Weihnachten

Richtig streiten unterm Baum

Narzisstische Mütter, emotional abwesende Väter, eifersüchtige Geschwister, weit nach rechts gerückte Verwandte: Weihnachten und der Jahreswechsel sind Pop-up-Zeiten für verdrängte Gefühle in jeder Beziehung. Ein Verhaltens-Navi, damit die Festtagsstimmung nicht in Schieflage gerät.

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Eigentlich hat man diese literarischen Zitate ja bis obenhin, weil sie schon so inflationär zum Einsatz gekommen sind. Allerdings sind sie nie so passend wie um diese Jahreszeit. Die Strahlkraft von Tolstois erstem Satz in „Anna Karenina“ hat die Jahrhunderte unbeschadet überstanden: „Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich; jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise.“ Und Arthur Schnitzler, der feinfühlige Wiener Radiologe zwischenmenschlicher Desaster, ergänzt dazu perfekt: „Wahrhaft ungütig sind wir nur gegen Menschen, von denen wir wissen, daß sie uns niemals verloren gehen können.“ Also in der Regel gegenüber der Familie. Trotzdem ist die Erleichterung oft groß, wenn die Hängebrücke über die Abgründe verdrängter emotionaler Befindlichkeiten nach der anstrengendsten Zeit im Jahr ohne Konflikteskalationen überquert werden konnte.

Warum birgt just jene Jahreszeit, in der alles still und friedlich sein sollte, eine solche Gefahrenzone für Provokationen, Reibereien und Kränkungen?

Viele haben rund um Weihnachten in der Kindheit Defizite erlebt, die in diesem Kontext wieder getriggert werden. Und angesichts der Idylle-Inszenierungen in der unmittelbaren Umgebung und in allen (sozialen) Medien schwappen diese manchmal traumatisierenden Erlebnisse ins Bewusstsein, was unter Stress setzt und die Schwachstellen der aktuellen Partnerschaft intensiver erleben lässt.

„My God, it’s over!“, schreit Homer Simpson nach dem Ende des Festtagsmarathons in einer der zahlreichen Weihnachtsepisoden der vom Schicksal und von Matt Groening gezeichneten Trickfamilie. „We are free!“ Aber noch ist es nicht so weit. Noch stehen die Festtagsessen großteils aus, in denen die vegane Cousine schmallippig aufspringt, weil die Tante vergessen hat, ihr eine Portion Gemüseallerlei vorzubereiten. Oder die Ehefrau beziehungsweise Lebenspartnerin ins Nebenzimmer läuft, weil ihr der „Meinige“ nichts auf den Gabentisch gelegt hatte, sondern per Mail einen Geschenk-Link (das ist der Gutschein 2.0, also eine Geste der Abwertung) zugeschickt hat, wo sie sich „was Nützliches“ aussuchen könne. Oder der Onkel, einst ideologisch in roter Wolle gefärbt, eine Fahrt ins sehr Blaue gemacht hat und nach dem dritten Glas Rotwein Sätze von sich gibt wie: „Ma hört ja in der U-Bahn ka deutsches Wort mehr.“ „Die fahr’n ja alle SUVs, diese Ukrainer. I kann ma des net leisten, so an SUV, aber mir, mir zahlen des alles.“ Oder: „Der Kickl, der zeigt denen Großkopferten wenigstens, wie der Hase läuft …“

Angelika   Hager

Angelika Hager

leitet das Gesellschafts-Ressort

Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur, ist seit 2020 Textchef dieses Magazins und zählt zum Kernteam von faktiv.