Kindheitskiller Smartphone
Von Angelika Hager und Sebastian Hofer
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Es sind keine Mythen, die Technologie-Verweigerer oder Fortschritt-Paranoiker in die Welt gesetzt hätten, nein: Es gibt sie tatsächlich, die dramatischen Fälle, nicht nur in Japan oder in den USA, sondern auch im österreichischen Alltag, wie an der Front arbeitende Psychiaterinnen und Psychiater erzählen: Teenager-Buben, die die Wohnung kurz und klein schlagen wollen, nachdem alle Bitten und Warnungen, endlich ins Bett zu gehen, in den Adrenalinblasen der digitalen Welten von Fortnite oder Minecraft verpufft sind. Verzweifelte Mütter, die irgendwann den WLAN-Stecker ziehen, was zu einer solchen Eskalation führt, dass die Kinder mit Polizeieskorte in die Ambulanz für Kinder- und Jugendpsychiatrie im Wiener AKH gebracht werden müssen. Eine Gruppe heftig blutender Mädchen, die in ebendieser Ambulanz landen, weil sie sich in einer WhatsApp-Gruppe einen Wettbewerb der Selbstverletzungen („Leckerschmecker – wer schneidet tiefer?!“) lieferten. Ein 15-Jähriger, der sich mit allen Mitteln dagegen wehrt, auch nur einen Fuß in die Schule zu setzen, weil er in der Parallelwelt seines Computerspiels Selbstwert- und Hochgefühle erlebt, die er im Alltag nicht finden kann. Achtjährige, die aufs Fensterbrett klettern und drohen, sich etwas anzutun, sollten die Eltern ihnen das weggesperrte iPad nicht auf der Stelle wieder retournieren. „Blackout“-Competitions auf der Plattform TikTok, wo Jugendliche sich gegenseitig dazu animieren, Videos von Selbststrangulierungen zu teilen.
Die chinesische Kurzvideo-Plattform ist, wie der Innsbrucker Kinder- und Jugendpsychiater Martin Fuchs bestätigt, derzeit das härteste Pflaster unter den sozialen Medien. Aber auch die Vergleichs- und Gefallsucht, die Plattformen wie Instagram besonders bei Mädchen immer früher befeuern, hinterlässt dramatische Spuren. Dort finden etwa Untergewichts-Wettbewerbe statt, bei denen Mädchen und junge Frauen unter dem Hashtag #thininspiration ihre Essstörungen vertiefen. Dazu kommen Kinder, die durch Cyber-Mobbing verzweifeln und in die soziale Isolation bis hin zum Selbstmord driften.
Einzelfälle, die nichts mit der breiten Masse zu tun haben? Schön wär’s.
In der langjährigen Jugend-Studie des deutschen Medienpädagogischen Forschungsverbands Südwest (JIM-Studie) werden Jugendliche regelmäßig befragt, welche negativen Phänomene ihnen zuletzt im Internet untergekommen sind. Die Ergebnisse der letzten Welle vom Herbst 2023: 58 Prozent hatten im Monat vor der Befragung Fake News registriert, 50 Prozent beleidigende Kommentare, 40 Prozent waren mit extremistischen Ansichten, Hassbotschaften beziehungsweise Verschwörungstheorien konfrontiert, 23 Prozent mit ungewollten pornografischen Inhalten. 14 Prozent wurden persönlich angefeindet, und nur 27 Prozent gaben an, sie hätten im Monat vor der Befragung keines dieser Phänomene erlebt.
Ein – leider auch nicht ungewöhnliches – Beispiel aus Wien-Favoriten: Es war kurz vor den großen Ferien, die Handys waren noch ungewohnt. Die Kinder hatten gerade das Ende ihrer Volksschulzeit erreicht und damit auch den Anfang ihres Lebens mit dem Smartphone. Die Neugier war groß, die Unbedarftheit leider auch, und die Übeltäter rasch zur Stelle: Einer der Jungen im Klassenchat hatte zwei Freunde in die Gruppe eingeladen, die er von einem Streaming-Portal kannte. Die beiden kaperten innerhalb weniger Stunden den Chat. Sie erwiesen sich als waschechte – und wesentlich ältere – Cyberbullies. Die zehnjährigen Kinder im Chat wurden teils rassistisch beschimpft und sexuell übergriffig bedrängt – und waren mit dem Problem zum Glück schnell genug bei ihren Eltern, die den Spuk beenden konnten, da die Täter mit ihren echten Telefonnummern im Chat aufschienen.
Trotzdem ist klar: Es wird nicht die letzte schlechte Erfahrung gewesen sein, die diese heute Elfjährigen aus Wien online machen werden. Denn Smartphones sind zwar zweifellos ein Segen für die Menschheit, sie erschließen die Welt, erleichtern das Leben und verbinden die Menschen, öffnen aber leider auch allerlei Schrecklichem die Tür.
Allerdings sind es nicht nur die schädlichen Inhalte, die die Handy-Nutzung von Kindern und Jugendlichen bedenklich machen. Es ist auch das Verhalten, das sich im Umgang mit dem jederzeit verfügbaren Digitalgerät ausbildet. Innerhalb weniger Jahre hat sich das Bild, das Kinder und Jugendliche in jener prägenden Entwicklungsphase zwischen sechstem und 16. Lebensjahr abgeben, grundlegend verändert. Ein Wiener Lehrer berichtet von der bizarren, aber inzwischen ganz normalen Situation, dass seine Kinder während der Unterrichtsstunden eigentlich recht aufgeweckt wirken, miteinander sprechen und diskutieren, während in den Pausen, in denen sie wieder ihre Handys verwenden dürfen, eine urplötzliche Stille ausbricht.
Handy-Bann
Claudia Liebl, Direktorin des Gymnasiums Gainfarn/Bad Vöslau, hat aus ebendiesem Grund an ihrer Schule (gemeinsam mit Eltern- und Schülervertretern) schon vor Jahren ein konsequentes Handy-Verbot eingeführt: „Wir haben gesehen, dass die Schülerinnen und Schüler in den Pausen nicht mehr miteinander gesprochen haben, sondern still am Gang herumstanden und mit ihren Handys beschäftigt waren. Uns war schnell klar, dass man hier etwas machen muss.“ Die Smartphones dürfen nun zwar in die Schule mitgebracht werden, müssen aber im Flugmodus oder ganz ausgeschaltet im Spind oder der Schultasche bleiben, die Pausen finden am Freigelände oder im Turnsaal statt. Die Regel gilt für alle knapp 800 Schülerinnen und Schüler, von der ersten bis zur achten Klasse.
Das Bild von den Jugendlichen, die gemeinsam schweigend im Straßencafé oder in der U-Bahn sitzen, jeder von ihnen mit starrem Blick auf das Display seines Smartphones, ist nichts Ungewöhnliches mehr. „In einer Phase, in der das Erlernen sozialer Interaktionen und der Umgang mit Enttäuschungen, Frustrationen und Fehlern von so immenser Wichtigkeit für die Entwicklung ist“, klagt der New Yorker Sozialpsychologe und Bestsellerautor Jonathan Haidt, „lassen wir gerade unsere Prä-Teens, die am vulnerabelsten sind, permanent mit den großen Erfahrungs-Blockierern, den Smartphones, allein.“
Der zurzeit in den USA durch die Talkshows tourende Haidt rät nach mehreren Jahren Forschung dringend dazu, Jugendlichen erst ab dem 16. Lebensjahr den Zugang zu sozialen Medien zu ermöglichen. Kinder vor dem 14. Lebensjahr sollten nur mit einem simplen Mobiltelefon ohne Internetzugang ausgestattet sein. In der Handy-Frage ähnlich rigide wie beim Alkohol- oder Nikotinkonsum vorzugehen, mutet nahezu utopisch an. Schließlich sind die Verführer in die Alltagskultur integriert und jederzeit zugänglich. Doch ein Umdenken, was Restriktionen und schulische Maßnahmen angeht, sowie ein erhöhtes Bewusstsein der Eltern für die Konsequenzen des Smartphone-Konsums ihrer Kinder, sind dringend angesagt.
Zwischen 2004 und 2012 stieg die Zahl der depressiven Störungen bei Mädchen in der Altersgruppe von zwölf bis 17 Jahren um 145 Prozent, bei Burschen um 161 Prozent. In den Jahren zwischen 2010 und 2018 wurden unter US-Collegestudenten 72 Prozent mehr Aufmerksamkeits-Defizitstörungen (vor allem bei jungen Männern) konstatiert, die Anorexie-Problematik (Zielgruppe vorrangig weiblich) steigerte sich um 100 Prozent.
Haidt fordert eine radikale Umkehr, um zukünftige Generationen vor Angst und Depression zu bewahren. In seinem neuen Buch „The Anxious Generation“ („Generation Angst“, ab Mitte Juni bei Rowohlt) beschreibt er eine Epidemie psychischer Störungen bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen und prognostiziert, dass sich diese mit dem Vormarsch künstlicher Intelligenz in den digitalen Mainstream noch potenzieren werde. Haidt, dessen Warnruf sofort nach Erscheinen auf den ersten Platz der „New York Times“-Sachbuch-Bestsellerliste kletterte und in vielen US-Qualitätsmedien hitzig diskutiert wird, belegt seine Thesen mit erschreckendem Zahlenmaterial aus den USA. Hier nur einige Fakten: Zwischen 2004 und 2012 stieg die Zahl der depressiven Störungen bei Mädchen in der Altersgruppe von zwölf bis 17 Jahren um 145 Prozent, bei Burschen um 161 Prozent. In den Jahren zwischen 2010 und 2018 wurden unter US-Collegestudenten 72 Prozent mehr Aufmerksamkeits-Defizitstörungen (vor allem bei jungen Männern) konstatiert, die Anorexie-Problematik (Zielgruppe vorrangig weiblich) steigerte sich um 100 Prozent. Eine um 134 Prozent höhere Angststörungs-Prävalenz verzeichnete die Altersgruppe der 18- bis 25-Jährigen, und unter den Zehn- bis 14-Jährigen wurde seit 2010 ein Anstieg der Selbstverletzungen um 188 Prozent registriert.
Das soziale Dilemma
Im Jahr 2007 kam Steve Jobs’ Jahrhunderterfindung, das iPhone, auf den Markt. Anfangs glich es – so Haidt – „einem Schweizer Taschenmesser, das wunderbare Möglichkeiten bot, sich zu vernetzen und sein Wissen zu erweitern“. Doch mit der Ausweitung der psychologischen Manipulationsmöglichkeiten in Form der sozialen Medien, den Belohnungs- und Beurteilungssystemen von Facebook und Instagram, den Millionen Apps im App Store, die im Lauf der Jahre dazukamen, war man selbst bald nicht mehr „der Beherrscher des Geräts, sondern das Gerät beherrscht einen“. Und die großen Player wie Twitter, Facebook, Instagram hatten dabei nichts anderes im Sinn, als „ihre Nutzer mit Algorithmen so lange wie möglich online zu halten“. In der Netflix-Dokumentation „The Social Dilemma“ erklärten Ex-Entwickler, die aus ihren Silicon-Valley-Sekten ausgestiegen waren, was der große Plan der Plattformen ist: „Es geht schon längst nicht mehr um Produkte, um die geworben werden soll. Irgendwann wirst auch du begreifen, dass du selbst das Produkt bist.“ Und dass du nicht nur süchtig werden, sondern es auch bleiben sollst: „Sie wissen, dass dein Dopamin-Haushalt immer mehr Gefällt-mir-Daumen und Herzchen braucht.“ Da die Hirnreifung erst mit dem 21. Lebensjahr ihren endgültigen Abschluss findet, sind Teenager und junge Erwachsene für dieses Belohnungssystem und den damit verbundenen Crave besonders empfänglich, sagt der Innsbrucker Psychiater Martin Fuchs.
Die jugendliche Weltwahrnehmung und Kommunikation ist zunehmend von Apps und Däumchen-nach-oben-Gratifikationen definiert. Kinder und Jugendliche befinden sich in den sozialen Medien in einem Dauerzustand der Nervosität, „das ständige Rauschen des Panikorchesters“ nennt Katrin Skala, Kinder- und Jugendpsychiaterin am Wiener AKH, diese permanente Unruhe. „Die Akzeptanz in der Peer-Gruppe ist der Sauerstoff aller Jugendlichen“, schreibt Jonathan Haidt, genau deswegen seien Kinder und Jugendliche „in diesem bislang größten Experiment, das die Menschheit ihren Kindern angetan hat“ so leicht zu ködernde Versuchskaninchen. Laut der deutschen JIM-Studie sind 12- bis 19-Jährige im Schnitt drei Stunden und 44 Minuten am Tag online. Der österreichische Verein zur Förderung eines selbstbestimmten Umgangs mit Medien (VSUM) kommt in einer aktuellen Umfrage auf eine tägliche Smartphone-Zeit von drei Stunden und 33 Minuten. Und die jüngste Jugend-Digital-Studie der Deutschen Postbank rechnet bei den 16- bis 18-Jährigen gar mit einer wöchentlichen Online-Verweildauer von 64 Stunden (davon mehr als die Hälfte via Smartphone).
Wir haben gesehen, dass die Schülerinnen und Schüler in den Pausen nicht mehr miteinander gesprochen haben, sondern still am Gang herumstanden und mit ihren Handys beschäftigt waren. Uns war schnell klar, dass man hier etwas machen muss.
Viele Eltern haben keine Ahnung, mit welchen Inhalten ihre Kinder online konfrontiert werden. Und zwar quer durch alle Bildungsschichten. Das Paradoxon einer Gegenwart, in der Kinder und Jugendliche einerseits von Helikopter-Eltern überbehütet werden, andererseits aber online in „einen Pool erwachsener und gefährlicher Inhalte, die nicht geordnet und strukturiert sind“ (Haidt) springen, ist für den Sozialpsychologen die Ursache für eine gravierende Entwicklungsproblematik: Kinder und Jugendlichen werden durch Eltern, die sie im analogen Leben in einer Bubble der Überbehütung halten, aber ihre Online-Ausflüge in verbotene Gebiete nicht kontrollieren, in einen „passiven Verteidigungsmodus“ gedrängt und verlernen dabei, sich „in aktiven Handlungen der realen Welt zu stellen“. Die 14-jährige Isabel aus dem Staat New York bringt das Debakel in einem von Haidt zitierten Aufsatz auf den Punkt: „Schon als Zehnjährige begann ich mich auf Websites wie Pornhub herumzutreiben, weil das alle anderen auch taten. Ich musste nicht einmal bei meiner Altersangabe lügen, denn sie wurde dort nicht verlangt. Wo war meine Mutter? Meine Mutter war im Nebenzimmer, hatte keine Ahnung und war weiter darauf bedacht, dass ich täglich acht verschiedene Früchte und Gemüsesorten zu mir nahm, um meinen Vitaminbedarf abzudecken.“
Dass in vielen Schulen das Smartphone spätestens seit Corona in WhatsApp-Klassengruppen und Lernmaterialien wie selbstverständlich in den Unterricht integriert ist, macht die Sache nicht einfacher. Smartphones erst ab zehn Jahren und den Zugang zu sozialen Medien erst ab 14 Jahren gesetzlich zu erlauben, fände der Innsbrucker Psychiater Martin Fuchs, der sich auf seiner Station der Therapie von Suchtverhalten bei Jugendlichen und Kindern widmet, „begrüßenswert“. Im innovativ vorauseilenden Schweden hat man sich vom Modell des Unterrichts mit ausschließlich digitalen Hilfsmitteln bereits wieder verabschiedet. Tatsächlich ist es heute kein Einzelfall, wenn „Fünfjährige nicht wissen, wie man die Seiten eines Buchs umblättert, sondern auf dem Papier herumswipen“, erzählt Katrin Skala. Die leitende Kinder- und Jugendpsychiaterin am Wiener AKH und selbst Mutter von drei Kindern weiß aus ihrer eigenen Biografie, wie schwierig es ist, Kinder zumindest bis zum zwölften Lebensjahr ohne Smartphone zu halten: „Mein elfjähriger Sohn und ein anderes Kind waren die Einzigen in der Klasse, die kein solches Gerät besaßen. Was ihn zu einem echten Außenseiter machte, denn auch die sozialen Aktivitäten wie Treffen im Fußballkäfig wurden dort in WhatsApp-Gruppen verhandelt.“ Als er dann von der Klassenlehrerin den Auftrag bekam, für eine schulische Aktivität eine WhatsApp- Gruppe einzurichten, sei Skala dann doch „eingebrochen“. Skala praktiziert mit ihrem Sohn, was sie auch anderen Eltern dringend rät: „Exakte Restriktionen, was die zeitliche Nutzung betrifft. Mit Kinderschutz-Apps kann ich ganz genau steuern, welche Inhalte zugänglich sind. Vor dem Schlafengehen gibt es maximal Schulplattformen und Spotify zum Musikhören. Und auch sonst kann ich ganz genau kontrollieren, wo sich meine Kinder gerade online herumtreiben.“
Dickpics im Klassenchat
Von den Effekten, die das Abdriften in die Online-Welt nach sich ziehen, weiß Silke Müller einiges zu erzählen. Die 37-Jährige ist seit 2015 Direktorin einer Mittelschule im ländlichen Niedersachsen mit rund 800 SchülerInnen. 2018 richtete Müller eine Social-Media-Sprechstunde ein, in der sich die Jugendlichen niederschwellig mit allen möglichen Problemen melden können, die ihnen in Klassenchats oder sozialen Netzwerken unterkommen. Über ihre einigermaßen alarmierenden Meldungen hat Müllers Buch „Wir verlieren unsere Kinder“ informiert, das im Vorjahr zum Bestseller wurde: Die Kinder – zwischen zehn und 16 Jahre alt – berichteten von Dickpics und Mobbing, von emotional traumatisierenden Challenges und Gewaltvideos, von gefährlichen Einflüsterern und politischer Manipulation. Mit der zunehmenden Verbreitung von KI-Anwendungen wird das Problem nur noch gravierender, Müller berichtet von KI-manipulierten Pornos, in die die Gesichter von Schülerinnen eingebaut waren, von Erwachsenen, die sich mit Teenage-Filtern digital verjüngen und zwölfjährige Mädchen anchatten oder von digital verzerrten Stimmen, die in Sprachnachrichten sehr realistischen Horror verbreiten, oft in erpresserischer Absicht. Im Unterricht seien ihre Kinder merkbar unkonzentrierter, berichtet Müller, auch lethargisch bis hin zur depressiven Verstimmung, in Konflikten dagegen schnell aggressiv, der sprachliche und auch körperliche Umgang miteinander verrohe. Inzwischen sieht Müller, die durchaus digitalaffin ist und auch als niedersächsische Digitalbotschafterin tätig ist, ein allgemeines Smartphone-Verbot für unter 14-Jährige als einzig zielführende Lösung.
Digitale Grundbildung
Tatsächlich wird derzeit in mehreren europäischen Ländern ein gesetzliches Smartphone-Embargo an Schulen erwogen, die britische Bildungsministerin Gillian Keegan machte im vergangenen Herbst einen diesbezüglichen Vorstoß. Werner Amon, ÖVP-Bildungslandesrat in der Steiermark, hat für sein Bundesland kürzlich die „rechtliche Prüfung für ein Smartphone-Verbot für Volksschulen, Mittelschulen und AHS-Unterstufe“ angekündigt. Das Bildungsministerium winkt ab und verweist darauf, dass schon jetzt jede Schule autonom festlegen könne, dass Smartphones während der Unterrichtsstunden, aber auch während der Pausen abgegeben werden müssen – so wie es Claudia Liebls Gainfarner Gymnasium praktiziert. Zudem gibt es seit dem Schuljahr 2022/23 den neuen Pflichtgegenstand „Digitale Grundbildung“, in dem von der fünften bis zur achten Schulstufe die Funktionsweisen, aber auch die psychologischen und sozialen Effekte der neuen digitalen Technologien erläutert werden.
Christiane Spiel, Gründungsprofessorin des Lehrstuhls für Bildungspsychologie der Universität Wien, hält ein allgemeines Handy-Verbot an Schulen insgesamt für keine ausgereifte Idee: „Ich bin nicht grundsätzlich gegen ein Handyverbot an Schulen. Das kann dann sinnvoll sein, wenn die gesamte Schule, einschließlich Eltern- und Schülervertretern, diese Maßnahme bespricht, beschließt und gemeinsam vertritt. Aber ich halte nichts von einem allgemeinen, pauschalen Verbot. Denn Schule hat eine wichtige Sozialisationsaufgabe, und in unserer Gesellschaft sind digitale Geräte und künstliche Intelligenzen nicht mehr wegzudenken. Ich kann das nicht ausblenden oder ignorieren und glauben, dass damit alle Probleme verschwinden.“
Die Bildungspsychologin plädiert dafür, die Smartphone-Nutzung von Schülerinnen und Schülern aktiv zu thematisieren, mit ihnen möglichst konkret zu besprechen, was sie sich von den digitalen Plattformen erwarten, was sie dort erleben, welche guten und schlechten Erfahrungen sie damit machen – und welche Alternativen es geben kann. Bei einem simplen Verbot wäre das Thema zwar vom Tisch, aber deshalb nicht gelöst. Und so, wie man nicht alle pädagogischen Aufgaben der Schule umhängen könne, „kann man nicht alles an die Eltern delegieren. Es fehlt vielen Eltern gerade bei diesem Thema die Kompetenz, und das ist keine soziale Frage. Auch hoch gebildete Eltern können mit ihrer Smartphone-Verwendung negative Vorbilder sein. Aber ganz klar: Die erste Sozialisation findet in der Familie statt. Und da sind Eltern häufig kein gutes Modell, weil sie auch sofort reagieren, wenn das Handy ein Signal abgibt, oder weil sie nicht ansprechbar sind für das Kind, wenn sie mit dem Smartphone beschäftigt sind. Dann lernen Kinder, dass sie erst etwas anstellen müssen, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Gleichzeitig verwenden manche Eltern digitale Geräte, um Kinder ruhigzustellen. Vielen ist nicht bewusst, welche Folgen das haben kann.“
Ich bin nicht grundsätzlich gegen ein fallweises Handyverbot an Schulen. Aber ich halte nichts von einem allgemeinen, pauschalen Verbot. Denn Schule hat eine wichtige Sozialisationsaufgabe, und in unserer Gesellschaft sind digitale Geräte und künstliche Intelligenzen nicht mehr wegzudenken. Ich kann das nicht ausblenden oder ignorieren und glauben, dass damit alle Probleme verschwinden.
Eine problematische Nutzung lässt sich nicht an einer bestimmten Bildschirmzeit festmachen, sondern eher am Kontrollverlust und dem Auftreten von Folgeproblemen, etwa wenn ein Kind wegen seines Handykonsums Schlafstörungen bekommt, regelmäßig die Hausaufgaben nicht mehr macht oder sich aus Freundeskreisen zurückzieht. Das Zentrum für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters an der Hamburger Uniklinik Eppendorf spricht in seiner Langzeitstudie zum Thema von einer problematischen Smartphone-Verwendung, „… wenn eine selbstbestimmte und kontrollierte Mediennutzung nicht mehr möglich ist.“ Ansonsten dienen die offiziellen Diagnoserichtlinien der WHO für die „Computerspielstörung“ als Richtschnur: Kontrollverlust, Priorisierung des Spielens gegenüber anderen Lebensinhalten, Fortsetzung der Nutzung trotz negativer Konsequenzen, signifikante Beeinträchtigungen in persönlichen, sozialen, schulisch-beruflichen Lebensbereichen über eine Dauer von mindestens zwölf Monaten. Diese Definition erfüllen laut der jüngsten Studienwelle 6,1 Prozent der Zehn- bis 17-Jährigen. Eine riskante Social-Media-Nutzung, also eine, die noch nicht pathologisch ist, aber mehrere Risikofaktoren erfüllt, zeigen fast 25 Prozent – eine Verdreifachung gegenüber 2019. Bei rund 680.000 Kindern und Jugendlichen in dieser Alterskohorte entspricht das knapp 50.000 mit einem pathologischen Verhalten und etwa 170.000 Risiko-Kandidat:innen in Österreich.
Ein Tag ohne Handy?
Der Gruppendruck, an den sozialen Medien teilzunehmen, ist kaum zu überwinden. Das digitale Leben ist ein gewichtiger Teil des sozialen Lebens, WhatsApp auch deshalb unvermeidlich geworden. Die Problematik ist vielen Teenagern sehr bewusst. In einer Studie des Instituts für Jugendkulturforschung im Auftrag von Saferinternet.at gaben 35 Prozent der befragten 11- bis 17-Jährigen an, dass ihnen ihre digitalen Endgeräte „manchmal zu viel“ werden. 59 Prozent waren genervt davon, dass ihre Freunde zu häufig am Handy sind, 55 Prozent kritisierten sich selbst, weil sie so oft aufs Handy schauten. Auf die Frage, was „ein Tag ohne Handy“ gefühlsmäßig bedeuten würde, erklärten 60 Prozent, sie wären wohl „gelangweilt“, aber auch 30 Prozent, sei wären „entspannt“ und 16 Prozent „erleichtert“.
Auch in der schon erwähnten JIM-Studie wurde der „Überdruss an digitaler Kommunikation“ untersucht. 61 Prozent der 12- bis 19-Jährigen empfanden das Handy demnach als Zeitfresser, aber 37 Prozent befürchteten, etwas zu verpassen, wenn sie ihr Handy ausschalten. Für eine Studie der Universität von Chicago wiederum wurden 1000 College-Studenten, befragt, wie viel man ihnen zahlen müsste, damit sie ihre Instagram- oder Tiktok-Accounts vier Wochen lang deaktivieren. Ergebnis im Schnitt: 59 Dollar für TikTok, 47 für Instagram. Aber dann die entscheidende Folgefrage: Was würden sie verlangen, wenn auch alle anderen Studierenden an ihrer Hochschule zum Ausstieg bewegt werden würden? Plötzlich lag die geforderte Summe im negativen Bereich: Die Studenten wollten im Schnitt sogar dafür zahlen.
Angelika Hager
leitet das Gesellschafts-Ressort
Sebastian Hofer
schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur, ist seit 2020 Textchef dieses Magazins und zählt zum Kernteam von faktiv.