Streit

Liebesbeziehungen und Familie: Richtig Krach machen

Wir müssen streiten – aber wie? Einige sachdienliche Hinweise aus der Psychologie.

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Sigmund Freud war von nahezu manischer Streitlust. Wer eine seiner Theorien auch nur infrage stellte, wie etwa seine Mitstreiter Alfred Adler oder Carl Gustav Jung, wurde erbarmungslos aus seinem Zirkel eliminiert. Zahlreiche Briefe dokumentieren, dass der Begründer der Psychoanalyse seine abtrünnigen Jünger oft noch Jahrzehnte danach mit Hass und Häme verfolgte. Freud erlebte bei seinen ehemals geliebten „Kronprinzen“ das, was er selbst einmal so skizzierte: „Wir sind niemals so schutzlos gegen Leiden, wie wenn wir lieben.“

Die Titelgeschichte dieser profil-Ausgabe ist dem Streit als gesellschaftspolitischem Instrument gewidmet. Im besten Fall ist dieser ein Transportmittel hin zu neuen Erkenntnissen. Auf privatem Terrain hingegen, in Liebesbeziehungen, nach Trennungen,  zwischen Eltern und Kindern, im verwandtschaftlichen Umfeld oder auch in Freundschaften, folgen Konflikte selten den Gesetzen argumentativer Logik, sondern werden zu einem Tretminenfeld, in dem frühere Kränkungen, Abwertungen oder verdrängte  Kontroversen in unvorhergesehenen Explosionen hochgehen können. Sachlichkeit wird zu einer vergessenen Größe, wenn das eigene Emotionsmanagement Lücken aufweist.

Das globale Dorf konnte kürzlich über Wochen einer solch toxischen Dramaturgie beiwohnen: Zahllose Tonbandmitschnitte von Hardcore-Streiten zwischen Hollywoodstar Johnny Depp und seiner Ex-Frau, der Schauspielerin Amber  Heard,  wurden in einem Gerichtssaal in Fairfax, Virginia, einem streamenden Millionenpublikum vorgeführt. Amber Heard: „Drück deine Zigarette das nächste Mal auf jemand anderem aus.“ –  Johnny Depp: „Halt die Klappe, Fettarsch!“ Depp an anderer Stelle: „Weggehen ist überlebenswichtig (…) Wenn ich nicht weggehe, wird es ein Blutbad geben.“ 

Die Besessenheit, mit der dieser Prozess auf Tausenden Instagram-Accounts und Tiktok-Clips kommentiert und persifliert wurde, spiegelt auch eine Form von Erleichterung darüber wider, dass es in scheinbar glamourösen Hollywoodhaushalten genauso zugeht wie in den finstersten Winkeln eines von arbeitslosen Alkoholikern bewohnten Trailerparks. Das Urteil ging letzte Woche zu Gunsten von Johnny Depp aus. Die Hexenjagd auf Heard wird von vielen Feministinnen zu Recht als deutlicher Backlash in Richtung alte Klischees empfunden. 

Diese apokalyptische Konstellation, in der die Täter- und Opferrollen in ständigem Wechselspiel stehen, ist gewissermaßen die Cinemascope-Variante eines Beziehungskonstrukts, das auch in zahlreichen Selbsthilfegruppen in den sozialen Medien durchexerziert wird. Wenn man auf Facebook die Begriffe „Narzissmus“, „psychische Gewalt“ oder „emotionaler Missbrauch“ eingibt, wird einem ein reichhaltiges Angebot an einschlägigen Foren vorgeschlagen. Sie nennen sich „Der Narzisst & Du“, „Expartnerinnen von Narzissten“ oder „Raus aus der Opferrolle“ und sind vorrangig für Frauen ausgerichtet.

Der Vorarlberger Psychiater und Bestsellerautor Reinhard Haller ist Spezialist für emotionale „Darkrooms“: Narzissmus, die Macht der Kränkung, neue Spielformen der Rache, wie wir sie bei den aktuellen Femiziden erleben, waren die Themen seiner letzten Bücher. In seinem neu erschienenen Werk „Die dunkle Leidenschaft – Hass“ betreibt Haller, der für seine Gerichtsgutachten in die Psyche von Serienkillern, Frauenmördern, Familienauslöschern, Amokläufern und Terroristen tauchte, Ursachenforschung zum negativsten aller Gefühle. Die Statistiken der Interventionsstellen für häusliche Gewalt zeigen ein verlässlich schockierendes Bild: Mehr als 90 Prozent der weiblichen Opfer kennen ihre Mörder. Sie sind Ehemänner, Ex-Partner, stammen aus dem verwandtschaftlichen Umfeld oder Bekanntenkreis.

„Wenn sich Machtverhältnisse verschieben, beginnen auch schon die Probleme.“

Reinhard Haller

Psychiater

Die aktuelle Opferstatistik dieses Jahres registriert bereits zwölf weibliche Opfer, die alle in enger Beziehung zu den Tätern standen. Während einer Gefängnisreportage, für die profil häusliche Gewalttäter interviewte (Nr. 32/2015),  waren als Rechtfertigung immer die gleichen Sätze zu hören: „Ich wusste mir nicht mehr anders zu helfen“, „Ich fühlte mich wie ohnmächtig“ und „Ich bin mit dem Rücken zur Wand gestanden.“ „There is a thin line between love and hate“ –  die Linie zwischen Liebe und Hass ist dünn, sangen einst The Pretenders. Der auch als Paartherapeut arbeitende Reinhard Haller fügt im profil-Interview hinzu: „Paarbeziehungen sind immer auch Machtkämpfe. In meine Praxis kommen die Paare oft viel zu spät. In dem Moment, in dem sich die Machtverhältnisse verschieben, beginnen auch schon die Probleme. Der Ursprung vieler Frauenmorde findet sich in einer Verschiebung solcher Machtverhältnisse.

Dann setzt meistens folgende Dramaturgie ein: Nachdem sie verlassen wurden, versuchen Männer es zuerst mit einem Appell an die Vernunft, dann beginnen sie zu weinen, brechen zusammen, in weiterer Folge kommt es zu Drohungen, danach  greifen sie zu den primitivsten Mitteln, Hass und Gewalt.“ In den letzten Jahren registrierte Haller auch eine entscheidende Veränderung des Tätertyps bei Femiziden: „Während früher solche Tragödien häufig aus einem Affektdelikt entstanden, weil ein Streit eskalierte  und ein Mann zum Küchenmesser griff, sind solche Taten heute oft von langer Hand geplant. Gefängnisstrafen werden dann oft ohne Reue hingenommen. Solche Täter empfinden ein Hochgefühl, dass jetzt die ausgleichende Gerechtigkeit wiederhergestellt ist.“ 

Eine der größten gesellschaftlichen Bedrohungen ist für Haller  die wachsende „Vereinsamung“. In der Isolation wachse die Aggression und die Kränkung. Haller sieht in dem als „ruhig und unauffällig“ beschriebenen 18-jährigen Täter des Schulmassakers in der texanischen Kleinstadt Uvalde, das am vergangenen Dienstag 19 Kindern und zwei Lehrerinnen das Leben kostete, ein klassisches Profil solcher „Einzeltäter“: „Sein einzig nachvollziehbarer Kontakt  war eine 15-jährige Schülerin in Deutschland. Solche Typen sind von einem starken Nihilismus geprägt, sie empfinden sich als bedeutungslos und begehen ihre Taten auch, um weltweite Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Dafür nehmen sie den Tod in Kauf.“ 

Dass Massenerschießungen häufig in Schulen passieren, ist für den Vorarlberger Psychiater logisch: „Schulen sind Orte, an denen viele Kränkungen ihren Anfang nahmen.“ Dass solche Massenexekutionen  häufig von Menschen ausgeübt werden, denen die Attribute „introvertiert und zurückhaltend“ anhaften, liege daran, „dass der sich tot stellende Mensch (im Gegensatz zum kämpfenden Menschen) seine Aggressionen ins innere Ich ableitet, wo sie implodieren können“. Menschen, die immer alles hinunterschlucken, sind auch gefährdeter für psychosomatische Beschwerden wie Rückenprobleme oder Herzbeschwerden.

In einem Zeitalter „der sterilen Ausdrucksbehübschung“, wo „laut kommunizierte Gefühle“ nichts verloren haben, so die Linzer Psychiaterin Heidi Kastner in ihrem Buch „Wut“,  lebe man „glücklicher, gesünder und erfolgreicher“, wenn man die „emotionalen Karten“ auf den Tisch legt. Der platte Sager „Der Ton macht die Musik“ gilt dennoch, denn diese emotionalen Karten sollten frei von Abwertungen, Bloßstellungen, Beschämungen und Zynismus sein; vor allem in Konflikten mit Menschen, die einem nahestehen. Wie immer ist die Kindheit nicht an allem, aber doch an vielem schuld: Taumelten schon die Eltern bei Konflikten in toxischen Abwertungsspiralen und waren nicht in der Lage, ihre Bedürfnisse zu artikulieren, muss die Gesprächskultur in der nächsten Generation erst mühsam erlernt werden. 

Die Ratgeberliteratur füttert Lernwillige inzwischen mit einem ganzen Arsenal an Kommunikationsregeln: Ich-Botschaften statt Du-Botschaften, also nicht „Du kommst immer zu spät“, sondern „Ich mache mir Sorgen, wenn du zu spät kommst“; Vereinbarung eines gemeinsamen Stoppworts, wenn Kränkungsterrain betreten wurde; eine Auseinandersetzung „als notwendigen Akt gegenseitiger Anerkennung zu begreifen“ und nicht als Angriff, wie die deutsche Feministin Meredith Haaf in ihrem Buch „Streit!“ fordert. Im Idealfall, so der österreichische Konfliktforscher Friedrich Glasl im Magazin „Psychologie heute“, erleben beide Parteien die jeweiligen Unterschiede als „bereichernd“ und empfinden „das Nachgeben in einer Angelegenheit nicht als Verlust des Selbstwerts“. Doch in der Hitze von emotional unterwanderten Gefechten werden brav erlernte Regeln auch gerne wieder über Bord geworfen.

Will man den Pas de deux mit einem Gegenüber mit starken narzisstischen Persönlichkeitsanteilen bewältigen, dann wird die Sache nicht nur schwierig, sondern fast unmöglich. Haller, der 
bereits vor einem Jahrzehnt die Studie „Die Narzissmus-Falle“ publizierte, sieht im Fall  des Kreml-Chefs Wladimir Putin das prototypische Beispiel einer „narzisstischen Entwicklung“: „Ich bin gegen Ferndiagnosen, aber bei Wladimir Putin ist klar ersichtlich: Kein Korrektiv wird mehr geduldet, im engsten Kreis befinden sich nur Speichellecker und Jubelknechte, jede Form von Kritik wird als Majestätsbeleidigung empfunden.“

Bei derart gelagerten Typen gebe es auch im privaten Terrain nur eine Möglichkeit: „Man muss ihnen das Gefühl geben, dass sie ihr Gesicht wahren und eigentlich der Sieger sind. Menschen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung empfinden Streit nicht als Wettbewerb der Ideen, sondern als Möglichkeit für die Unkultur der Beschämung und des Niedermachens. Da geht es vor allem darum, das Ich auf Kosten anderer auszuleben.“ Die schlechte Nachricht: Die narzisstische Persönlichkeitsstörung gilt als schwer therapierbar; immerhin sind trotz inflationärer Diagnostik in der Populärpsychologie nur geschätzte 1,2 Prozent der Bevölkerung davon betroffen.

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Angelika   Hager

Angelika Hager

leitet das Gesellschafts-Ressort