Netzkritiker Andrew Keen entzaubert den „digitalen Schwindel”

Netzkritiker Andrew Keen entzaubert den „digitalen Schwindel”

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Die Botschaft von Andrew Keen ist so deprimierend wie desillusionierend: Wir seien alle einem großen Schwindel aufgesessen, sagt er. Die frühere Verheißung, das Netz werde unsere Gesellschaft bereichern und alle würden vom digitalen Aufstieg profitieren, ist nicht eingetreten. Statt Aufschwung sieht Keen wachsende Arbeitslosigkeit, statt einer egalitären Gesellschaft ansteigende Ungleichheit, statt Freiheit und Selbstbestimmung dominieren Werbung und Überwachung. Der gebürtige Brite, der heute im kalifornischen Berkeley lebt, analysiert diese einschneidenden Fehlentwicklungen der Internet-Ökonomie in seinem kürzlich erschienenen Buch "Das digitale Debakel“.

Keen ist kritisch, was den Einfluss von Internet-Giganten wie Google oder Facebook betrifft; er ist aber beileibe kein Technikfeind oder Fatalist. Kommenden Mittwoch referiert er seine digitalen Bedenken auf den Österreichischen Medientagen und gewährte im Vorfeld profil ein Interview. Die wichtigsten Thesen seines Buches: Die heranwachsenden Internetmonopole vertiefen die Kluft zwischen Arm und Reich, die Mittelschicht fällt dieser Entwicklung zum Opfer. Und wir alle, die Masse der Internetuser, bejubeln diese Prozesse noch, da wir den schönen Marketingbegriffen der Netzkonzerne glauben, die von "Disruption“ oder "sozialen Medien“ reden.

"Disruption“ hält Keen für einen besonders irreführenden Begriff: Kalifornische Unternehmen schmücken sich gerne damit, dass sie "disruptive“ Technologien entwickeln - Webdienste und Gadgets, die frühere Angebote verdrängen und obsolet machen. Wer braucht ein Hotel, wenn es den digitalen Herbergsdienst Airbnb gibt, wer braucht den Laden ums Eck, wenn Amazon nur einen Klick entfernt ist?

Technik ersetzt leider Religion

profil: Sie sagen, dass vom digitalen Wandel nur eine winzig kleine Minderheit profitiert. Andrew Keen: Schauen Sie sich die Zahlen an: Der massive Reichtum wird von wenigen Unternehmen abgeschöpft, geht an eine Handvoll Firmengründer und Investoren.

profil: Das allein muss ja noch nicht schlecht sein. Keen: Dramatische Ungleichheit ist sicher nichts Gutes für die Gesellschaft. Und darüber hinaus: Wir sind ja diejenigen, die die Arbeit für diese Unternehmen leisten. Wir klicken, wir produzieren die Inhalte dieser Websites. Wir sind da keinen guten Deal eingegangen.

profil: Welche Branchen sind vom Verlust dieser Arbeitsplätze am härtesten betroffen? Keen: Für mein Buch habe ich den ehemaligen Hauptsitz von Kodak besucht, das Paradebeispiel eines Industriebetriebs. Dort waren einst 200.000 Menschen beschäftigt, das Unternehmen war etliche Milliarden Dollar wert. Als Kodak 2012 pleite ging, kaufte Facebook um eine Milliarde Dollar den Fotodienst Instagram. Wissen Sie, wie viele Menschen damals bei Instagram arbeiteten? 15. Als Facebook dann auch noch WhatsApp kaufte, zahlten sie rund 20 Milliarden Dollar für ein Unternehmen, in dem 50 Menschen angestellt waren. Ich bin nicht die einzige Person, die all das beunruhigt: David Brooks von der "New York Times“ nennt dies die "moralische Krise des Kapitalismus“ - so schockierend sind diese Zahlen. Das heißt nicht, dass diese Unternehmen zwangsläufig böse sind. Das ist jedoch das Wesen dieser Art von Internet-Ökonomie.

Keen will sich jedoch nicht auf den digitalen Kulturpessimisten reduzieren lassen, obwohl er überzeugt davon ist, dass dieser Maschine-statt-Mensch-Prozess gerade einmal begonnen hat. Ihn stört viel mehr, dass es keine ehrliche Debatte über den großen gesellschaftlichen Wandel gibt, der in seinen Augen weniger "Disruption” als regelrechte Destruktion von ganzen Branchen mit sich bringt. In vielen Städten demonstrieren Taxifahrer beispielsweise bereits gegen Uber, jene App, die Chauffeure zu billigen Preisen vorfahren lässt. Doch Uber ist erst der Anfang.

Selbstfahrende Autos sind schon vielerorts unterwegs, 2016 bekommt auch Österreich eine eigene Teststrecke. Bisher scheinen diese Maschinen gute Lenker zu sein: Drei Millionen Kilometer legten die "autonomen“ Autos von Google bereits zurück, laut Unternehmensstatistik ohne einen einzigen Unfall verursacht zu haben. Neulich kam es doch zu einer Karambolage mit der Konsequenz von leichten Verletzungen: Ein menschlicher Lenker hatte nicht schnell genug gebremst und war dem Google-Wagen hinten hineingefahren. Sind Computerprogramme bereits jetzt die besseren Autofahrer als wir Menschen?

Der digitale Wandel, so beeindruckend er wirkt, ist eben auch eine gesellschaftliche Herausforderung - ähnlich wie im Zeitalter der Industrialisierung als ganze Berufsgruppen von riesigen Fabriksmaschinen ersetzt wurden, meint Keen.

profil: Die selbstfahrenden Autos von Google sind anscheinend sehr sicher und könnten viele Jobs ersetzen. Wünschen Sie sich Gesetze, die solche Autos verbieten? Keen: Nein. Google tut hier jedoch so, als würde es diese Autos entwickeln, um den Menschen etwas Gutes zu tun, um uns glücklicher zu machen, um die Umwelt zu schützen und das Leben jener Menschen zu retten, die sonst in Autounfällen sterben. Das stimmt schon: Selbstfahrende Autos sind gut für die Menschheit. Nur macht das Google nicht aus altruistischen Motiven. Google ist ein Unternehmen, das riesige Datenmengen auswertet. Wenn es nun selbstfahrende Autos hervorbringt, hilft ihnen das, noch mehr Daten über uns zu sammeln. Ich plädiere gegen Gesetze, die solche Technologien verbieten, aber für eine Regulierung, die klar definiert, welche Daten die Betreiber solcher Autosysteme sammeln dürfen - ich bin für Privatsphäre im selbstfahrenden Auto. Das Google Car ist ein gutes Beispiel für eine Technologie, die einen großartigen Nutzen, aber auch eine problematische Seite hat.

Jede neue Elite glaubt, ihre Anhäufung von Macht würde langfristig zhu etwas Gutem führen.

profil: Warum sind diese kalifornischen Konzerne so gut darin, diesen Fortschrittsglauben zu propagieren? Keen: Weil sie selbst daran glauben. Nehmen Sie Google: Die beiden Gründer sind wohl tatsächlich Menschen, die nichts Böses wollen. In der Gründungsphase des Unternehmens waren sie sogar gegen Werbung. Sie wollten nicht, dass ihre wunderbare Suchmaschine vollgepflastert mit Werbeeinblendungen wird. Auch Mark Zuckerberg will wohl wirklich die Menschheit miteinander vernetzen und meint, dass Facebook die Welt zu einem besseren Ort machen würde. Ich glaube hier nicht an eine bösartige Agenda. Ich bin überzeugt, dass sich diese Konzernchefs jetzt nicht ins Fäustchen lachen, weil sie Unmengen an Geld scheffeln und uns alle für dumm verkauft haben. Aber diese Unternehmer sitzen dennoch einem fatalen Irrtum auf: Nämlich dass man so reich werden kann und dabei trotzdem stets Gutes tut. Diesem Irrglauben sind auch schon andere verfallen. Der italienische Soziologe Vilfredo Pareto hat einst beschrieben, wie jede neue Elite glaubt, ihre Anhäufung von Macht würde langfristig zu etwas Gutem führen. Hinzu kommt dann auch noch, dass diese Unternehmen extrem gute PR-Teams haben. Und ein weiterer Aspekt, der leider speziell in den USA evident ist: Technik hat Religion ersetzt. Viele Menschen behandeln Google, Facebook oder Twitter wie eine Kirche, besonders hier in Kalifornien.

In Europa, speziell im deutschsprachigen Raum, mag Keen mit solchen Ansagen vielen aus der Seele sprechen - speziell den Zeitungsverlegern, die sich großen Plattformen wie Google und Facebook ausgeliefert fühlen und die Keen gerne zu Veranstaltungen wie den Österreichischen Medientagen laden. In Kalifornien jedoch, wo der Brite lebt, ist er mit diesem kritischen Blick auf die "Disruption“ in der Minderheit. In seinem Buch zitiert er eine Befragung des Meinungsforschungsinstitus Pew Research Center, wonach 90 Prozent der Amerikaner glauben, das Internet hätte ihr Leben zum Positiven verändert. "Da muss man schon ein mutiger Mensch sein, wenn man die These vertritt, dass das Netz auch eine andere Seite hat“, lobte der britische "Guardian“ Keens digitales Robin-Hoodtum.

Wenn es etwas am "digitalen Debakel“ zu kritisieren gibt, dann ist es die Tatsache, dass sich der Brite zu sehr in der Rolle des Provokateurs gefällt. Gegen Facebook scheint er eine tiefe Abneigung zu hegen. Viele seiner Kritikpunkte sind dabei verständlich, etwa sein Zweifel, ob soziale Medien wirklich so sozial seien (siehe auch Kommentar S. 67). Nur manchmal wird er recht persönlich. Mark Zuckerberg nennt er zum Beispiel "kommunikationsgestört“ und findet es ironisch, dass ausgerechnet dieser junge Mann mit seinem "bizarren Kult des Sozialen“ die Kommunikation des 21. Jahrhunderts revolutioniert hat. Solche knackigen Aussagen werden von Journalisten zwar gerne zitiert, doch diese Häme täuscht darüber hinweg, dass auch viel substanzielle Kritik in seinem Buch zu finden ist.

Keen hat Lösungsvorschläge. "Die Antwort ist, die ‚Quasi-Monopole‘ des Internets zu formen, bevor sie uns formen“, schreibt er und begrüßt es beispielsweise, dass die EU-Kommission ein Wettbewerbsverfahren gegen Google eröffnet hat. Keen kennt den harten Wettbewerb in der IT-Branche: Er gründete in den 1990er-Jahren den Musikdienst AudioCafe, eines der Tausenden Start-ups, das im Dotcom-Boom scheiterte. Die damals grassierende Goldgräberstimmung hat das Netz massiv verändert.

Keen teilt die Geschichte des Netzes in zwei Kapitel: In der Anfangsphase gaben die Techno-Hippies den Ton an, Forscher und Erfinder, die sehr idealistisch und frei von Gier waren. Tim Berners-Lee beispielsweise entwickelte das World Wide Web, wie wir es heute kennen, und stellte diese Infrastruktur kostenfrei zur Verfügung. Doch dann kam es zur Ära der smarten Internet-Yuppies, die das Netz zunehmend "monetarisierten“ und einem kleinen Kreis an Investoren im Silicon Valley zu ungeheurem Reichtum verhalfen - das Ergebnis ist eine Handvoll Konzerne, die maßgeblich prägen, was Menschen im Internet zu Gesicht bekommen. Selbst wenn niemand gezwungen wird, Google oder Facebook zu nutzen, ist es doch schwierig geworden, einen Weg rund um diese Giganten im Netz zu finden.

Derzeit, so meint Keen, leben wir in einer "the winner takes it all“-Wirtschaft, wo einzelne wenige profitieren, unzählige Jobs gefährdet sind und Überwachung das gängige Geschäftsmodell ist. Seine Lösung hierfür sind Politiker, die es wagen, sich mit den Mächtigen des Silicon Valley anzulegen: Abgeordnete wie Margaret Hodge von der Labour-Party, die Googles Steuervermeidung zum großen Thema im britischen Parlament gemacht hat, oder auch Behörden wie das deutsche Bundeskartellamt, das Amazons Verhandlungsmacht gegenüber Händlern äußerst kritisch sieht. Keen zumindest ist der Überzeugung, dass diese aufmüpfigen Einzelkämpfer in Zukunft keine Randerscheinungen mehr sein werden. Das lässt ihn auf eine neue Ära hoffen.

profil: Braucht es nun, nach der Phase der Techno-Hippies und jener der Yuppie-Unternehmer, eine Zeitenwende? Keen: Ja. Nächstes Jahr erscheint die Taschenbuchversion meines Buchs, da widme ich dieser dritten Periode des Internets einen eigenen Abschnitt. Die erste Periode war idealistisch, unkommerziell, die zweite war auf radikale Weise kommerziell. Wir können nicht mehr zurück: Auch wenn das manche wünschen. Der britische Autor Paul Mason glaubt etwa, dass die dezentrale Sharing-Kultur des Internets den Kapitalismus überwinden kann. Ich halte das für absurd. Viel mehr glaube ich an eine dritte Phase, wo der Gesetzgeber ähnlich wie in der Industriellen Revolution den rechtlichen Rahmen vorgibt. Und diese Regulierung ermöglicht dann auch wieder mehr Wettbewerb. Ich bin kein Sozialist, ich plädiere nicht dafür, dass das Internet zu einer Non-Profit-Plattform wird. Das wäre ebenso fatal wie das Internet sich selbst zu überlassen. Wir brauchen hier eine Mischung. Im Englischen heißt mein Buch: "The internet is not the answer“. Ich meine damit: Ein komplett unreguliertes Internet ist nicht die Antwort. Die Antwort ist die dritte Phase - die politische Phase des Internets.

Andrew Keen, 55, wurde in London geboren und studierte Geschichte und Politikwissenschaft in London und Kalifornien, wo er heute auch lebt. In den 1990ern gründete er das Start-up AudioCafe.com, das zwar Gründungskapital von Intel und SAP erhielt, aber in der Dot-Com-Blase scheiterte. Zwei seiner Bücher wurden ins Deutsche übersetzt: 2008 erschien "Die Stunde der Stümper: Wie wir im Internet unsere Kultur zerstören“ (Hanser Verlag) und heuer im Jänner kam "Das digitale Debakel: Warum das Internet gescheitert ist - und wie wir es retten können“ (DVA) heraus. Andrew Keen tritt diesen Mittwoch, 23. September, bei den Österreichischen Medientagen in Wien auf, das Event ist kostenpflichtig. Mehr Infos unter medientage.at.

Andrew Keen: Das digitale Debakel. Hardcover, 320 Seiten. Deutsche Verlags-Anstalt. 20,60 Euro.

Ingrid   Brodnig

Ingrid Brodnig

ist Kolumnistin des Nachrichtenmagazin profil. Ihr Schwerpunkt ist die Digitalisierung und wie sich diese auf uns alle auswirkt.