Mensch des Jahres 2012

Malala Yousafzai: Ich bin Malala

Malala Yousafzai: Der Mensch des Jahres 2012.

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Der letzte Satz, den sie sagte, bevor ihr aus nächster Nähe ins Gesicht geschossen wurde, war ein schlichtes Bekenntnis zu sich selbst: „Ich bin Malala.“

Wenige Augenblicke zuvor hatten bewaffnete Männer den Schulbus gestoppt, einer war eingestiegen und im Mittelgang gestanden. „Wo ist Malala? Wer ist Malala?“, fragte er, sein Blick streifte über die mit Teenagern besetzten Bankreihen. Als das einzige Mädchen ohne Schleier vor dem Gesicht aufsah und ihm antwortete, zog er eine Pistole und drückte sofort ab.

Das Projektil durchschlug die linke Seite von Malalas Stirn, zertrümmerte Ober- und Unterkiefer, trat seitlich wieder aus und blieb in der Schulter stecken.

„Die Scharia erlaubt es, selbst Kinder zu töten, wenn sie antiislamische Propaganda machen“, Malala sei zudem ein „Symbol der Ungläubigkeit und der Obszönität“: So rechtfertigten die pakistanischen Taliban die Bluttat am Tag danach als legitime Bestrafung.

Malala Yousafzai, 15 Jahre alt, Tochter eines Schuldirektors aus der Stadt Mingora, Distrikt Swat, Pakistan: Die „Obszönität“, die ihr zur Last gelegt wurde, bestand darin, sich dafür einzusetzen, dass in ihrer Heimat auch Mädchen die Schule besuchen dürfen, und diese Forderung öffentlich zu vertreten.

Zu einem Symbol ist Malala, die das Attentat schwerst verletzt überlebt hat, tatsächlich geworden. Allerdings in einer Art und Weise, die ihre Angreifer wohl kaum erwartet hätten.

Malala steht nunmehr für den Widerstand gegen die Zwänge, denen Mädchen und Frauen in archaisch geprägten Gesellschaften unterworfen sind – namentlich in der muslimischen Welt, aber bei Weitem nicht nur dort; für den unbedingten Willen zu Bildung, Fortschritt und Modernität gegen schwierigste Bedingungen; für Zivilcourage unter Einsatz des eigenen Lebens.

Ihr Schicksal erinnert zudem an die brandgefährliche Lage in Pakistan, der instabilsten Atommacht der Welt; an die dramatischen Fehlschläge im „Krieg gegen den Terror“; nicht zuletzt aber auch daran, dass der Irrsinn der Islamisten letztlich nur eine Minderheitenposition unter gläubigen Muslimen ist.

Das sind die Gründe, aus denen Malala Yousafzai für die Redaktion von profil der „Mensch des Jahres 2012“ ist.

Man kann die Geschichte von Malala auf zwei Arten erzählen: Die eine handelt von Gewalt, Unterdrückung und einem bösen Ende, die andere von Auflehnung, Mut und der Hoffnung, dass aus einer Tragödie ein Aufbruch werden kann.

Beide haben ihre Berechtigung.

*

Dass Mädchen und Frauen weitgehend von Bildung ausgeschlossen und permanent von Gewalt bedroht sind, ist in Teilen der islamischen Welt – aber bei Weitem nicht nur dort – Realität: In vielen ­Regionen Indiens zum Beispiel ist ihre Lage ähnlich, in den Kriegsgebieten Afrikas, etwa dem Ostkongo, sogar noch schlimmer.

Es ist ein so alltäglicher Skandal, dass die Weltöffentlichkeit kaum Notiz davon nimmt. Dennoch herrschen in Pakistan, genauer gesagt im Nordwesten des Landes, besonders schlimme Zustände.

Sie sind untrennbar mit der Situation im benachbarten Afghanistan verbunden, und die Gründe dafür reichen bis weit in die Geschichte zurück. Da ist zunächst die archaische Stammeskultur der Paschtunen, also der im Grenzgebiet beider Länder dominierenden Volksgruppe, die ihren Ausdruck unter anderem im Paschtunwali findet: einem Ehrenkodex, der in der vorislamischen Zeit wurzelt, aber immer noch Gültigkeit besitzt. Dazu kommt eine besonders rigide Religionsauslegung, die sich an den Deobandismus anlehnt, eine in Indien entstandene, besonders radikale Form des Islam – und auch vom saudi-arabischen Wahhabismus beeinflusst ist.

All das war der Nährboden für die Entstehung der Taliban Mitte der 1990er-Jahre. Die Welt nahm die radikalislamischen Gotteskrieger aber die längste Zeit nicht als das grenzübergreifende Phänomen wahr, das sie waren – konnte es auch gar nicht, weil weite Teile Pakistans für Staat und Behörden seit jeher eine „No-go-Area“ waren: Die Rede ist von den autonomen Stammesgebieten, den so genannten FATAs (Federally Administered Tribal Areas), in die sich weder Armee noch Polizei vorwagten. Lediglich Agenten des berüchtigten Geheimdiensts ISI (Inter Services Intelligence) trieben dort ihr Unwesen, unterhielten beste Verbindungen zu den Taliban sowie anderen radikalen Islamistengruppen und steuerten diese auch für ihre eigenen, undurchsichtigen Zwecke.

1996 kommen die Taliban nach einem mehrere Jahre dauernden Feldzug in Afghanistan an die Macht.

1997 wird in Mingora dem Schuldirektor Ziauddin Yousafzai und seiner Frau eine Tochter geboren. Sie geben ihr nach einer paschtunischen Kriegerin und Dichterin den Namen Malala – das bedeutet, wie das Mädchen selbst später in einem Blog schreiben wird, „kummervoll“.

Noch ist der Distrikt Swat, die Heimat der Familie, ein friedliches, fast paradiesisch anmutendes Tal. In der Nordprovinz Khyber Pakhtunkhwa gelegen, gilt es als angesagte Urlaubsadresse für die pakistanische Oberschicht und als beliebte Filmkulisse. Sogar ein Skigebiet existiert hier, mit Sesselliften und einem schicken Hotel.

Die Landschaft ähnelt stark den Alpen: schroffe Berge, immergrüne Nadelwälder, Flusstäler. In der Ortschaft Jahanabdal zeugt ein vier Meter hoch in Fels gemeißeltes Buddha-Bildnis – das zweitgrößte nach den Statuen von Bamiyan in Afghanistan – davon, dass hier nicht immer der Islam vorherrschend war.

Von Mingora, der Hauptstadt von Swat, ist es allerdings auch nicht weit zur Grenze. Schmugglersteige, die nur Einheimischen bekannt sind, führen hier über das Gebirge nach Afghanistan.

Es sind diese Pfade, über die sich der Terror in das Swat-Tal schleicht.

*

Als 2001 die Anschläge von 9/11 stattfinden, ist Malala vier Jahre alt. Die USA greifen Afghanistan an und stürzen gemeinsam mit einer Koalition aus usbekischen und tadschikischen Kriegsherren das Taliban-Regime. Aus dem zerfallenden Gottesstaat setzt eine Fluchtbewegung ein, sie führt die geschlagenen Islamisten nach Süden und nach Osten, in die paschtunischen Stammesgebiete.

Auch Malalas Familie gehört zur Volksgruppe der Paschtunen, sogar zu einem der größten und einflussreichsten Stammesverbände – den Yousafzai. Das hat einige Bedeutung in einer Kultur, in der die Clans immer noch eine dominierende Rolle spielen: Es verheißt einen gewissen Schutz, aber keineswegs absolute Sicherheit.

Malala Yousafzais Familie zählt nicht zur Oberschicht. Aber der Vater, Ziauddin, hat Ambitionen. Er betrachtet sich als Bildungspionier und hat als solcher die Kushal Public School gegründet, die mehrere Schulen betreibt. Benannt ist sie nach dem paschtunischen Dichter Khushal Khan Khattak. „Für mich ist der Tod besser als das Leben, wenn das Leben nicht mehr in Würde gelebt werden kann“, heißt es in einem seiner Werke.

Das Engagement Yousafzais hat Pakistan bitter nötig. Mehr als fünf Millionen Kinder, die meisten davon Mädchen, gehen nicht zur Schule. Nur 40 Prozent aller Frauen haben eine Ausbildung. „Nicht nur die Taliban halten Mädchen davon ab, in die Schule zu gehen“, sagt Usama Hasan, ein ehemaliger britisch-pakistanischer Islamist, der sich inzwischen zum Liberalen gewandelt hat und bei Quilliam, dem ersten Anti-Extremismus-Thinktank in London, arbeitet. „Viele Pakistanis sind sehr konservativ, und sie behalten die Mädchen zu Hause. Teilweise, weil sie es nicht
für nötig halten, dass Frauen lesen und ­schreiben lernen, teilweise auch deshalb, weil es nicht sicher genug ist. Mädchen werden belästigt, gestohlen, manchmal verschwinden sie einfach.“

In den Großstädten sei die Lage allerdings besser, argumentiert der pakistanische Historiker, Autor und Filmemacher Tariq Ali: „Dort gibt es Mädchenschulen und sogar gemischte Universitäten.“

Dennoch: Das öffentliche Bildungssystem liegt darnieder, während mit Spendengeldern aus Saudi-Arabien und anderen Emiraten überall im Land streng konservativ ausgerichtete Koranschulen aus dem Boden gestampft werden.

Dort sind nur Buben zugelassen, und Buben sind dazu ausersehen, ihre Eltern im Alter zu versorgen. In Söhne wird daher weitaus mehr investiert als in die Töchter, die vor allem eines sollen: möglichst bald heiraten.
Malalas Vater ist in dieser zutiefst pa­triarchalischen Kultur eine Ausnahme­erscheinung. Seine Kushal Public School richtet sich ausdrücklich auch an Mädchen, und gerade seine eigene Tochter soll eine möglichst gute Ausbildung bekommen.

2004 wird Malala eingeschult. Sie lernt leicht und gut, ihr Vater fördert sie, vielleicht treibt er sie auch an. Es ist die Zeit, in der sich die aus Afghanistan vertriebenen Taliban langsam neu zu organisieren beginnen. Von Pakistan aus planen sie Terroraktionen gegen die neue Regierung in Kabul, und das Swat-Tal ist dabei aufgrund seiner Lage zum Standort einiger ihrer wichtigsten Stützpunkte geworden.

Noch ist in Mingora nicht viel von der Präsenz der Gotteskrieger zu bemerken. Aber das wird sich bald ändern.

*

Zunächst sind sie nur zu hören: Sie sprechen über einen Piratensender, den der radikale Prediger Maulana Fazalullah 2006 gegründet hat, zu den Leuten von Swat. Nacht für Nacht verbreitet der Mann mit dem Spitznamen „Radio-Mullah“ über mobile Transmitter auf Motorrädern oder Kleinlastern Botschaften und Befehle – ruft zum heiligen Krieg auf, fordert die Einführung der Scharia, verdammt Verräter und verkündet Todesurteile. Fazalullah ist der Kommandant einer Gruppe namens Tahreek Nifaz-e-Shariat Mohammadi, die an die 5000 Mann unter Waffen hat und der enge Verbindungen zum Terrornetz Al Kaida und den afghanischen Taliban nachgesagt werden. Seine Kämpfer liefern sich immer wieder blutige Auseinandersetzungen mit den pakis­tanischen Sicherheitskräften. 2007 haben sie bereits 59 Dörfer im Swat-Tal unter ihre Kontrolle gebracht und in ein „Kalifat“ verwandelt, in dem die Scharia gilt.

Es braucht 20.000 pakistanische Soldaten, die Fazalullahs in einer Koranschule gelegenes Hauptquartier wochenlang belagern, um die Macht des „Radio-Mullahs“ vorläufig zu brechen. Besiegt sind die Taliban in Swat deswegen aber noch lange nicht. Malalas Vater verfolgt die Entwicklung mit Besorgnis. Das Mädchen selbst, inzwischen zehn Jahre alt, ahnt vermutlich ebenfalls, was auf dem Spiel steht, wenn sich die radikalen Islamisten durchsetzen.

Ein Jahr später, 2008, wendet sich Malala zum ersten Mal an die Öffentlichkeit – sie hält einen Vortrag im Presseklub von Peshawar, der nächstgelegenen Großstadt. „Wie können es die Taliban wagen, mir das grundlegende Recht auf Bildung zu nehmen?“, sagt sie dabei. Fernsehstationen und Zeitungen berichten ausführlich.

Eingefädelt hat den Auftritt ihr Vater, und es steht außer Zweifel, dass es die Ikone Malala ohne sein Zutun nicht gegeben hätte: Oder wäre es denkbar dass eine Elfjährige komplett aus eigenem Antrieb gegen eine unumstößliche, von patriarchalischen Traditionen und religiösen Gesetzen verkrustete Gesellschaftsordnung anrennt? Wohl kaum.

Drängt Ziauddin Yousafzai seine Tochter zu sehr? Ist er sich des Risikos bewusst, dem er sie, seine Familie und sich selbst aussetzt? Hat er die Worte des Namensgebers seiner Schule vom Tod, der einem unwürdigen Leben vorzuziehen sei, zu sehr verinnerlicht? Sicher scheint bloß: Ziauddin ist ein Getriebener der guten Sache.

„Er hat revolutionären Eifer und eine tiefe Hingabe zur Bildung“, berichtet Adam Ellick, ein Reporter der „New York Times“, der eine Video-Dokumentation über die Familie Yousafzai gedreht hat. Dennoch wäre es falsch, Malala bloß als Werkzeug der Ambitionen ihres Vaters zu betrachten. „Dieses bezaubernde kleine Mädchen ist in vielerlei Hinsicht eine Mini-Version von Ziauddin“, so Ellick weiter. „Ihre Situation erforderte es, dass sie bereits vor der Zeit erwachsen wurde. Und sie hat sich vom Idealismus ihres Vaters anstecken ­lassen.“

*

2008 haben die Taliban ihre Macht im Swat-Tal ausgeweitet, statt sich der Armee geschlagen zu geben. Mit brutalen Methoden setzen sie ihre Vorstellung vom echten Islam durch. Sie zwingen Frauen unter die Burka, brennen Musikgeschäfte nieder, verwüsten das Skiressort in den Bergen und kratzen dem Buddha von Jahanabdal das Gesicht aus dem Kopf. Verstöße gegen ihre Auslegung der Scharia ahnden sie mit öffentlichen Auspeitschungen und Enthauptungen, an den Bäumen hängen die Leichen hingerichteter Polizisten.

In dieser Zeit entwickelt der regionale Dienst der BBC eine Idee. Um der Welt näherzubringen, was im Swat-Tal vor sich geht, soll ein Mädchen anonym erzählen, wie es sich unter dem rigiden Regime der Taliban lebt. Ein Reporter bittet Ziauddin Yousafzai, nach Schülerinnen zu suchen, die dazu bereit sind. Alle lehnen ab. Schließlich bringt der Direktor eine letzte Kandidatin ins Spiel: seine Tochter.

Malala wählt ein Pseudonym: „Gul Makai“, Kornblume. Ihre Berichte diktiert sie einem Reporter am Telefon. Unmittelbar nach der Jahreswende 2008/2009 beginnt die BBC, sie zu veröffentlichen.

„Samstag, 3. Jänner 2009: Ich habe Angst.
Gestern hatte ich einen furchtbaren Traum, von Militärhubschraubern und den Taliban. Ich träume oft so, seit die Militär­operation in Swat begonnen hat. Meine Mutter hat mir Frühstück gemacht, und ich bin zur Schule gegangen. Ich hatte Angst, weil die Taliban einen Erlass herausgegeben haben, der alle Mädchen vom Schulbesuch ausschließt. In der Klasse waren nur elf von 27 Schülerinnen … Auf dem Weg zur Schule hörte ich einen Mann sagen: ,Ich bringe dich um‘. Ich ging schnell weiter, und als ich ­etwas später zurückschaute, war er immer noch hinter mir. Aber zu meiner großen ­Erleichterung sprach er in sein Mobiltelefon und muss jemand anderen bedroht haben.“

Es sind einfache, klare, aber umso eindringlichere Geschichten, die Malala erzählt: Geschichten, in denen der ganze Horror spürbar wird, den ein kleines Mädchen unter der Herrschaft radikaler Islamisten durchmachen muss.

„Montag, 5. Jänner: Zieht keine bunten Kleider an!
Ich machte mich gerade für die Schule zurecht und wollte meine Schuluniform anziehen, als mir einfiel, dass wir das nicht mehr dürfen – uns war gesagt worden, dass wir stattdessen normales Gewand anziehen müssen. Also entschied ich mich für mein rosa Lieblingskleid … Aber während der Morgenversammlung hieß es dann, dass wir auch keine farbigen Kleider tragen dürfen, weil die Taliban dagegen sind.“

Es ist erst der Beginn der Repression im Swat-Tal. Anfang 2009 verkünden die Taliban, dass Mädchen der Schulbesuch künftig generell untersagt sei. Währenddessen toben im Distrikt Kämpfe zwischen islamistischen Milizen und der Armee.

„Donnerstag, 15. Jänner: Eine Nacht voller Artilleriefeuer
Die Nacht war erfüllt vom Lärm der Artilleriegeschütze, und ich wachte deswegen dreimal auf. Heute ist der 15. Jänner, der letzte Tag, bevor die Verordnung der Taliban in Kraft tritt, und meine Freundin und ich unterhielten uns über die Hausübungen, als sei nichts Außergewöhnliches geschehen.

Heute habe ich auch das Tagebuch gelesen, das in der BBC und in der Zeitung veröffentlicht wurde. Meine Mutter mag mein Pseudonym „Kornblume“ und hat zu meinem Vater gesagt: ,Warum nennen wir sie nicht überhaupt so?‘ Ich mag den Namen auch, weil mein wirklicher ,kummervoll‘ bedeutet.

Mein Vater hat erzählt, dass ihm vor ein paar Tagen jemand einen Ausdruck meines Tagebuchs gegeben und ihm gesagt hat, wie wunderbar es sei. Mein Vater erzählte, er habe gelächelt, konnte aber nicht preisgeben, dass es seine Tochter geschrieben hatte.“

Im Jänner 2009 jagen die Extremisten in Swat mehrere Mädchenschulen in die Luft. Als Malalas Bruder eines Tages gefragt wird, was er im Garten spielt, antwortet er: „Ich hebe ein Grab aus.“ Niemand mehr kann sich dem Terror entziehen, nicht einmal Kleinkinder.

Zwischendurch lockern die Taliban zwar ihre Verbote, letztlich jedoch schränkt sich das Leben Hunderttausender Mädchen, Frauen, aber auch Männer auf einen immer kleiner werdenden Radius ein.

Zehn Wochen lang berichtet die „Kornblume“ im Winter 2009 über den Alltag in Mingora, die BBC übersetzt ihre Texte ins Englische und verbreitet sie über ihre Website. Das Echo ist enorm. „Es war einer der populärsten Blogs seit Langem“, erinnert sich der zuständige Internet-Redakteur auf der Website des Senders.

*

Inzwischen steht Swat komplett unter der Fuchtel der Islamisten. Als das Frühjahr anbricht, haben die Taliban im Tal an die 200 Schulen zerstört, mehr als 60.000 Kinder werden nicht mehr unterrichtet. Die Armee bereitet eine Großoffensive vor, Hunderttausende Menschen sind auf der Flucht, und auch die Familie Yousafzai verlässt Mingora. Monatelang leben Malala und ihre Geschwister in einem Lager für Vertriebene. Erst Ende Juli hat sich die Lage so weit beruhigt, dass sie in ihre Heimat zurückkehren können. Die Taliban in Swat seien geschlagen, verkündet die Regierung, Anfang August öffnen die Schulen wieder.

Es fühlt sich an wie ein Sieg, und das, was danach kommt, wie die gerechte Belohnung für einen erfolgreichen Kampf. Jetzt enthüllt Ziauddin Yousafzai, dass die „Kornblume“ seine Tochter Malala ist. Damit gibt er ihr zwar einen öffentlichen Namen. Er nimmt ihr aber auch den Schutz der Anonymität – und zwar unwiderruflich. Was sie dem ewigen Gedächtnis des Internets unter einem poetischen Pseudonym überantwortet hat, ist jetzt untrennbar mit ihr als Person verbunden. Das Fernsehen kommt, erst die lokalen Stationen, dann die internationalen Nachrichtensender.

Malala, die eigentlich Ärztin werden wollte, mutiert unter dem sanften Druck ihrer Entdecker zur politischen Aktivistin. „Ich habe einen neuen Traum … Ich muss Politikerin sein, um dieses Land zu retten. Es gibt so viele Krisen in unserem Land. Ich will diese Krisen beseitigen“, sagt sie in der Video-Dokumentation „Class Dismissed“ (in etwa: Wegtreten, Klasse).
Sie wird für nationale und internationale Friedenspreise nominiert und ausgezeichnet. Sie trifft Richard Holbrooke, den US-Sondergesandten für Afghanistan und Pakistan, um mit ihm über Mädchenbildung zu sprechen.
Nachher wünscht sie sich Vanilleeis.

Was sie tun würde, wenn sie Präsidentin von Pakistan wäre, wird Malala von CNN gefragt. „Ich würde den Taliban klarmachen, dass Mädchen Bildung bekommen müssen.“

Und wenn die Islamisten nicht auf sie hören würden?

„Ich würde ihnen sagen, dass nirgends im Koran geschrieben steht, dass Mädchen nicht in die Schule gehen dürfen.“

Sie sagt diesen Satz im Jahr 2011. Und die Islamisten hören zu. Schon seit Längerem, und sehr genau.

*

„Es war Chaos“, sagt Kainat Riaz, die unmittelbar neben Malala im Schulbus saß. „Zuerst haben wir geglaubt, es ist ein Scherz, als er eingestiegen ist und gefragt hat: ,Wo ist Malala? Wer ist Malala?’ Sie war ja ohnehin zu erkennen, weil wir üblicherweise unsere Gesichter bedeckt haben, sie aber niemals.“

Dann fällt auch schon der Schuss, der Malala in den Kopf trifft – und dann noch einer, der Riaz sowie ein zweites Mädchen verwundet. Der Attentäter steigt aus, der Busfahrer gibt Gas und rast mit den Opfern auf schnellstem Weg zum Spital von Mingora.

Notoperation, danach per Hubschrauber in das beste Militärkrankenhaus Pakis­tans, wenige Tage später an Bord eines Ambulanzjets in eine Klinik in Birmingham, Großbritannien, die auf Kopfverletzungen spezialisiert ist.
Die Fanatiker glauben sich im Recht: Nicht nur in Pakistan, wo die Taliban erklären, der Koran schreibe vor, dass „Leute, die gegen den Islam und gegen islamische Kämpfer auftreten, getötet werden müssen“. In Großbritannien erklärt Scheich Omar Bakri, der „Ayatollah von Tottenham“, die Attentäter hätten „vollkommen richtig gehandelt: Der Tod ist die ultimative Strafe für die Abwendung vom Glauben, und das gilt sowohl für Männer als auch Frauen.“

Doch dann passiert etwas, mit dem die Taliban in ihrem Wahn, dem rechten Glauben zum Durchbruch verholfen zu haben, nicht gerechnet haben dürften: Nicht nur der Westen solidarisiert sich mit Malala, sondern auch große Teile der islamischen Welt tun dies.

„Der Anschlag war keine gute Werbung für die Taliban“, sagt Autor und Historiker Tariq Ali gegenüber profil. „Die überwiegende Mehrheit war klarerweise der Meinung: Das ist nicht unser Islam

Mehr als 50 pakistanische Muftis veröffentlichen eine Fatwa, also ein religiöses Rechtsgutachten, in dem sie das Attentat als unislamisch und Verstoß gegen die Scharia verurteilen. Zehntausende Menschen nehmen an Kundgebungen in den großen Städten Pakistans teil. Dabei demonstrieren sowohl verschleierte als auch unverhüllte Frauen mit Plakaten, auf denen „Schämt euch, Taliban“ steht. Bärtige Männer tragen Transparente mit dem Slogan „Terrorismus ausrotten – Bildung ausbauen“. Schulmädchen halten handgeschriebene Zettel hoch: „Malala, du bist der Stolz Pakistans“, heißt es darauf. Und: „Möge Allah dich beschützen“.

Die Politik, die jahrelang dabei versagte, den Islamisten Einhalt zu gebieten, stellt sich ebenso auf die Seite des Opfers: Pakistans Präsident Asif Ali Zardari und sein Premierminister eilen ans Krankenbett und dotieren einen „Malala Fonds für das Recht von Mädchen auf Bildung“. Die Regierung setzt 100.000 Dollar Belohnung für die Ergreifung der Täter aus, das Parlament erklärt die 15-Jährige zur „Tochter Pakistans“. Der Oberbefehlshaber der Armee, die bei der Bekämpfung der Taliban eine zumindest fragwürdige Rolle gespielt hat, bezeichnet Malala als „Ikone der Tapferkeit und der Hoffnung“ – und die Islamisten als „Feiglinge“.
Und irgendwie ist es wohl tatsächlich auch Angst, die aus dem Anschlag spricht. „Gleichberechtigte Frauen sind für den Machtanspruch der Taliban besonders gefährlich“, sagt die pakistanischstämmige, in Großbritannien aufgewachsene Frauenrechtlerin Sara Khan. „Wenn sie zur Schule gehen, bekommen sie eine Ausbildung. Wenn sie eine Ausbildung haben, wollen sie arbeiten. Wenn sie arbeiten, haben sie eigenes Geld. Und am Schluss wollen sie auch noch eine Teilhabe an der Macht. Davor haben die Taliban Panik.“

*

Und jetzt? Kann das Martyrium, das die Taliban ihrem Opfer aufgezwungen haben, ein Wendepunkt sein, auch für die Millionen Mädchen und Frauen, die weiterhin von Unterricht und Bildung ausgeschlossen sind?
Der Historiker Tariq Ali zweifelt daran: „Ich fürchte, der Anschlag wird andere abschrecken: Mütter werden ihren Töchtern raten, sich nicht für die Bildung von Mädchen auszusprechen. Nicht, dass sie das tun, weil sie auf der Seite der Taliban stehen – aber wer will schon das Leben seiner Kinder riskieren, indem sie zur Schule gehen?“

Salman Rushdie hingegen ist nicht ganz so pessimistisch. „Es bleibt zu hoffen, dass viele Menschen durch Malalas tragische Geschichte nachzudenken beginnen, was passiert, wenn man dem Fanatismus gestattet, sich innerhalb der eigenen Landesgrenzen auszubreiten“, sagt er zu profil. Für die islamischen Gesellschaften stellen sich seiner Meinung nach in diesem Zusammenhang wichtige Fragen: „Wie wollen wir unsere Zukunft gestalten? Wollen wir den Übertritt in die moderne Welt wagen? Werden keine entsprechenden Schritte in Richtung Zukunft unternommen, sind viele islamische Gesellschaften zur Rückständigkeit verdammt. Dann haben wir eine Zukunft, in der 15-jährige Mädchen auch weiterhin massakriert werden, nur weil sie den Wunsch verspüren, eine Schule zu besuchen.“

Niemand kann ernsthaft annehmen, dass die Mehrheit der weltweit rund 1,5 Milliarden Muslime Letzteres will. Und Malala ist jung genug, um noch zu erleben – oder aufgrund ihrer Bekanntheit sogar mitzugestalten –, wie sich die Zukunft der islamischen Gesellschaften verändert.

In ihre Heimat wird sie so schnell nicht zurückkehren können. Wie es um ihre Genesung steht, ist unklar. Ein Video, das im Krankenhaus von Birmingham gedreht wurde, zeigt sie mit einem weißen Plüschtier im Arm. Ihr Blick ist abwesend, sie spricht nicht und hat sich seit dem Attentat überhaupt nicht öffentlich zu Wort gemeldet. Alles, was an Aussagen nach dem Attentat bekannt ist, wurde von ihrem Vater Ziauddin kolportiert.
Aber es sind nicht nur gesundheitliche Gründe, die der Familie im Weg stehen. Die Taliban haben geschworen, nicht zu ruhen, bis Malala endgültig tot ist. Eines der zwei weiteren Attentatsopfer hat inzwischen Morddrohungen erhalten und musste aus dem Swat-Tal flüchten.
Vergangene Woche demonstrierten dort wieder Hunderte Mädchen – nicht gegen die Taliban, sondern dagegen, dass ihre Schule nach Malala benannt wird. Sie hätten Angst, dadurch selbst ins Visier der Extremisten zu geraten, erklärten sie.

Und dann rissen sie Fotos, die das Gesicht von Malala zeigen, in Fetzen.
Da war sie wieder, die Geschichte von Angst und Unterdrückung. Aber die Geschichte von Widerstand und Hoffnung, die mit Malalas Gesicht verbunden ist, lässt sich dennoch durch nichts mehr zerstören.

Mitarbeit: Tessa Szyszkowitz, London

Erschienen am 7.12.2012 in profil 51/2012.