Der Hurensohn

Prostitution und Kindheit: Porträt eines Hurensohns

Prostitution. Seine Mutter ging auf den Strich. Helmut G. war das Kind, das dabei störte

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Die Wahrheit, die er mit 13 Jahren erfuhr, bestand aus wenigen, ungeheuerlichen Sätzen. Sie kamen aus dem Mund eines wüsten Marxisten, der seinen Lebensabend in einem Pensionistenheim in Wien-Hietzing damit zubrachte, auf einem Sessel zu thronen und Ungerechtigkeiten anzuprangern. Seine Mutter hatte ihn bei dem alten Mann abgesetzt, weil sie selbst nicht den Mut aufbrachte, die bürgerliche Fassade niederzureißen, die ihr echtes Leben verbarg.

Dass sie auf dem Strich anschaffte und sein Papa nicht sein leiblicher Vater war, erfuhr Helmut G. (Name von der Redaktion geändert) also von einem einsamen Fremden, der seine Mutter für Sex bezahlte und außerdem in Aussicht gestellt hatte, ihr all sein Geld zu hinterlassen, wenn er ein bisschen Familienanschluss bekäme. „Erbonkel“ nannte sie ihn hinter seinem Rücken.

Er war damals zwar alt genug, um die Worte zu verstehen, die ihm der Mann an den Kopf warf. Fühlen aber konnte er dazu nichts. Inzwischen ist Helmut G. fast 40, ein großer, attraktiver Mann mit einem federnd gespannten Körper, der in der Werbung arbeitete, als Sozialarbeiter schwierige Jugendliche betreute und vielleicht bald etwas Neues anfangen wird, weil er sich noch in jedem Beruf irgendwann wie in eine Zwangsjacke eingeschnürt fühlte.

Das Gefühl kennt er aus dem Internat, in das ihn seine Mutter schon als Vorschulkind abgeschoben hatte, um ungestört Freier zu bedienen. Vor einigen Monaten begann Helmut G. auf einem Internet-Blog aus seinem Leben als „Hurensohn“ zu erzählen. So nennt er sich, weil er begriffen hat, dass er sich von seiner Geschichte nur befreien kann, wenn er ihr nicht mehr ausweicht.

„Dein Vater darf es nie erfahren“
Auf der Fahrt nach Hause legte die Mutter dem 13-jährigen Buben, der soeben die ersten Brocken dieser Geschichte hingeschleudert bekommen hatte, eine zusätzliche Bürde auf die Schultern: „Dein Vater darf es nie erfahren, dass er nicht dein Vater ist.“ Er hatte schon einmal auf sie geschossen, nachdem er sie in der Sauna stöhnen gehört und eine Flasche Rémy Martin geleert hatte. Die Kugel steckte noch in der Decke des Wohnzimmers. Der Mann sei jederzeit zu allem fähig.

Elisabeth G. wird bald 70. Sie sitzt in Filzpatschen auf ihrem Bett in einem Pensionstenheim im Osten Österreichs und erzählt so teilnahmslos, als ginge es nicht um sie. Tatsächlich habe ihr Mann Helmut nie erfahren, dass der Bub, den sie nach ihm benannt hatte, nicht von ihm war. Von ihrem Balkon aus blickt sie auf einen blätterlosen Winterwald. „Brischiiid“ hatten die Männer sie gerufen, als sie jung war und wie Brigitte Bardot aussah. Es blieb jahrzehntelang ihr Name auf dem Strich.

Sie war ein lebenslustiges Mädchen aus armen, verlotterten Verhältnissen. Die Fürsorge hatte sie in ein Erziehungsheim gesperrt und als sie dort mit 14 Jahren schwanger wurde, gezwungen, ihr Kind zur Adoption freizugeben. Drei Jahre später wurde sie auf Bewährung entlassen. Kurz darauf machte sie ihre betörende Wirkung auf Männer erstmals zu Geld. Elisabeth G. hatte auf der Straße von Hütteldorf nach Purkersdorf Auto gestoppt. Der Fahrer eines roten Citroën mit weißen Lammfellbezügen wollte Sex, und sie sagte frech: „Das kostet aber einen Tausender.“ Sie fuhren in den Wald, danach hielt sie einen blauen Geldschein in der Hand, an dem sie sich gar nicht sattsehen konnte.

In der Tonband-Fabrik von Philipps verdiente sie damals sieben Schilling in der Stunde. Fünf dieser Tausender brauchte sie, um eine Behandlung für ihre krebskranke Mutter zu bezahlen. Im Hotel Rabe wurde sie beim Anschaffen erwischt. Sie hatte sich einen Tripper eingefangen, den sie in der Heilanstalt in Korneuburg auskurierte, und musste zurück in das brutale Unterwerfungs- und Gewaltregime eines Erziehungsheims. 1963 kam sie frei und begann in einer Färberei zu arbeiten.
Ihre Mutter hinterließ ein Haus in Purkersdorf, eine Hypothek von 230.000 Schilling und 20.000 Schilling Schulden. Die Liegenschaft drohte zwangsversteigert zu werden, ein Fleischhauer hatte bereits ein Auge darauf geworfen. Kurz bevor die Gnadenfrist für die erste 50.000-Schilling-Rate ablief, hatte Elisabeth G. das Geld beisammen. Sie war auf dem Straßenstrich immer weiter in Richtung Wien gewandert. Hier verdiente sie auch die Kosten für das Begräbnis ihrer Mutter. Das Bestattungsinstitut nahm ein gesticktes Bild in Anzahlung. „Drei Engel auf der Himmelswiese“ hieß es. Den Rest stotterte sie in 100-Schilling-Tranchen ab.

Im Jänner 1965, wenige Monate bevor Elisabeth G. großjährig wurde, meldete sie sich als Prostitutierte an und bekam eine Kontrollkarte. Es dauerte eine Weile, bis sie sich ihren Platz erkämpft hatte. Rivalinnen rissen ihr ein Büschel Haare aus und leerten den Inhalt ihrer Tasche auf den Boden. Doch sie ließ sich von „ihrer“ Ecke Pelzgasse/Goldschlaggasse unweit des Wiener Westbahnhofs nicht vertreiben.

Die Männer standen Schlange. Irgendwann habe sie angefangen, sich – „wie jede Frau“ – ein Baby zu wünschen. Auf dem Strich herrschte die eherne Regel: „Der Mann kriegt den Genuss, die Frau das Geld.“ Damit brach Elisabeth G., als sie sich Hals über Kopf in einen Freier verliebte. Er war ein „richtiger Gentlemen“ und hatte eine Frau, mit der er kein Kind zeugen konnte. Sein Verdienst als Prokurist einer Versicherung reichte für ein heimliches, außereheliches Familienglück.

Entbindung ald Tortur
Bald war Elisabeth G. schwanger. Ihr Sohn kam im November 1974 zur Welt. Die Entbindung war eine Tortur. Ihr Leben und das ihres Neugeborenen hingen an einem seidenen Faden. Als die Mutter auf der Intensivstation die Augen aufschlug, hatten die Ärzte ihr Gebärmutter und Eierstöcke entfernt. Drei Monate lang pausierte sie auf dem Strich, fühlte sich als Frau degradiert. Danach begann sie wieder zu arbeiten.

Das Baby schrie, wenn Kunden da waren. Bekamen die Männer das mit, wurden sie nervös. Ein Arzt, dem sie sich anvertraute, wusste von einem Platz auf der Säuglingsstation, wo zwei Frauen rund um die Uhr bis zu 15 Neugeborene und Kleinkinder überwachten. Hier blieb Helmut G. aufbewahrt, bis er zweieinhalb war. Seine Mutter nahm ihn an den Wochenenden zu sich. Schaute die Fürsorgerin vorbei, lag er frisch gebadet und gewickelt auf der Couch im Wohnzimmer seiner Eltern. Nach außen schien seine kleine Welt vollkommen in Ordnung.

Rückblickend sagt Elisabeth G., der Strich und ein Kind seien „wie zwei Zahnräder, die nicht und nicht zusammenpassen“. Es sei ihr deshalb nicht schwer gefallen, ihren fast Dreijährigen einem betagten Paar zu überlassen, das in einem etwas heruntergekommenen Haus mit dicken Teppichen und Aquarium lebte und einen kultivierten Eindruck machte. Helmut G. verdankt ihm die „besten Jahre seiner Kindheit“. Die Enkelkinder, die im Haushalt lebten, wurden zu Geschwistern.

Der Horror setzte jäh ein, als er in die Vorschule der katholischen Privatvolksschule Josefinum kam. Seine Mutter hatte ihn taufen lassen, damit er hier aufgenommen wurde. Die anderen Kinder gingen am Nachmittag an der Hand ihrer Eltern nach Hause, er blieb als einziges Vorschulkind allein im Internat zurück. In der Schule hatte er nur Einser, im Sport war er einer der Besten. Doch das half nicht gegen das zersetzende Gefühl, etwas sei falsch an ihm. Er fühlte sich weggelegt.

Die Prostitution aufzugeben, kam für Elisabeth G. nicht in Frage. Das verdiente Geld in Palisanderholzmöbel, edle Porzellanpferdchen und teuren Schmuck zu verwandeln, war ihr zur Passion geworden. Als der „Prokurist“ und leibliche Vater ihres Kindes sie mit Geld überhäufte, damit sie bei ihrem gemeinsamen Buben zu Hause blieb, streifte sie es ein und ging weiter anschaffen. Heute sagt sie, es sei schwer zurückzusteigen, wenn man sich einmal an das „Beste vom Besten“ gewöhnt habe.

Helmut G. war ein Kind, das keine Umstände machte. Seine Eltern mussten sich nicht besonders anstrengen, um seine Nöte zu übersehen. Mit zehn Jahren wechselte er zu den Schulbrüdern nach Strebersdorf. Manchmal klagte er über das strenge Regime des Präfekten. Doch dafür war der Mann an der Seite seiner Mutter taub. Der Bub habe zu essen und sei gut angezogen: „Es kann ihm an nichts fehlen.“

Erst mit 13 rebellierte Helmut G. und reklamierte sich in das Leben hinein, aus dem er ausgesperrt gewesen war, seit er denken konnte. Alles schien ihm besser, als unter der Fuchtel der Patres in Strebersdorf zu stehen – selbst der irrwitzige Kosmos seiner Mutter, in dem sich Männer mit seltsamen Namen tummelten. Buerlecithin hieß der Apotheker, der sie bis ins hohe Alter besuchte und stets ein Stärkungsmittel mitbrachte. „Simca“ und „Fiat“ rief sie nach den Autos, die sie fuhren. Hatte sich „der Hunger“ angemeldet, war ein zuckerkranker Mann mit unbeherrschten Fressanfällen gemeint.

Die Stammkunden sollten ihren Sohn nicht zu Gesicht bekommen. Einmal flüchtete Helmut G. über die Durchreiche in die Küche vor dem „Eierbauern“, einem strenggläubigen Familienvater, der sich dienstags im Wohnzimmer mit Pornos vergnügte und danach mit seiner Mutter im Keller verschwand. Sie habe versucht, ihren Sohn und die Prostitution auseinanderzuhalten, sagt Elisabeth G. Sie habe nie zu filtern verstanden, was den Augen und Ohren eines Kindes zumutbar ist, sagt Helmut G.: „Für mich war das alles zu viel.“

Bohrten seine Freunde nach, warum der Mercedes, in dem seine Mutter Freier bediente, keinen Vordersitz habe, erzählte er, auf diese Weise seien Großeinkäufe besser zu transportieren. Wie es hinter der Fassade des Einfamilienhauses mit dem gepflegten Garten aussah, sollte niemand erfahren.

Mit 14 eröffneten ihm seine Eltern, dass „die Mama sich wieder aufstellen muss“. Ein Teil ihrer Klientel war weggestorben. Um neue Kunden zu finden, sollte Brigitte wieder hinter dem Wiener Westbahnhof anschaffen. Die Freunde ihres Sohnes, der mittlerweile die Vorzeigeschule Sacré Coeur in Pressbaum besuchte, kamen aus den besten Familien und wohnten in prachtvollen Villen. Mit ihnen versuchte er mitzuhalten. Er wurde fast wahnsinnig vor Angst, einer von ihnen könnte seine über 40-jährige Mutter auf dem Straßenstrich sehen.

Zu Hause war ein Ort zum Schlafen, Duschen, Essen und Geldkriegen und die Kammer unter dem Dach, in der er seine Hausaufgaben erledigte. Sie war so winzig, dass er sich darin nicht aufrichten konnte. Erst als seine Oma ins Pflegeheim übersiedelte, bekam er ein eigenes Zimmer. Helmut G. schraubte die Türen ihres Einbauschrankes ab, stellte seine Musikanlage in die offenen Fächer und hängte Poster auf. Er schwor sich, dass er nicht mehr lange bleiben würde.

Seine Mutter hatte mit den Jahren aufgehört, den Schein zu wahren. Er musste nicht mehr mit dem Stiefvater im Mercedes-Taxi spazieren fahren oder auf der Terrasse im ersten Stock Tischtennis spielen, damit er die Besucher nicht erspähte. „Schau bei mir vorbei, wenn du in der Stadt bist“, sagte sie manchmal. Sie wollte ihm den Schrecken vor der Brigitte-Welt nehmen, träumte heimlich vielleicht sogar davon, er könnte zu einem Edelzuhälter heranwachsen. Sie schickte den 15-Jährigen den Gürtel entlang. Er sollte die Frauen fragen, ob sie einen Deckel hätten und wie viel sie so verlangten.

Nach dem Zivildienst packte Helmut G. seine Koffer und zog nach Wien. Auf seinem Sparbuch lagen 100.000 Schilling, Geld, das er als Belohnung für schulische Einser und sportliche Leistungen kassiert hatte und nun in eine Ausbildung an der Werbeakademie investierte. Er fand Freunde und Bekannte, die nicht nach seiner Herkunft fragten. Seine Eltern setzten sich zur Ruhe. Sie waren nun zwei normale Leute in Pension. Er atmete auf.
Den Frauen, mit denen Helmut G. es ernst war, hatte er nie etwas vorgemacht. Nun weihte er auch den einen oder anderen Freund ein. Er machte eine Psychoanalyse und studierte Sozialarbeit. Er wollte nicht mehr „performen“, sondern er selbst werden. Doch als es schien, die Vergangenheit lasse ihn allmählich aus ihren Klauen, sprang sie ihn hinterrücks wieder an. 2009 starb sein Ziehvater. Helmut G. begann nach seinem richtigen Vater zu forschen. Es dauerte eineinhalb Jahre, bis ein Gericht festgestellt hatte, dass seine Mutter ihm über den „Prokuristen“, seinen leiblichen Vater, die Wahrheit gesagt hatte.

Dafür hielt sie nun etwas anderes vor ihm verborgen. Nach dem Tod ihres Mannes wollte Elisabeth G. nicht mehr leben. Sie ließ das Auto reparieren, beglich alle Rechnungen, bezahlte das Familiengrab auf dem Ottakringer Friedhof und versuchte im Sommer 2012, mit Schlaftabletten Schluss zu machen. Helmut G. hatte seine Mutter ermuntert, jetzt, mit 65, endlich auf sich zu schauen. Doch etwas „Starkes, Unsichtbares“ hatte sich ihrer bemächtigt: „Man nennt es Depression“, sagt Elisabeth G.

Nach ihrem dritten Selbstmordversuch kam sie von der Psychiatrie direkt ins Pensionistenheim. Die begehrenswerte Brigitte war tot. Die patente Elisabeth G. gab es für sie auch nicht mehr. Die alte Frau in den Filzpatschen, die ab und zu auf die Terrasse geht, um eine Hobby zu rauchen, sagt, sie sei nur noch ein „Niemand“, ein „Arschloch, das es nicht geschafft habe, sich umzubringen“. Sie hat im Laufe ihres Lebens Unmengen Valium geschluckt, sie hat verbotene Abtreibungen überstanden und war dafür ins Gefängnis gekommen, sie überlebte eine traumatisierende Entbindung und musste, als ihre Stammkunden mit den Jahren weniger wurden, manchmal zehn Unbekannte an einem Tag verkraften: „Meine Nerven sind zerstört.“

Drei Mal hatten Freier ihr nach dem Leben getrachtet, sie sei deren mörderischen Angriffen nur mit „sehr viel Glück“ entronnen. Damals wollte sie noch nicht sterben: „Heute würde ich sagen: Stich zu! Und schau bitte, dass ich wirklich tot bin!“

Die 500.000 Euro, die sie ihrem Sohn als „Entschädigung für seine verpatzte Kindheit“ vermachen wollte, sieht sie nun den Bach hinuntergehen. Das Gericht bestellte für Elisabeth G. eine Sachwalterin, die das Haus in Purkersdorf, mit dessen Hypothek vor fast 50 Jahren alles begann, auf den Markt werfen will. Als Bub habe er sich manchmal wie ein Auto gefühlt, das man in eine Waschanlage schiebt, drinnen passiert etwas mit ihm, und dann kommt es wieder heraus, sagt Helmut G. Er will jetzt darum kämpfen, das Haus zu erhalten und zu vermieten: „Ich bin nicht mehr das Kind, das keine Umstände macht.“

Buchtipp
Beate Schaefer: Weiße Nelken für Elise. Die Liebe meiner Großeltern zwischen Wehrmachtsbordell und KZ. 255 Seiten. Euro 19,99.
Elise war Prostituierte in Frankfurt. 1940 wurde sie von der SS gezwungen, in einem Wehrmachtsbordell zu arbeiten. Ihr Liebhaber Walter wurde als „Berufskrimineller“ ins KZ Dachau gebracht und dort ermordet. Nach dem Krieg galt das Paar – ganz im Sinne der NS-Ideologie – weiter als „asozial“. Die Autorin Beate Schaefer arbeitet die Geschichte von Elise und Walter aus der Sicht der Enkelin auf.

Foto: Philipp Horak

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges