„Fass ohne Boden“

Schiele-Mappe: Die Wahrheit über einen „Sensationsfund“

Affäre. Die angeblich auf einem Dachboden gefundene Schiele-Mappe ist großteils gefälscht

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Die Meldung platzte in jene Zeit zwischen den Jahren, in der es üblicherweise nicht besonders viel zu berichten gibt und die Redaktionen schütter besetzt sind: Am 30. Dezember 2013 meldete das Wiener Gratisblatt „Heute“ die Entdeckung einer Schiele-Mappe in Niederösterreich – ein Sensationsfund. Bereits im September hatte die U-Bahn-Zeitung von einem Konvolut berichtet, das ein Mistelbacher entdeckt habe und das möglicherweise Egon Schiele zuzuschreiben sei. Nun sei diese Vermutung bestätigt worden, hieß es. „Jackpot für einen Familienvater (38) aus dem Bezirk Mistelbach“, schrieb das Blatt: „Jene Egon-Schiele-Mappe, die der Angestellte beim Durchwühlen der Verlassenschaft seines toten Vaters im September 2013 am Dachboden gefunden hatte, wurde jetzt von der New Yorker Galeristin Jane Kallir für echt befunden.“

Neben dem Bericht bildete man ein Aquarell mit dem Titel „Segelboot am See“ ab. Bereitwillig übernahmen zahlreiche Medien via APA die Meldung, „Presse“ und „Standard“ in ihren Onlineausgaben ebenso wie Regionalzeitungen und der ORF-Teletext. Der Haken an der Sache: Die Mappe, die der wohl weltweit wichtigsten Schiele-Expertin Jane Kallir vorgelegt wurde, ist weder eine Neuentdeckung noch in ihrer Gesamtheit echt. Tatsächlich handelt es sich dabei um ein skurriles Fälschungskonstrukt, und ein wenig fühlt man sich an den angeblichen Fund von 100 Zeichnungen des Barockmalers Michelangelo Merisi da Caravaggio erinnert, der 2012 die Medien in Atem hielt – bis sich seriöse Forscher zu Wort meldeten und die Authentizität der vermeintlichen Entdeckung bezweifelten.

Auch beim Mistelbacher Dachbodenfundstück passt einiges nicht zusammen. Der Kunsthistoriker Christian Bauer, der im Vorjahr ein Buch zum Frühwerk Schieles publizierte und als Kurator das Schiele-Museum in Tulln neu aufgestellt hat, kennt das angeblich im vorigen Herbst aufgefundene Konvolut bereits seit Oktober 2011. Damals zeigte ihm ein Kollege Fotos davon. Diesem wiederum war es zur Begutachtung und zu einem allfälligen späteren Ankauf vorgelegt worden; der vermittelnde Händler behauptete allerdings, die Mappe stamme aus Klosterneuburger Privatbesitz.

„Ich staunte nicht schlecht, denn die Mappe war in einer Art durchwachsen, wie ich es noch nie erlebt habe“, erinnert sich Bauer an die Sichtung des Werks. Der Band besteht aus sechs eingeklebten Bildern; dazwischen schieben sich Seiten mit einzelnen Wörtern, die das Schriftbild des Expressionisten imitieren. Die Textteile sollen augenscheinlich suggerieren, dass sich Schiele als „Suchender“ darstellen wollte. „Dir von mir“ steht in etwas wackeligen Buchstaben auf der ersten Seite des Portfolios, danach variiert der Text kaum mehr: „Ich suchte“… „suchte“… – die Schrift wird immer größer, als sollte sie dem Inhalt mehr und mehr Nachdruck verleihen – „suchte“… „suche“. Am Ende der melodramatisch dargestellten Fahndung – wonach auch immer – steht jene bange Frage, die sich wohl jeder Mittelschüler in der Pubertätskrise irgendwann stellt: „Werde ich finden?“
Die merkwürdige Dramaturgie vermag Schiele-Experten freilich nicht darüber hinwegzutäuschen, dass auf drei echte Aquarelle – sie datieren aus dem Jahr 1907 – drei Fälschungen folgen: Die Zeichnungen, die laut Signatur in den Jahren 1911 bis 1914 entstanden sein sollen, sind ganz offensichtlich Fakes. Die drei authentischen Frühwerke hatte Kallir – so viel zum Thema „Sensationsfund“ – bereits 1990 in ihren Schiele-Œuvrekatalog aufgenommen: Jenes 28,1 x 19 cm große Aquarell, das in „Heute“ abgebildet war, verzeichnete sie unter der Nummer 166 als „Segelschiff mit Spiegelungen“. Nummer 167 ihres umfangreichen und akribisch recherchierten Catalogue raisonné stellt einen „Garten mit Baum“ (25 x 18,6 cm) dar, Nummer 165 ist ein 17,9 x 23,1 cm großes „Segelschiff in Blau“. In ihrem Standardwerk notierte Kallir zudem bereits damals, dass alle drei Aquarelle Teile einer Mappe darstellten, „deren weitere Inhalte von zweifelhafter Authentizität“ seien. Bei diesen „weiteren Inhalten“ handelt es sich um einen männlichen Akt, einen sitzenden Mann sowie ein Selbstporträt.

Portfolio seit 1986 bekannt
Kallir, von profil zu dem Machwerk befragt, erklärt, dass sie das Portfolio bereits seit 1986 kennt; damals sei es ihr von einem Wiener Kunsthändler vorgelegt worden. Ihr Befund: „Die Mappe als Ganzes ist meiner Ansicht nach eine Fälschung. Allerdings hat offensichtlich jemand drei echte Schiele-Aquarelle hineinmontiert, wer auch immer das war. Zwar sind Schiele-Aquarelle aus dem Jahr 1907 nicht sonderlich interessant. Aber irgendjemand hat sie offenbar benutzt, um dieses Konvolut daraus zu machen.“ Sie ist überzeugt davon, dass nicht nur der Text, sondern auch die Zeichnungen Fälschungen seien. Ebenso vernichtend hört sich Bauers Urteil an: „Bei den Werken, die 1911, 1913 und 1914 entstanden sein sollen, scheint es sich um ausgesprochen plumpe Nachempfindungen von Schieles Repertoire dieser Jahre zu handeln. Seine Themenauffassung wurde hier ebenso missverstanden wie sein stilistisches Vokabular. Zeichen und Figuren werden dekorativ in Szene gesetzt und sind, etwa im angeblichen Selbstporträt, in eine geradezu lächerliche Süßlichkeit gesteigert, sodass man sich an Merchandising-Artikel der übelsten Sorte erinnert fühlt.“ Auch die Konstruktion überzeugte Bauer keineswegs: „Vollends kindisch erscheint die Erzählung, die als Klammer zwischen den Werkgruppen vermitteln soll. Die Choreografie des ‚Suchenden’, der sich hilflos durchs Schaffen bewegt, wirkt unfreiwillig komisch. Mit Schieles Selbstbewusstsein, seiner Stilsicherheit des Ausdrucks und seiner überzeugenden Typografie hat das aus meiner Sicht nichts zu tun.“
Wären die Zeichnungen echt, so wären sie weitaus mehr wert als die frühen und etwas harmlosen Aquarelle, die Schiele im Alter von nur 17 Jahren malte. Zwar erzielen Zeichnungen von Schiele nicht ganz so hohe Summen wie seine Gemälde; signifikante Arbeiten aus dem Spätwerk des früh Verstorbenen bringen in Auktionen allerdings schon mal mehrere hunderttausend Euro; nicht selten kratzen sie an der Millionengrenze oder überschreiten diese sogar.

Über die Herkunft und Entstehungszeit der Mappe können auch die Experten bis dato nur Mutmaßungen anstellen. Kallir: „Ich denke, dass die Mappe in der Nachkriegszeit entstanden ist. Die Fälschungen davor sehen etwas anders aus.“ Der Zeitraum lässt sich damit grob auf die vier Jahrzehnte zwischen 1945 und 1986 einschränken, als Kallir das Ding erstmals zu Gesicht bekam. Christian Bauer hält es für wahrscheinlich, dass die Zeichnungen in den 1950er-Jahren angefertigt wurden: „Das Verkitschen einer modernen Stilsprache hat damals in der Kunst Schule gemacht; durchaus denkbar, dass sich diese falschen Schieles daran orientierten.“

Die Fälschungen sind zwar so schlicht, dass jeder Experte sie sofort enttarnen würde. Allerdings kaufen ab und zu Privatpersonen Kunstwerke an, ohne über Expertisen zu verfügen. Und bis heute kursieren zahlreiche Schiele-Fakes. Kallir meint: „Mir werden rund 50 angebliche Schieles pro Jahr vorgelegt; fünf oder zehn Prozent davon sind meiner Meinung nach echt, der Rest sind Fälschungen. Man findet das Zeug auf eBay – es ist ein Fass ohne Boden!“ Allerdings muss nicht hinter jedem Pseudo-Schiele ursprünglich böse Absicht gestanden sein. Ebenso könne es sich dabei um „Kopien und Interpretationen“ handeln, „die als harmloses Training von Künstlern und Amateuren geschaffen worden sind“, so Bauer.
Dennoch ist die Provenienz des Portfolios schleierhaft. Jane Kallir schildert ihre Begegnung mit dem Besitzer jedenfalls ganz anders als die weithin kolportierte Dachbodengeschichte: „Im Oktober, als ich in Wien war, kam ein Mann zu mir und zeigte mir die Mappe. Er sagte, er habe sie von einem Freund bekommen, der damit seine Schulden bei ihm abzahle. Er wollte wissen, ob sie echt sei. Ich schaute mir das Portfolio an und erklärte erneut, dass in meinen Augen die drei Aquarelle echt seien, der Rest dagegen gefälscht.“ Nachsatz: „Woher die Geschichte mit dem Dachboden kommt, ist mir ein Rätsel.“

Mittlerweile wurde das skurrile Konvolut allerdings in seine Einzelteile zerlegt. Denn demnächst werden zwei der drei frühen Aquarelle vom Auktionshaus Bonhams versteigert: Am 4. Februar kommen in London die Bilder „Garten mit Baum“ und „Segelschiff mit Spiegelungen“ zum Aufruf. Ihr Schätzwert liegt bei 36.000 bis 60.000 Euro. In der detaillierten Beschreibung des Auktionshauses zu dem noch recht braven „Segelschiff mit Spiegelungen“ steht, dass das Werk wahrscheinlich während eines Triest-Aufenthalts Schieles entstanden sei; dass es zu einer Serie von Werken mit Bootszenen gehöre; dass es den rebellischen wie pionierhaften Geist von Schieles Kunst vorwegnehme. Von der eigenartigen Mappe und vom vermeintlichen Mistelbacher Sensationsfund ist in den Ausführungen nicht die Rede.

Nina   Schedlmayer

Nina Schedlmayer