Spielplatz Abgrund

Brutalität im Fernsehen: Spielplatz Abgrund

Krimis. Angelika Hager über den Overkill an Brutalität im Fernsehen

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Ich war süchtig. Der eindeutige Beweis war, dass ich mir den klassischen Satz aller Suchtkranken mantramäßig zu sagen begann: „Ich kann jederzeit aufhören, nur heute noch, aber dann ist Schluss.“
Meine Sucht bezog sich vor allem auf die Serien „Criminal Minds“, „American Horror Story“ und „Nordlicht“, wo eine in ihrer Kindheit missbrauchte Kommissarin in Dänemark auf der Suche nach Gerechtigkeit unsägliche Qualen erleiden muss. Nach „Kommissarin Lund“, einer mehrfach preisgekrönten TV-Serie, die in den USA als Remake („The Killing“) produziert wurde, war ich auf die abgerockte, bizarr-poetische Düsternis, die skandinavischen Krimithrillern anhaftet, angefixt worden.
Mittels einer Funktion in meiner Kabelkanal-Box konnte ich den integrierten DVD-Rekorder so programmieren, dass er sich auf allen verfügbaren Kanälen die entsprechenden Sendungen suchte. Ein Overkill an Morden und Massakern – per einfachem Knopfdruck.

Ich habe einige Sender wie 13th Street, RTL Crime oder FOX im Kabelanbieter-Arrangement, die ausschließlich auf das Genre der „torture porns“ – wie das Hollywood-Branchenblatt „Variety“ das inzwischen auch im Fernsehen so erfolgreich angekommene Genre etikettierte –spezialisiert scheinen. „Torture porns“ sind ein Hybrid aus Horror, Thriller und den nahezu handlungsfreien und gewaltzentrierten „Splattermovies“ der 1970er-Jahre, garniert mit ein paar traditionellen Krimizutaten. Seinen Ursprung hat der Begriff in den Trash-Schockern „Blair Witch Project“, „Saw“ und „Paranormal Activity“, in denen vor einigen Jahren mit rauer Handkamera-Hektik und um wenig Geld junge, unabhängige Grunge-Filmemacher in groß karierten Flanellhemden und Strickmützen ihre Darsteller unaussprechlichen Grausamkeiten aussetzten und mit dem Zuschauerzuspruch bewiesen, wie untot das Horror-Genre beim Publikum ist.

Bequeme Secondhandadrenalinräusche
Doch inzwischen muss man sich nicht mehr außer Haus und in auf Schock und Schauer spezialisierte Programmkinos oder den Darkroom von Videotheken begeben, um sich in den wohlig-schaurigen Zustand der „Angstlust“ versetzen zu können. So nennen Medienpsychologen dieses kribbelige Gefühl aus Bedrohung, blankem Entsetzen und Panik in Kombination mit der Sicherheit, außer Gefahr an einem sicheren Ort zu sitzen, das einen so hohen Suchtfaktor besitzt. Denn längst hat sich auch das Fernsehen zu einer einzigen Schlachtbank verwandelt. Erwähnte Angstlust und die damit verbundenen Secondhandadrenalinräusche sind so billig und so bequem zu haben wie noch nie.

Auf allen Pay- oder auch nur Privatkanälen sieht man Frauen, die mit schreckgeweiteten Augen von ihren Peinigern bei lebendigem Leib mit Motorsägen zersägt werden; Kannibalen, die die Reste ihrer Opfer bei Obdachlosenausspeisungen verfüttern, psychotische Loser, die sich an den Frauen, die sie einst beim Highschool-Abschlussball zurückgewiesen haben, rächen, indem sie sie mit vorgehaltenen Messern zum Schlucken von Salzsäure zwingen. Unschuldige Familienväter, die in mit Urin angefüllten Badewannen ertränkt werden. Junge Mädchen, deren Leichen auf Elchgeweihen aufgespießt werden.

Grauenhaft, schrecklich, schockierend barbarisch – gewiss. Aber dennoch konnte ich – zumindest für eine gewisse Zeit – nicht genug von diesen perversen Totentänzen kriegen.

Es ist wie die ATV-Dokusoap mit Richard Lugner, bei der ihm immer wieder eine Teilzeit-Prostituierte mit einem Tiernamen an die Seite gepappt wird, oder einem Autounfall auf der Schnellstraße: Man will nicht hin-, kann aber auch nicht wegschauen. Dass man dranbleibt, hat auch – im Fall der Horrorserien – mit einer gewissen Form von Mutprobe zu tun. Man steigt in den Ring mit den eigenen Ängsten und möchte sich selbst beweisen, dass man in der Lage ist, sich diesen Szenarien bis zur bitteren Neige auszusetzen.

Der Kitzel des Konsums von Gewalt und Horror besteht aus einem gleichzeitigen Erleben von Gefahr und Geborgenheit, von Bedrohung und Rettung beim Publikum. Die Lust nach diesem emotionalen Konglomerat ist nichts Neues. Die antiken Tragödien, die Shakespeare‘schen Splatter-Dramen wie „Macbeth“ und „Richard III.“, die Grimm’schen Märchen, die Vampirromane des Bram Stoker und die schwarzen Geschichten von Edgar Allen Poe – sie alle befriedigten über die Jahrhunderte die menschliche Sehnsucht nach Entsetzen aus zweiter Hand. Dass sich gerade jetzt die Leichenberge im Fernsehen türmen, hat mehr mit der Eigendynamik von kommerziellen Erfolgen zu tun als mit einem Indiz für den gesellschaftlichen Zustand. Die Faszination des Bösen ist so alt wie die Menschheitsgeschichte.

Nach dem Horror-Hoch im Hollywoodkino war es nur eine Frage der Zeit, dass das Genre auch das Wohnzimmerkino flächendeckend ergreift. Erstaunlich war nur, wie barrierefrei und detailreich das Fernsehen mit Themen wie Inzest, Kannibalismus, Missbrauch und Sadismus umzugehen bereit ist. Jeder ambitionierte TV-Sender liegt inzwischen mit der Konkurrenz im Wettkampf um das quotenträchtigste Grauen. Die zwei erfolgreichsten Psychopathen der Pop-Geschichte – Hannibal Lecter aus „Das Schweigen der Lämmer“ und Norman Bates aus Hitchcocks „Psycho“ – wurden gerade mit eigenen Serien und neuen Darstellern für das Fernsehen reanimiert.

Doch was stellt der exzessive Konsum von Schockerlebnissen mit dem Zuschauer auf Dauer an?

Um meiner akuten Seriensucht einen Sinn zu geben, beschloss ich, einen Selbstversuch zu starten. Ich wollte wissen, wie sehr sich der tägliche Konsum von Sadismus, Folter und Todesangst auf meine Psyche auswirkte. Studien zum Zusammenhang von Verhaltensauffälligkeiten, psychischen Veränderungen und dem Konsum von Gewalt in den Medien gibt es zu hunderten, wenn nicht zu tausenden. Inzwischen hat sich die Wissenschaft interdisziplinär auf folgenden Konsens geeinigt: Der Konsum von Gewalt in Filmen und Serien steigert bei Jugendlichen und Kindern erwiesenermaßen die Bereitschaft, selbst gewalttätig zu werden, falls sie im realen Umfeld dazu die Gelegenheit bekommen. Die These, dass Blutbäder im Fernsehen beim Rezipienten aggressionslindernd wirken, weil er so die Chance bekäme, seine eigenen dunklen Neigungen abzureagieren, ist inzwischen genauso veraltet wie der Zugang, dass Gewalt- und Horrorkonsum aus prinzipiell friedlichen Teenies Mini-Conans werden lassen.

Empathie und Hysterie
Mit meiner neuen Kabelfernsehbox musste ich für solche abartigen Vergnügungen nicht mehr auf zwielichtigen Streaming-Foren in schlechter Auflösung „binge-viewing“ betreiben, wie die Medien-Psychologen – in Anlehnung an den Terminus für unkontrolliertes Essverhalten – exzessiven TV-Konsum neuerdings bezeichnen, sondern konnte mir unter der Rubrik „Meine Aufnahmen“ bequem sieben Folgen von „Criminal Minds“ am Stück reinziehen. „Criminal Minds“ ist eine Serie, die unter dem Deckmantel der wissenschaftlichen Analyse die härtesten Perversionen und Torturen vorführt. Eine Truppe von FBI-Agenten, allesamt geschlagen mit einem lausigen Privatleben und einer völlig in Schieflage geratenen Work-Life-Balance, bilden eine auf Verhaltensanalysen von Mördern und Serienkillern spezialisierte Einheit, die in allen Bundesstaaten der USA auf Abruf die überforderte Lokalpolizei bei der Jagd auf örtliche Monstren unterstützt. Im Gegenschnitt zu den FBI-Meetings, bei denen sich die Ermittlerfamilie vor einer Pinwand zusammenrottet, auf der in der Regel die Leichen der Opfer arrangiert sind, und Analysen à la „Ich sehe kein Opfermuster, er tötet impulsgetrieben“ oder „Offensichtlich geht es ihm um Macht und Kontrolle, deswegen musste er Tracy die Zunge rausschneiden!“ tätigt, kann man den Opfern beim Leiden zusehen, das fast immer auf dem gleichen Plot basiert: Eine junge, frisch und gesund aussehende, (meist) blonde Frau wird von einem Psycho-Nerd in der Öde von Suburbia gekidnappt und geknebelt und gefesselt in seinen Hobbykeller verfrachtet, wo sie genussvoll und langsam mit raffinierten Folterinstrumenten in den Wahnsinn oder den Tod getrieben wird. Der Frauenhass des Psycho-Nerds basiert meistens auf einer traumatischen Kindheitserfahrung (davongelaufene Mutter, saufender, liebloser Vater). Vom feministischen Standpunkt ist die Häufigkeit dieses Plots natürlich bedenklich – abgesehen von vereinzelten Ausnahmen in Form von Serienkiller-Groupies, die zu Nachahmungstäterinnen mutieren, und ein paar Giftmörderinnen sind die Frauen auf das Opferlämmer-Genre beschränkt. Auffallend auch, dass just jene Frauen, die eine Karriere als Immobilienmaklerin oder Rechtsanwältin haben, häufig kinderlos und single sind und genau deswegen auch zur leichten Beute perverser Psychopathen werden. Backlash – volle Kraft voraus.

An mir selbst bemerkte ich, dass mit der Dauer des Konsums mein Empathiegefühl abnahm und die Torturen der Opfer mich mit einer gewissen Gleichgültigkeit erfüllten. Der Mangel an Mitgefühl gilt in der Psychiatrie als eines der wesentlichen Merkmale von Psychopathen. Sie sind in der Lage, ihren Empathieschalter je nach Bedarf ein- und auszuknipsen. Ein Phänomen, das sich scheinbar auch beim Zuschauen einzustellen beginnt. Richtig unter Schock stand ich beim langsamen Eintauchen in „American Horror Story“ des US-Kabelsenders FX (in Deutschland auf FOX ausgestrahlt), der alles bisher Gesehene zur Kinderjause stempelte. In einer Tim-Burtonesken Camp-Ästhetik liefert uns der US-Serienhit der vergangenen Saison patientenpeitschende Domina-Nonnen (ein fulminantes Comeback für Jessica Lange), inzestuöse Mütter, die ihren eigenen Söhnen einen runterholen, oder eine Südstaaten-Messalina in Form von Kathy Bates, die im Keller ihre Sklaven aufhängen lässt und ihnen literweise Blut für ihre Ewige-Jugend-Tinktur abzapft. Wie die Zombie-Fernsehserie „The Walking Dead“ ist aber auch „American Horror Story“ von einer so überinszenierten Hysterie, dass man sich manchmal einfach nur nicht sicher ist, ob die Drehbuchautoren minderwertige Drogentrips eingeworfen haben oder sich zwischen Satire, Scream-Movie und Farce einfach nicht entscheiden konnten. Möglicherweise könnte man ihre Erfindung der Killer-Vagina, mit der sie ihre jungen Hexen in der dritten Staffel ausstatten, sogar als radikal-feministisches Statement werten. Denn sobald ein Mann in einem solchen Geschlechtsteil versinkt, explodiert sein Hirn und er stirbt.

Vielleicht ist die Antwort auf alle Interpretationsfragen aber doch viel einfacher, als man glaubt. In der Kino-Schlitzersaga „Freitag, der 13.“ kommentiert ein Totengräber den Hype um den maskierten Serienkiller Jason wie folgt: „Some folks just have a strange idea of entertainment.“