Madonna als Schutzheilige der Popkultur
Pop-Comeback

Madonnas Auferstehung: „Bitches, I’m still here“

In den letzten Jahren schien die einflussreichste Popkünstlerin der Welt oftmals zu einer Lachnummer zu verkommen. Madonnas Tour-Comeback setzt der Häme ein Ende. Ihr Weg aus dem Spott-Light beeindruckt.

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Der Teaserclip für ihre aktuelle „Celebration“-Tour lässt Reminiszenzen an die 1990er-Jahre aufkommen. In dem Dokumentarfilm „In Bed With Madonna“ spielte Madonna mit ihren Tänzerinnen und ihren Assis „Truth or Dare“, jenes Wahrheitsspiel, in dem man entweder eine meist unangenehme, persönliche Frage beantworten oder eine explizit obszöne Aufgabe erfüllen muss. Der Blowjob, den Madonna im Zuge dieses Spiels damals einer Evian-Flasche verpasst hatte, versetzte der Welt Schockschauer. In dem „Celebration“-Clip fordert Comedy-Supermacht Amy Schumer (nach einer cunnilinguistischen Pantomimen-Performance) ihre Freundin auf, doch endlich eine Welttour zu machen, wo sie ihr Hitrepertoire aus vier Jahrzehnten reanimieren möge. „Wirklich“, stellt Madonna die rein rhetorische Frage, „glaubst du wirklich, dass die Leute das sehen wollen?“

Nur vier Monate, nachdem sie eine bakterielle Infektion knapp überlebt hatte, bespielt Madonna also seit Mitte Oktober ganz Europa (in nahezu ausverkauften Shows, das teuerste Ticket kostet 679 Euro), danach wird es in die USA weitergehen. Die 65-jährige Mutter von vier Adoptivkindern aus Malawi und zwei eigenen setzt dabei jene Faktoren ein, die das Leitmotiv ihrer vier Dekaden umspannenden Künstlerinnen-Existenz ergeben: Provokation und Tabubruch. Denn dass eine Frau in diesem Alter noch die Dreistigkeit besitzt, im „Nuttenlook“ (so Alice Schwarzer in einem profil-Interview) und einem Gesicht, das mit Botox und Schnitttechnik zu eisernem Gehorsam gezwungen worden ist, über eine bombastische, mit reichlich Hightech und Videowalls aufgemotzte Bühne zu toben, gilt eigentlich per se als Geschmacksverletzung. Solche Extravaganzen gestattete die kollektive Meinung bestenfalls Tina Turner, die noch mit 70 stimmlich jedes Popküken vom Platz und über 20 Meter hohe Kranvorrichtungen fegte. Aber Madonna besaß nie Turners Performance-Genie, sie selbst bekannte: „Ich weiß, dass ich nicht die beste Sängerin und auch nicht die beste Tänzerin bin, aber ich mache das Beste daraus.“

Madonna in den 1980er-Jahren

Tatsächlich zog Madonna Louise Ciccone, die in ihren Anfängen in New York „Männern Blowjobs verpasste, nur weil sie Duschen besaßen“ (wie sie in London bei der „Celebration“-Premiere erzählte) aus ihren überschaubaren Talenten den prägendsten Einfluss, den je eine Künstlerin im 20. (und bislang auch im 21. Jahrhundert) auf das Showbiz ausübte: Sie erhob Feminismus und weibliche Selbstbestimmung mit dieser nonchalanten Fuck-you-Attitüde zu einer Kunstform, veredelte sexuelle und religiöse Tabubrüche in Shows zu hypertheatralischen Inszenierungen und kämpfte schon lange, bevor das zum guten liberalen Ton gehörte, für die Rechte von Homosexuellen und gegen Rassismus.

Madonna im berühmten Gaultier-Korsett

Madonna war eine Aktivistin, die keine Rednerpulte brauchte, sondern in ihrer Kunst und ihren medialen Selbstinszenierungen einen Humanismus predigte, der seiner Zeit voraus war. In der aktuellen Show lässt sie Fotos ihrer an AIDS gestorbenen Freunde, darunter Graffiti-Künstler Keith Haring und der Fotograf Robert Mapplethorpe, auf Wände projizieren. Ihr Image schärfte sie stets, indem sie es ständig wechselte und sich neu erfand: Kaum hatte sie sich in S&M-Posen in einer Hotelzimmer-Orgie im „Justify My Love“-Video geräkelt, erschien sie weniger später schon im romantischen Loreley-Look auf dem „Ray of Light“-Albumcover. Mithilfe einer Armada aus Stylistinnen, Fotografen, extrem jungen Liebhabern, lesbischen Intermezzi (erinnern wir uns an den erwachsenen Kuss mit Britney Spears) und eines Hofstaats an exzentrischem Personal, das direkt aus Andy Warhols Factory oder dem New Yorker Club „Paradise Garage“ (zwei von Madonnas Selbstfindungsstationen) entsprungen schien, erhob sie sich zu einem bis dato nie da gewesenen popkulturellen Gesamtkunstwerk.

Kritiker, die sich über Madonnas dünne Stimme und ihren oft überproduzierten Einheitsbrei an Musik beklagten, verpufften in der Bedeutungslosigkeit. Der euphorisch rezensierte Auftakt der „Celebration“-Tour erleichtert nun – vor allem jene Generation, die mit Madonna erwachsen wurde. Denn in den letzten Jahren war die Queen of Pop durch ihre Instagram- und TikTok-Auftritte zunehmend zur Lachnummer verkommen.

Ich habe Männern Blowjobs verpasst, nur weil sie Duschen besaßen.

Madonna

Tiefe Einblicke beim Tourauftakt in London

In bemüht lasziven Posen und ebensolchen Outfits, mit einem bis zur Unkenntlichkeit renovierten Gesicht, versuchte Madonna den Jahren zu trotzen und Unverwundbarkeit zu simulieren. Mit gegenteiligem Effekt: So einsam, verwundet und pathetisch wie in jenem Auftritt, in dem sie sich vor einen Hundenapf kniete und an das laszive Schockrepertoire vergangener Tage anknüpfen wollte, hatte sie nie zuvor gewirkt. „Oma wandert schon wieder durch die Nacht“, kommentierte ein TikTok-Besucher einen solchen Auftritt, „kann sie bitte wieder jemand ins Bett bringen?“ Und der Satz, den sie durch das Netz warf, nachdem sie ihre Einsamkeit mit entblößtem Oberkörper in ihrer Zeit in Lissabon artikuliert hatte und die Kommentare sich vor Mitleid überschlugen, lautete: „Bitches, I’m still here!“

Mehr Bedeutung als aktuell hatte dieser Satz nie zuvor. Madonna, vergib uns unsere Schuld!

Angelika   Hager

Angelika Hager

leitet das Gesellschafts-Ressort