Erziehung

Smartphones in der Schule: „Wir haben die Kinder verloren“

Silke Müller, 37, Schulleiterin in Niedersachsen, deutsche Digitalbotschafterin und Bestsellerautorin, erklärt, warum sie für ein Handyverbot für unter 14-Jährige ist – „mit hoher Strafandrohung“.

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Gerade wird in mehreren europäischen Ländern über ein Handyverbot an Schulen diskutiert. Wie halten Sie es damit denn an Ihrer Schule?
Müller
Ich bin immer wieder verwundert über solche Forderungen. Wir haben – obwohl wir eine digitale Schule sind und seit über zehn Jahren mit digitalen Endgeräten arbeiten – noch nie eine Handy-Nutzungserlaubnis gehabt. Die Kinder können zwar ihre Smartphones mitbringen, das dürfen wir auch nicht untersagen, aber selbstverständlich können wir ein Nutzungsverbot während der Unterrichtszeiten und auch während der Pausen aussprechen. Es gibt bei uns auch keine Handy-Zone oder andere Bereiche, wo es dann doch erlaubt ist.
Was ist Ihre Begründung für diesen Schritt?
Müller
Wir machen das, weil wir glauben, dass die Schule einer der ganz wenigen Orte ist, wo wir noch Anreize bieten können für eine alternative Zeitgestaltung, für Beziehungs- und Bindungsarbeit. Wo man sich bei Streit persönlich miteinander auseinandersetzt, wo man sich vielleicht auch einmal langweilt – und damit Anreize für ein gutes, menschliches Miteinander hat. Natürlich unterwandern Kinder diese Regeln auch manchmal, dann landet das Handy bei mir in der Direktion. Und Sie würden sich wundern, wenn Sie wüssten, wie oft diese Handys dann in meiner Schublade vibrieren. Es ist unfassbar, welcher Traffic auf die Schüler einprasselt.
Laut einigen aktuellen Digital-Studien empfinden das auch viele Jugendliche als Stressfaktor. Sind Ihre Schüler vielleicht sogar dankbar, wenn sie davon befreit werden?
Müller
Absolut. Wenn man mit den Kindern ernsthaft ins Gespräch einsteigt und sie fragt: Wie würde ein gutes Miteinander für euch aussehen? Dann sagen sie ganz oft: mit weniger Handy. 
Sie unterrichten Zehn- bis 16-Jährige. Der US-Sozialwissenschafter Jonathan Haidt ist für diese Altersgruppe sehr pessimistisch und sieht eine Parallele zwischen der Verbreitung von Smartphones und einer neuen Epidemie psychologischer Erkrankungen. Sehen Sie das auch so drastisch?
Müller
Wenn man nichts schönfärben will, muss man tatsächlich sagen: Wir haben die Kinder verloren. Ich finde es gerechtfertigt, in dieser Frage alarmistisch zu sein. Was Haidt wissenschaftlich beschreibt, sehe ich im Alltag: Wir merken, dass sich die Kinder in ihrem Verhalten verändern, weil sie Konzentrationsstörungen bekommen, weil ihre Sprache verroht, nicht nur im digitalen Raum, sondern auch im persönlichen Umgang miteinander. Die Empathie sinkt. Das kann man nicht einfach wegwischen, und die Antwort kann nicht sein: Wir machen ein bisschen Prävention oder beschränken die Bildschirmzeit. 
Welche Effekte sehen Sie in der Schule konkret?
Müller
Unsere Schule ist eigentlich ein Bullerbü – ländliches Umfeld, stabile Elternhäuser – und trotzdem haben wir seit einigen Jahren viel mehr Kinder in psychotherapeutischer Begleitung, wir haben sehr viel mit Schulabsentismus und Schulangst zu tun, wir haben viel mehr Kinder mit depressiven Störungen, mit Lernschwierigkeiten, mit Störungen in der Persönlichkeitsentwicklung. Ich bin keine Psychologin, aber ich kann feststellen, dass es mit Einzug von TikTok und Co. auf den Smartphones der Kinder eine klar negative Entwicklung gab – übrigens auch, was die politische Haltung betrifft. Wie die Kinder sich hier vor allem von der AfD beeinflussen lassen, ist unglaublich.
Es gibt an Ihrer Schule eine eigene Smartphone-Sprechstunde. Kann man das Problem denn durch Beratung bekämpfen? Sind Suchteffekte nicht am Ende immer stärker?
Müller
Das sind sie tatsächlich. Die Sprechstunde dient dazu, Kinder zu begleiten, denen schon etwas passiert ist. Aber wir können damit nichts verhindern. Wir haben tolle Präventionsprogramme, die Kinder wissen alle, wie sie sich verhalten sollten, die Erwachsenen übrigens auch, aber die Grenzen und Regeln werden umgangen, weil der Suchtfaktor so unfassbar groß ist. Man kann den Kindern nicht einfach sagen: Jetzt leg mal das Ding weg! Man kann einem Alkoholiker auch nicht sagen: Mensch, jetzt trink doch mal nichts mehr! Eine Sucht behandle ich nicht durch nette Worte. Es ist in den Köpfen vieler Eltern, aber auch bei Politikern und Pädagogen noch nicht angekommen, dass wir hier über eine gesellschaftliche Erkrankung sprechen. 
Was lässt sich dagegen dann noch unternehmen?
Müller
In Wirklichkeit müsste es einen Riesenknall geben. Im Jugendschutzgesetz müsste verankert werden, dass Eltern ihren Kindern vor dem Alter von 14 Jahren kein Smartphone geben dürfen – gesetzlich verboten, hohe Strafandrohung. Es müsste handyfreie Restaurants geben, so wie es rauchfreie Restaurants gibt. Aber das passiert nicht, weil die kommerzielle Macht von Hardware-, Software und Netzbetreibern so groß ist. Wir haben die Kontrolle abgegeben.
Wie geht es Ihnen als Schulleiterin mit den Eltern: Nehmen die das Problem wahr?
Müller
Die Eltern, mit denen ich ins Gespräch komme oder die zu meinen Elternabenden kommen, wo ich zeige, was hier auf den Smartphones der Kinder los ist, sind in der Regel die Eltern, die sich ohnehin kümmern. Der weitaus größere Teil sagt: Was interessiert mich das? Das hat übrigens nichts mit Bildungsschicht oder Nichtbildungsschicht zu tun. Viele Eltern sind einfach nicht bereit, sich in der Erziehung anstrengen zu müssen. 
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Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur, ist seit 2020 Textchef dieses Magazins und zählt zum Kernteam von faktiv.