Esther Perel

Paartherapeutin Perel: "Wie viel Sex braucht ein Mensch?"

Die weltberühmte Paartherapeutin Esther Perel über unsere Schwierigkeiten mit der romantischen Liebe und das Geheimnis, wie man sein Sexleben in Schwung hält.

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INTERVIEW: TESSA SZYSZKOWITZ, LONDON

profil: Sie befassen sich in Ihrem neuen Buch mit der Untreue. Ist dazu nicht schon alles gesagt? Perel: Es geht nicht nur um Untreue, es geht um moderne Liebe. Untreue ist nur der Fokuspunkt, weil sie das ganze Drama zeigt: Liebe, Sex, Leidenschaft, Eifersucht, Rache. Affären sind heute, zum ersten Mal in der Geschichte, der wichtigste Scheidungsgrund.

profil: Wie kommt das? Perel: Romantische Liebe war noch nie so normal wie heute. Deshalb erwarten die Menschen von ihren Beziehungen mehr als jemals zuvor in der Geschichte. Früher waren Beziehungen durch Regeln, Aufgaben und Pflichten bestimmt. Die großen Entscheidungen wurden einem aus der Hand genommen. Heirat war die Norm, Sex folgte, dann der Nachwuchs. Heute ist alles verhandelbar: Soll man heiraten? Wenn ja, wann? Kinder: ja oder nein, früh oder spät? Eines oder zwei?

profil: Warum haben die Leute überhaupt Affären? Man kann sich ja trennen, wenn die Sache nicht funktioniert. Perel: Genau darum geht es mir: Warum sind Menschen selbst in glücklichen Beziehungen bereit, alles zu riskieren? Früher suchte man Abwechslung, weil Ehen nicht dafür geschaffen waren, Liebe und Leidenschaft zu bieten. Heute ist es umgekehrt. Wenn eine Beziehung nicht mehr genug Liebe und Leidenschaft hergibt, gehen die Menschen fremd. Die Idee, dass man gelegentlich die eigene Lust für die Familie opfern muss, ist aus der Mode gekommen.

profil: Gilt das besonders für Frauen? Perel: Wir wussten lange nicht, was Frauen wollten, weil sie stets dazu gezwungen waren, das zu tun, was für sie und ihre Kinder das Sicherste war. Untreue war bisher nie eine Option, die für beide Geschlechter gleich relevant war. Vor Erfindung der Pille war Verhütung viel schwieriger. Wirtschaftlich waren die meisten Frauen von ihren Männern abhängig. Das heißt aber nicht, dass ihre Sehnsüchte anders sind als jene der Männer.

Zuerst haben wir Sex von der Reproduktion getrennt. Inzwischen haben wir sogar schon die Reproduktion vom Sex abgelöst.

profil: Wie kann man rechtzeitig erkennen, dass man selbst oder das Gegenüber in der Beziehung die Lust verliert? Perel: Das beginnt bei der Frage: Wie viel Sex braucht ein Mensch? Zwei Mal pro Woche? Aber worin genau besteht Sex? Ist die vom männlichen Sexualorgan getriebene Idee von Sex die einzig ausschlaggebende? Vielleicht gibt es noch ganz andere sinnliche Akte mit einem breiteren Spektrum an Verbundenheit. Zentral scheint mir zu sein, dass Sinnlichkeit gelebt wird, ohne dass es immer um „den Akt“ geht.

profil: Sie meinen eine weiblichere Sicht auf Sexualität? Perel: Zuerst haben wir Sex von der Reproduktion getrennt. Inzwischen haben wir sogar schon die Reproduktion vom Sex abgelöst. Demnächst werden wir so weit sein, das Geschlecht von der Anatomie zu trennen. All das verändert unser Bild von uns selbst und von unserer Rolle in der Gesellschaft. Um diese großen Veränderungen geht es.

profil: Die biologischen Fakten stehen der Neuerfindung der Gesellschaft aber noch immer im Weg, nicht? Perel: Wie sehr ist eine Person von Testosteron getrieben und wie sehr von ihrer Geschichte, von den Umständen, von ihrer Sozialisation, ihrer Selbstkritik? Ich glaube, wir alle sind Produkte aus einer Kombination vieler Faktoren. Nehmen Sie eine Frau in der Menopause. Geben Sie ihr einen neuen Mann und eine neue Geschichte, dann braucht sie vielleicht gar keine Hormonersatzmedikamente. Übrigens: Bei der Mehrheit der Paare, die im Alter von 55 oder 60 keinen Sex mehr haben, liegt das am Mann und nicht an der Frau.

Online-Dating hat die gesamte Landschaft der Beziehungsanbahnung verändert.

profil: Wirklich? Perel: Junge Männer sind es gewohnt, autonome, spontane Erektionen zu haben. Sie können zum Sex schreiten, ohne etwas zu tun. Das ändert sich, wenn sie älter werden. Sie müssen Medikamente gegen Prostatakrebs oder Diabetes oder Depression nehmen. Sie wissen nicht, was responsives Begehren ist. Sie werden in vielen Fällen denken: Okay, es geht nicht mehr. Dabei gibt es Wege, wie sie erregt werden können. Und an diesem Punkt beginnt die Interaktion. Die meisten Paare, die von sich behaupten, dass sie ein gutes Sexleben haben, sind nicht unbedingt sexuell aktiver als andere. Aber sie schätzen das, was sie gemeinsam haben, und tun mehr als andere.

profil: Sind Sie so erfolgreich, weil Sie als Europäerin mit amerikanischen Mitteln arbeiten? Sie haben schon vor Jahren über Facebook Paare aufgefordert, ihre Fälle zur Verfügung zu stellen. Perel: Es gibt generell einen enormen Bedarf für Gespräche über Beziehungen. Online-Dating hat die gesamte Landschaft der Beziehungsanbahnung verändert. Menschen haben viel mehr Freiheit – und auch mehr Unsicherheit, mehr Selbstzweifel. Da komme ich und spreche nicht nur über eines der beiden Themen, sondern verbinde Beziehungen und Sex. Als Therapeutin arbeite ich mit vielen Paaren. Ich sage ihnen nicht, was ich für richtig oder falsch halte, sondern ich helfe ihnen, herauszufinden, was für sie gut wäre. Die schrulligen Typen haben genauso das Gefühl, dass ich zu ihnen spreche, wie die konservativen. Manche sind ja auch beides gleichzeitig: pervers und konservativ.

In Rumänien habe ich besonders viele Leser. Warum? Ich glaube, weil Rumänien eine der schlimmsten Formen des Kommunismus erlebt hat.

profil: Ihren Podcast „Where do we begin?“ hören Millionen Menschen weltweit. Darin berichten Sie über reale Fälle. Beuten Sie damit nicht Ihre Patienten aus? Perel: Im Gegenteil. Ich hatte als Therapeutin immer das Problem, dass ich die Geschichten meiner Patienten nicht erzählen konnte. Im Podcast aber sprechen Paare von sich, die die Öffentlichkeit nicht scheuen. Sie sind nicht meine Patienten. Wir haben Tausende Bewerbungen von Paaren, die beim Podcast mitmachen wollen. Die dritte Staffel beschäftigt sich mit breiteren Themen: Eltern, Kinder, Scheidung und Selbstmord. Der Podcast ist so erfolgreich, weil es um die großen Themen des Lebens geht.

profil: Passen Sie Ihre Ratschläge an die jeweilige Kultur an? Perel: Ja. Der japanische Verleger meinte zum Beispiel, wir sollten das Kapitel über Monogamie streichen. Ich fragte ihn, warum. Er sagte, es sei den Japanern fremd, darüber zu diskutieren, ob Monogamie oder konsensuelle Nichtmonogamie für eine Beziehung gut sein kann. Ich habe zugestimmt, weil ich dachte, er wird seine Leser besser kennen als ich.

profil: Erleben Sie in Europa einen Unterschied zwischen Osten und Westen, wenn es um die Themen Ihres Buches geht? Perel: In Rumänien habe ich besonders viele Leser. Warum? Ich glaube, weil Rumänien eine der schlimmsten Formen des Kommunismus erlebt hat. Es war ein harsches Regime. Billiger Alkohol und Mangelwirtschaft führten zu hoher Gewalttätigkeit gegen Frauen und Kinder. Die Rumänen brauchen ein neues Narrativ. Ich stand dort einmal in einem Saal vor 1500 Leuten und habe die Männer gefragt: „Hat sich schon mal jemand in der Gegenwart eines anderen Mannes minderwertig gefühlt?“ Ein paar Männer standen auf. Die Frauen haben angefangen zu applaudieren. Sie haben diesen Männern die Anerkennung gegeben, dass sie diesen Diskurs führen wollen. Das war toll. Ich glaube, in diesen Ländern regierten die Männer, und die Frauen reagierten mit Verachtung. Sie taten, was man ihnen aufgetragen hatte, aber mit zusammengebissenen Zähnen. Sie wussten ja, was für Schlappschwänze da teilweise zugange waren.

profil: Und in Westeuropa? Perel: In Westeuropa gibt es eine neue Generation von Männern, die verwirrter sind als je zuvor.

Esther Perel, 60, ist ein Superstar. Die „New York Times“ nannte die belgische Psychologin, die seit 30 Jahren in New York lebt, „die Therapeutin des Volkes“. Die Autorin Lena Dunham („Girls“) meinte: „Dem Himmel sei Dank für diese Frau!“ Supermodel Cara Delevingne gestand: „Sie ist die erste Person, die ich um Rat fragen würde.“ Sieben Millionen Menschen sahen ihren TED-Talk auf YouTube. Über zehn Millionen hörten ihren Podcast „Where do we begin?“. Ihr Buch „Die Macht der Affäre“ war ein Bestseller in den USA. Die deutsche Übersetzung ist soeben erschienen.

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