodstars, deren private Nacktfotos im Herbst 2014 via 4Chan in Umlauf gebracht wurden.

Wenig später, Ende Jänner 2015, zog sich der Gründer Christopher Poole offiziell aus 4Chan zurück. Er hatte es nie geschafft, mit der Site Geld zu verdienen (die meisten Werbetreibenden sind nicht besonders erpicht darauf, ihre Produkte neben Pornospäßen und Gewaltfantasien zu platzieren). 4Chan funktionierte bis dahin ausschließlich dank der freiwilligen Mitarbeit von Teilzeit-Moderatoren, die beim besten Willen nur notdürftig für Ordnung sorgen konnten. Rechtliche Konsequenzen musste die Site dennoch nicht ernsthaft befürchten, denn offiziell existiert ja ein ausdrückliches Verbot, in den Foren von 4Chan Kinderpornografie zu veröffentlichen. Aber tatsächlich muss, bei einer Million täglicher Posts, die zudem nicht archiviert werden und also nach einer gewissen Zeit spurlos verschwinden, erst einmal jemand den Verstoß bemerken und, falls er ihn überhaupt als Verstoß wahrnimmt, bei den Moderatoren einmelden. Sofern das passiert, kooperiert 4Chan auch bereitwillig mit den Strafverfolgungsbehörden. Die eigentlichen, existenziellen Probleme der Site bleiben ökonomischer Natur. Inzwischen gehört 4Chan dem japanischen Online-Unternehmer Hiroyuki Nishimura, der im vergangenen Oktober erklärte, dass die Site bei anhaltendem Defizit vom Netz gehen könnte. Leider hat dieses auch so schon irreversiblen Schaden genommen.

In der sogenannten zweiten Topik der menschlichen Psyche, die Sigmund Freud 1923 in dem Band "Das Ich und das Es“ entwickelte, steht das Es für die unbewusste Triebstruktur, die gegen die Vorgaben von Ich und Über-Ich um sofortige Befriedigung kämpft. Dabei glaubt das bewusste Ich irrigerweise, diesen permanenten Kampf zu kontrollieren. Tatsächlich gelte aber, so Freud: "Wie dem Reiter, will er sich nicht vom Pferd trennen, oft nichts anderes übrig bleibt, als es dahin zu führen, wohin es gehen will, so pflegt auch das Ich den Willen des Es in Handlung umzusetzen, als ob es der eigene wäre.“

Kult um den "Beta-Mann“

Vielleicht hat das Internet als unser aller Kollektivgeist und Weltseele ja eine Psychoanalyse nötig. Jedenfalls sollten wir nicht verdrängen, welcher Gaul da in Foren wie 4Chan durchgeht: eine nihilistische, anarchische, gewaltverherrlichende und per zwanghafter Ironie in jede erdenkliche Richtung abgesicherte Welthaltung, die zum Hass aufruft und hinterher sagt: War nur Spaß! 4Channer stellen sich mit Verve und grauenhaften Witzen gegen das Establishment, gegen die politische Korrektheit, gegen die Mehrheitsgesellschaft und, vor allem, gegen jegliche Form von Feminismus. In der Welt von 4Chan herrscht ein regelrechter Kult um den "Beta-Mann“, der als eine ironische Abgrenzung vom klassischen Alphamännchen entworfen wurde, das als Sportler und Frauenheld im echten Leben reüssiert, während dem klischeehaften, jungfräulichen und sozial verkorksten Computerspielfan nur der digitale Rückzugsraum im Jugendkeller seines Elternhauses bleibt.

Der paradigmatische 4Chan-Traum handelt von der Selbstermächtigung dieser Zukurzgekommenen, die neue Hierarchien erfinden, welche anders funktionieren als das Gesetz des Dschungels beziehungsweise Schulhofs. Deshalb geht es auf 4Chan auch in erster Linie eben darum, sich auszukennen, Insiderwitze und Anspielungen zu erkennen, ein hochgezüchtetes Besserwissertum zu entwickeln, das Neuankömmlingen keine Chance gibt, jemals mit den "oldfags“ (so die "ironisch“ homophobe Selbstbezeichnung selbsternannter 4Chan-Veteranen) gleichzuziehen. Das reicht freilich nicht immer aus, reale Kränkungen zu kompensieren. Mindestens zwei Schulmassaker in den USA wurden von den Tätern vorab via 4Chan in die Tradition des "Beta-Aufstands“ gestellt, was andere 4Chan-User auch immer wieder gern zum Anlass genommen haben, mit weiteren, substanzlosen Bomben- oder Amok-Drohungen Unruhe zu stiften.

Der britische Blogger Milo Yiannopoulos, bis vor Kurzem Redakteur des neurechten Leitmediums "Breitbart News“ und bekennender Trump-Fan, kann in diesem Sinn als Vorzeige-4Channer gelten, wenn er sagt: "Unsere heutige, Männer bestrafende, feminisierte Kultur erzeugt Killer. (...) Um Amerika wieder großartig zu machen, müssen wir diese verlorene Generation junger Männer retten.“ Mit anderen Worten: Feminismus ist Schuld an Hassverbrechen. Weiters lernt man: Auch unterdrückte Minderheiten können wirklich, wirklich böse sein. Wie Yiannopoulos, der homosexuelle Antifeminist, behände zwischen Subversion und Hegemonieanspruch schillert, so lässt sich auch 4Chan kaum in traditionellen Kategorien fassen. Ideologisch ist der typische Hassposter des "/b/“-Forums tatsächlich glitschig wie sein Wappentier.

Ursprünglich stammt "Pepe the Frog“ aus einem nicht weiter bemerkenswerten Comicstrip des Zeichners Matt Furie. Erstmals als Meme gebraucht wurde die Figur im Jahr 2008 im "/b/“-Forum von 4Chan als für dortige Verhältnisse typische Verlierer-und-stolz-darauf-Figur: Pepe, der Sumpfbewohner mit der feuchten Aussprache, der sich auch nicht aus der Ruhe bringen lässt, wenn man ihn mit offener Hose erwischt. Mit der wachsenden Beliebtheit des Pepe-Memes radikalisierte sich seine Verwendung auf 4Chan sozusagen zwangsläufig, aus Trotz gegen all die Normalos, die ihn auch verwendeten. In der Folge wurde Pepe mit antisemitischen, faschistischen und anti-islamischen Konnotationen versehen und ab 2015 schließlich zu einer Art Wappentier der "Alt-Right“-Bewegung. Inzwischen führt ihn die amerikanische Anti Defamation League auch offiziell als Hasssymbol.

In einem viel zitierten Artikel für das Online-Magazin "Medium.com“ beschrieb der US-Autor und Comiczeichner Dale Beran die ideologischen Verbindungslinien zwischen Nerds und Neurechten und brachte die Geisteshaltung der krawalligen Trump-Fans von 4Chan auf eine griffige Formel: "Sie wissen, dass ihr Idol ein inkompetenter Witz ist. Genau darum finden sie ihn ja so toll.“ Die selbstermächtigten Loser erkennen in Trump einen Geistesverwandten: einen, der sich mit konsequenter Indolenz über jegliche Fakten hinwegsetzt - und auch noch damit durchkommt.

Und wozu das Ganze? Nur zum Spaß!

Dieser Artikel stammt aus dem profil Nr. 13 vom 27.3.2017. Das aktuelle profil können Sie im Handel oder als E-Paper erwerben.

Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur, ist seit 2020 Textchef dieses Magazins und zählt zum Kernteam von faktiv.