In den Krallen fetter Katzen

Rafael Chirbes: Virtuoser Wirtschaftskrisenroman „Am Ufer”

Literatur. Rafael Chirbes virtuoser Wirtschaftskrisenroman „Am Ufer”

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Wo Mangel waltete, herrscht nun Überfluss. Die Behörden im spanischen Küstenort Misent wissen nicht mehr, wohin mit dem Schwemmgut der Weltwirtschaftskrise: Waschmaschinen, Autos, Matratzen, Möbel, Computer. Durch Zwangsräumungen und eine Flut von richterlich angeordneten Beschlagnahmen füllen sich die amtlichen Lagerspeicher, auch die öffentlichen Versteigerungen schaffen keine Abhilfe. Der durch billiges Kreditgeld angeschaffte Luxus - der 42-Zoll-TV-Flachbildschirm, der Whirlpool in der 200-Quadratmeter-Wohnung - verkommt zu Plunder. Die "Lepra der Armut“, schreibt Rafael Chirbes in seinem jüngsten Roman "Am Ufer“, greife um sich.

Ursache und Wirkung der Staatsverschuldung
Es sind nicht nur die Auswirkungen von Geldgier und Getriebenheit, die Chirbes aus sicherer literarischer Distanz registriert - in "Am Ufer“ analysiert der Autor, der weitestgehend zurückgezogen an der Mittelmeerküste und in der portugiesischen Provinz lebt, Ursache und Wirkung der galoppierenden Staatsverschuldung und der geplatzten Immobilienblase, der Risikozuschläge und Sozialkürzungen. Chirbes, 64, ist aber ein zu meisterhafter Autor, um das Phänomen Weltwirtschaftskrise auf die Form der dichterischen Anklage und Litanei herunterzubrechen. Spaniens Schuldenberg ist aktuell auf einem Rekordhoch, die Verbindlichkeiten des Staates beliefen sich im ersten Quartal 2013 auf über 900 Milliarden Euro. Die letzten guten Nachrichten aus dem Land, die international wahrgenommen wurden, datieren aus 1992, als zugleich die Expo in Sevilla und die Olympischen Sommerspiele in Barcelona stattfanden - und Madrid Europäische Kulturhauptstadt war.

Wirtschaftlich überhoben
"Krematorium“, Chirbes’ 2008 veröffentlichter Krisenroman aus den Korruptionssümpfen der Immobilienbranche, der zugleich eine Trilogie über Spanien von 1940 bis in die Gegenwart abschloss, bildet gewissermaßen den Auftakt zu "Am Ufer“. Die Lage in Misent, in dem etliche Chirbes-Romane angesiedelt sind, hat sich seitdem noch verschlechtert: Misent, dieses mediterrane Florida, scheint in "Am Ufer“ eine tote Stadt zu sein - zahllose Betriebe sind geschlossen, die touristischen Invasoren, die den Ort einst bevölkerten, haben dem Badeparadies den Rücken gekehrt; der Repräsentant der Wohlanständigkeit, der Leiter der örtlichen Sparkasse, ist zum Paria verkommen. Auch Esteban, der Protagonist aus "Am Ufer“, hat sich wirtschaftlich überhoben: Statt sein lebenslanges Schreinerdasein in die sichere Pension münden zu lassen, geht er eine Finanzpartnerschaft mit dem Bauunternehmer Pedrós ein - mit vorhersehbarem Ergebnis: Estebans Traditionsbetrieb schlittert in die Pleite, Pedrós taucht unter.

Seine fünf Angestellten setzt Esteban auf die Straße. In Monologen, die Verhören von Verurteilten gleichen, kommen die Männer, die mit 425 Euro Arbeitslosengeld ihre Familien erhalten müssen, zu Wort, ohne besserwisserischen Erzählkommentar: Sie fragen sich, wie sie sich im "schwarzen Raum der Nicht-Zukunft“ zurechtfinden werden, geben darüber Auskunft, wie es sich anfühlt, als "verängstigte Maus in den Krallen fetter Katzen“ zu zappeln.

Lebenskatastrophen
Es benötigt einiges an narrativem Virtuosentum, um den Leerlauf der Romanhandlung, die dem Gesetz der Monotonie gehorcht und die Daseinsöde der Bankrotteure zeigt, vornehmlich mit sprachlichen Mitteln zu bewältigen. Chirbes glückt das furios, indem er Esteban im Dauerselbstgespräch klagen, zetern, räsonieren lässt. Chirbes stellt die anonymen Opfer der Wirtschaftskrise in den Mittelpunkt - die Krise begreift er als Geschichtskette, als Resultat vertaner Chancen und persönlicher Schicksalsschläge, die sich zu Lebenskatastrophen summieren. Rafael Chirbes’ Roman erzählt auch von einer Zeiten- und Wertewende. Estebans Vater, der langjährige Seniorchef der Schreinerei, erklärt: "Wir beuten niemanden aus, wir leben von unserer Arbeit.“ Esteban selbst redet sich sein Versagen schön: "Das Geschäft mit Pedrós sollte einen Anabolika-Effekt haben, unsere schlaffen Konten etwas mit Muskeln durchsetzen.“

Motivtiefenbohrung zur Krise
"Am Ufer“ ist die erste literarische Motivtiefenbohrung zur Krise. Ein Epos, das sich nicht in "Krise!“-Gezeter und Wirtschaft-versus-Menschlichkeit-Schematismus erschöpft, sondern sich der allgemeinen sozialen Instabilität widmet, die umfassend in das Leben jedes Einzelnen diffundiert ist. Chirbes bewährt sich dabei als Autor der Ambivalenz, der keine Instant-Lösungen für komplexe Zusammenhänge bieten will. "Nein, nein, die Liebe hat keinen Marktwert“, ist sich Esteban sicher - um wenig später eines der vermeintlich letzten Moralprinzipien zu erschüttern: "Was eine Ehe wirklich zusammenschweißt, das sind die gemeinsamen Geschäfte oder die zu zweit unterschriebenen Wechsel. Du beantragst einen Kredit auf 20 Jahre und sicherst damit deine Ehe für ein halbes Leben. Das ist die wahre Liebe, nicht die Worte, die der Wind verweht.“

Es ist ein geringer Trost, dass es den Ort Misent in Wirklichkeit nicht gibt. Rafael Chirbes hat Misent als Musterschreckensstadt erfunden.

Rafael Chirbes: Am Ufer. Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz. Kunstmann, 430 S., EUR 25,60

Wolfgang   Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.