Ágnes Heller

Zum Tod der Philosophin Ágnes Heller (1929-2019)

Zum Tod der Philosophin Ágnes Heller (1929-2019)

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Die ungarische Philosophin und Soziologin Ágnes Heller ist am Freitagabend im Alter von 90 Jahren gestorben. Mit profil sprach sie 2016 über das rauschhafte Gefühl 1956, persönliche Irrtümer und Viktor Orbán.

profil: Sie haben die Tage des Ungarn-Aufstands einmal als "rauschhaft und erhaben“ beschrieben. Was bedeutete 1956 für Sie? Ágnes Heller: 1956 war mein größtes politisches Erlebnis. Ich hatte vorher Politik nie erfahren, denn in einem totalitären Regime gibt es keine Politik. In Staaten, in denen Politik selbstverständlich war, hatte ich später nie mehr ein so großes Erlebnis. Nach 1956 veränderte sich auch meine Philosophie. Ich bezeichnete mich nun als Marxistin, nicht mehr als Kommunistin. Ich war oppositionell geworden.

profil: Sie waren damals keine 30 und bereits eine namhafte Philosophin. War die Freiheit, für die Sie kämpften, ein Irrtum? Heller: Ich habe mich oft geirrt, aber nicht 1956. Ich war Mitglied der kommunistischen Partei - da irrte ich mich. Ich hatte mir die schönen utopischen Ideen des jungen Marx angeeignet. Auch da irrte ich mich. 1956 aber ging es um Menschenrechte, Presse- und Religionsfreiheit, es ging darum, seine Gedanken ausdrücken zu können.

profil: Die revolutionären Träume endeten mit der russischen Intervention. Erscheinen sie Ihnen im Rückblick naiv? Heller: In den Augen der Enthusiasten sind Revolutionen immer ein Betrug. Hätten wir gewonnen, wäre die Hälfte unserer Träume verloren gegangen. Wir hätten sagen können: Wie naiv waren wir, zu glauben, dieses und jenes würde passieren? Wegen der sowjetischen Intervention war aber gar keine Zeit, die Menschen zu betrügen.

profil: Nach Ihrem Parteiausschluss wurden Sie eine wichtige Stimme der europäischen Neuen Linken. Wie erlebten Sie 1968? Heller: 1968 war mein erster wirklich radikaler Auftritt gegen die Regierung, als ich mit Freunden gegen die Besetzung der Tschechoslowakei durch die ungarische und die sowjetische Armee protestierte. Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings verlor ich meinen Glauben an einen Kommunismus mit menschlichem Gesicht. Als Neue Linke hatte ich mich aber schon früher verstanden. 1965 lud man mich auf die kroatische Insel Korèula ein. Bereits dort, unter Linken aus Europa und Amerika, die alle keine Sozialisten waren, merkte ich, dass ich Teilnehmerin an einem Diskurs der damals sehr pluralistischen Linken geworden war.

profil: Warum gab und gibt es so wenige Frauen in der Philosophie? Heller: Ich war immer froh, wenn Frauen eine bedeutende Rolle in der Philosophie spielten: Simone de Beauvoir etwa oder Hannah Arendt. Aber ich zähle nicht die Köpfe, besonders nicht in der Philosophie.

profil: Ihre Großmutter war eine der ersten Studentinnen an der Universität Wien. War sie ein Vorbild? Heller: Ihr Fachbereich war nicht Philosophie, sondern Deutsche Literatur und Geschichte. Ich las als Mädchen das Buch von Marie Curie und wollte Chemie studieren. Es war für mich keine Frage, dass Frauen genauso gut Wissenschaft treiben können wie Männer. Aber es war ein Zufall, dass ich Georg Lukács kennenlernte und dann zur Philosophie wollte.

profil: Ihr erster Mann, auch ein Philosoph, passte sich dem Regime an, Sie nicht. Haben Sie Ihre Außenseiterrolle je bereut? Heller: Wenn man Ingenieur oder Physiker ist, kann man seine Arbeit mit Anpassung genauso ehrlich weiterführen wie ohne. Die Philosophie aber ist eine ideologische Wissenschaft, in der man politisch nicht lügen kann, ohne die Seele zu verlieren. Niemand liest mehr die Bücher meines damaligen Mannes, obwohl er Professor an der Universität wurde - weil er sich anpasste. Das hätte man vorhersehen können.

profil: Sie hatten nach 1956 das Gefühl, Ungarn fahre in einen dunklen Tunnel. Fährt das Land nun in einen neuen Tunnel? Heller: Bis zum Ende der Welt sind alle Enden vorläufig. Nach 1989 hoffte man, Ungarn werde sich zu einer normalen liberalen Demokratie. Das war eine Illusion, keine Utopie. Es hätte passieren können, aber es ist nicht passiert. Das Orbán-Regime wird lange andauern, aber ich glaube nicht, dass wir in einem Tunnel sind.

Ágnes Heller

profil: Sie haben den Holocaust überlebt und den Stalinismus kennengelernt. Haben Sie eine Idee von einer idealen Gesellschaft? Heller: Wer das beste gesellschaftliche Modell hat, weiß man nie. Ich glaube nicht an eine gerechte Gesellschaft. Ich will eine freie Gesellschaft, in der alle sagen können, dass sie ungerecht ist.

profil: 1989 hielt ein junger Liberaler namens Viktor Orbán bei einer Trauerfeier für den nach dem Ungarn-Aufstand hingerichteten Ministerpräsidenten Imre Nagy eine Brandrede für politische Freiheit. Heller: Ich sah ihn im Fernsehen. Alle meine Freunde liebten Orbán wegen seiner freiheitlichen Meinungen. Ich sagte ihnen, dass ich diesem Mann kein einziges Wort glaube. Er hat das schlechte Gesicht eines Machtmenschen.

profil: Er war damals recht ansehnlich. Heller: Das war er. Aber wenn wir in Budapest auf der Margareteninsel saßen, sagte meine Großmutter immer, ich solle die Gesichter beobachten: "Es gibt gute und schlechte, da musst du differenzieren.“ Schön ist auch der Teufel.

profil: Sie betonen oft, wie ähnlich Österreich und Ungarn einander sind. Was ist das Gemeinsame? Heller: Es gab eine österreichisch-ungarische Monarchie, und was die liberale Demokratie betrifft, war Österreich nie besser als Ungarn vor dem Zweiten Weltkrieg, im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert eher schlechter. Österreich hatte dann die Möglichkeit, eine liberale Demokratie zu werden - und reicher und reicher. Das hat den Menschen gefallen. Die Frage ist, ob es ihnen noch gefallen wird, wenn die Probleme größer werden.

profil: Die Hinrichtung von Nagy war für Sie eine Erfahrung von Ohnmacht. Dieses Gefühl teilen viele Menschen angesichts von undichten Grenzen und entfesselten Finanzmärkten. Heller: Viele glauben, Macht sei eine schlechte Sache. Deshalb sind sie ohnmächtig. Ohnmacht erzeugt Furcht und Gleichgültigkeit. Nur wenige organisieren Demonstrationen, an denen wiederum nur wenige teilnehmen.

profil: Sie standen bei zahllosen Protestkundgebungen an vorderster Front. Sehen Sie noch einen Sinn darin, auf die Straße zu gehen? Heller: Es ist nicht sinnlos, obwohl es ohne Erfolg ist. Den Standpunkt zu bestätigen, dass wir uns nicht anpassen wollen, macht einen Unterschied, auch ohne Erfolg.

profil: Ungarn wirkt, ähnlich wie Österreich, gespalten. Gibt es noch einen Austausch zwischen den gesellschaftlichen Gruppen? Heller: Es gibt innerhalb der Linksliberalen ein öffentliches Leben, aber es gibt keinen Diskurs mit den Rechten. Das ist schädlich. Und dafür sind beide Seiten verantwortlich. Wenn ich als Linksliberale mit einem Rechten spreche, sagen meine Freunde: "Pfui, wie kannst du nur? Weißt du nicht, was er getan hat?“

profil: Was antworten Sie ihnen? Heller: Gott im Himmel, ich weiß, was er getan hat! Aber wenn ich nicht mit ihm rede, wird er immer dasselbe sagen, und es ändert sich nichts.

profil: Ihr neuestes Buch handelt davon, dass wir keine Utopien mehr haben. Ist das gut oder schlecht? Heller: Das ist gut, denn wir werden immer betrogen. Ich spreche lieber über Dystopien: Sie sind Warnungen. Wir haben noch eine Wahl. Die Propheten sagten immer, wenn ihr dies macht, werdet ihr überleben, wenn ihr das macht, werdet ihr zugrunde gehen. Dystopien handeln vom Entweder-Oder.

profil: Welche aktuellen Dystopien sehen Sie? Heller: Michel Houellebecq beschreibt in dem Roman "Unterwerfung“, wie Menschen zu Untertanen einer islamistischen Regierung werden. Das ist nicht unmöglich, wenn man an die Ereignisse des 20. Jahrhunderts denkt. Die Menschen unterwarfen sich dem Nazismus, dann dem Bolschewismus - warum sollten sie sich nicht dem Islamismus unterwerfen? Dieses Buch ist eine dieser Warnungen: Achtung, Europa!

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges