Social Media: Der Werbeboykott gegen Facebook und seine Folgen

Facebook hat Probleme – schon wieder. Diesmal sind es aber nicht die User, die protestieren, sondern die Werbekunden. Diesmal kann der Internet-Gigant die Angelegenheit also nicht so einfach ignorieren.

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Wie kompliziert die Welt manchmal ist, lässt sich sehr schön im Zubehör-Shop des US-Präsidenten sehen, wo zwischen Kaffeehäferln, Hundeleinen und Stoßstangenpickerln gerade die letzten „Make America Great Again“-Kapperl in Regenbogenfarben verscherbelt werden, die vermutlich als Zubehör für die nächste nationalkonservative Gay-Pride-Parade gedacht waren (die „Trump Pride“-Shirts sind schon ausverkauft). Man findet den Shop auf Donald Trumps Facebook-Page ganz oben, gleich unter dem Wahlkampfvideo mit den gerührten Kindern und Veteranen. Weiter unten wird es dann wieder eindeutiger. Der Präsident postet manisch und entlang klarer Linien, die Welt ist nämlich manchmal überhaupt nicht kompliziert oder auch nur bunt, sondern einfach nur schwarz und weiß. Joe Biden? Korrupt. Die Demokraten? Lügner. Zeitungen? Lügner. Coronavirus? Chinesisch.  Demonstranten? Gangster. Die Präsidentenwahl im Herbst? Wahrscheinlich jetzt schon gefälscht.

Noch ein Stück weiter unten steht der Beitrag, mit dem alles ins Rollen kam. 29. Mai: Der Präsident erklärt den Protesten gegen die Ermordung von George Floyd den Krieg: „when the looting starts, the shooting starts“ – wenn geplündert wird, wird geschossen. 200.000 Daumen nach oben, 35.000 Herzen dazu, 55.000 Kommentare. Es war beileibe nicht die erste Entgleisung, aber es war eine zu viel.

Nicht für Trump freilich, dessen Geschäft die Entgleisung ist, sondern für Facebook, das mit Trump eigentlich sehr gute Geschäfte macht. Allein in den vergangenen 30 Tagen schaltete Trumps Wiederwahlkampagne Facebook-Werbung im Wert von sechs Millionen US-Dollar. Dafür bekam man eine perfekte Bühne, ein dankbares Publikum – und niemand, der einem dreinredet.

"Big spender" frieren Facebook-Budgets ein

Letzteres bringt Facebook nun aber in die Bredouille. Mehrere US-Bürgerrechtsinitiativen regten Mitte Juni unter dem Schlagwort #stophateforprofit einen Werbeboykott an, der Facebook zu einem verantwortungsvolleren Umgang mit Fake-News und Hassbotschaften bewegen soll. Die Online-Plattform müsse konsequenter gegen spalterische Postings vorgehen, als sie das bisher getan hat. Die Zeit war wohl reif für eine solche Kampagne: Tatsächlich haben bereits über 400 Werbekunden, darunter auch echte big spender wie Unilever, Coca-Cola, Pfizer, Lego, Henkel oder Volkswagen, ihre Facebook-Budgets eingefroren, teils nur für den Monat Juli, teils sogar bis Ende des Jahres.

Die Kritik trifft Facebook an der empfindlichsten Stelle: auf seinem Standbein. Von den 70,7 Milliarden US-Dollar, die Facebook im vergangenen Jahr umsetzte, stammten 98 Prozent aus Werbung. Das Geschäft ist noch lange nicht ausgereizt, der Werbekuchen geht noch weiter auf. Im ersten Quartal 2020 hat Facebook 17,4 Milliarden US-Dollar aus Werbung erlöst, 17 Prozent mehr als im gleichen Zeitraum 2019, und netto 4,9 Milliarden verdient (mehr als doppelt so viel wie im Vorjahr, auch weil die effektive Steuerquote auf 16 % gedrückt werden konnte). Täglich sind 1,73 Milliarden Menschen auf Facebook aktiv, monatlich sind es 2,6 Milliarden. Gegen solche Zahlen wirken die bis dato angekündigten Etatkürzungen zwar geringfügig, und tatsächlich hat das 2004 gegründete Unternehmen schon andere, vermeintlich existenzielle Krisen ohne wesentlichen Schaden überstanden. Das sehen einstweilen auch die Börsen so: Die Facebook-Aktie hat sich von ihrem kurzfristigen Einbruch Ende der Vorwoche (der Mark Zuckerbergs Vermögen vorübergehend um sieben Milliarden US-Dollar dezimierte) wieder erholt (der Facebook-Gründer und CEO hat jetzt wieder mehr als 90 Milliarden Dollar auf der hohen Kante).

Dennoch: Der Werbeboykott schmerzt, auch weil er gerade Schule macht, und weil es, in einem leider zynischen Geschäft, vielen Unternehmen gerade opportun erscheint, politisch wachsam zu wirken, was wiederum derzeit recht günstig zu haben ist, nämlich kostenlos. Der Gigant wankt. Mark Zuckerberg hat allerdings einen guten Gleichgewichtssinn, der 36-Jährige wurde schon öfter angestupst, zuletzt etwa bei einer reichlich kritischen Anhörung im US-Kongress im vergangenen Oktober, als der Senat Details über Datenschutzprobleme und russische Einflussnahme via Facebook erfahren wollte (aber nicht viel erfuhr), oder im März  2018, als der Datenschutz-Skandal um die britische Beratungsfirma Cambridge Analytica publik wurde, die persönliche Daten von rund 50 Millionen Facebook-Usern gesammelt und in Form detaillierter psychologischer Zielgruppenanalysen weiterverkauft hatte, insbesondere auch an das Wahlkampfteam des späteren US-Präsidenten Donald Trump.

Verschwimmende Unterschiede

Es werde wohl Jahre dauern, „bis wir das in den Griff bekommen“, hatte Mark Zuckerberg damals erklärt. Facebook hat es bis heute nicht geschafft. Kritiker des Unternehmens meinen: weil das gar nicht in seinem Interesse liegt. Manipulation gehört zum Wesen von Facebook wie der Gefälltmirdaumen. Facebook behauptet freie Rede und verkauft verpackte Zielgruppen. Und weil Facebook alle Inhalte stur gleich behandelt, verschwimmen zwangsläufig die Unterschiede. Die offene Plattform ist so konstruiert, dass zwischen echten Nachrichten, falschen Gerüchten, Werbung und Wahrheit kaum differenziert werden kann. Für die künstliche Intelligenz, die Facebook-Werbung organisiert, macht das ja auch keinen Unterschied, solange der Effekt der gleiche ist: Menschen sehen Botschaften, die sie sehen sollen, weil jemand dafür bezahlt hat.

Vor dunkler Holzvertäfelung und ehrfürchtigen Studenten erklärte Mark Zuckerberg im vergangenen Oktober, wie er die Sache sieht. An der Georgetown University hielt der Facebook-Gründer eine 35-minütige, gravitätisch angelegte Rede, in der er Selbstverständliches predigte: Freie Meinungsäußerung ist ein hohes Gut und müsse natürlich auch für politische Meinungen gelten. Dem lässt sich schwer widersprechen. Es lässt sich allerdings im vorliegenden Fall doch hinterfragen, zumindest auf seine Motive hin. Zuckerbergs Beharren auf eine möglichst uneingeschränkte Redefreiheit mag offiziell auf weltanschaulichen Gründen basieren, hat aber ökonomische Räson: Laut dem US-"Communications Decency Act“ können Internet-Plattformen als reine Trägermedien nicht für Inhalte verantwortlich gemacht werden, die ihre User posten.

Sobald Facebook allerdings als redaktionelle Instanz erscheint, wird womöglich eine Haftung begründet.Auch deshalb sind monatelange recherchierte Berichte internationaler Traditionszeitungen auf Facebook von hanebüchenen Spaß- und Hass-Meldungen so schwer zu unterscheiden. Zuckerbergs Dreisprung führt direkt in den gesellschaftlichen Treibsand: Weil Werbung ihrem Wesen nach manipulativ ist, auf Facebook de facto aber nicht von anderen Inhalten zu unterscheiden ist, geht am Ende der Unterschied zwischen Manipulation und Wahrheit unter.

Dass ausgerechnet das Social-Media-Verhalten des US-Präsidenten im Zentrum der Debatte steht, ist in einem Wahljahr einerseits verständlich, für Facebook aber besonders unangenehm. Zuckerbergs Zurückhaltung in Bezug auf zweifelhafte Botschaften aus dem Weißen Haus hat auch damit zu tun, dass sich der Konzern nicht leisten kann, republikanische Gesetzgeber zu verärgern. Im Silicon Valley fühlt man sich zwar tendenziell über den alten, altmodischen Staat erhaben, ist aber eben doch auch Gesetzen unterworfen, die je nach Lobbyingerfolg strenger oder laxer ausgelegt werden können.

Natürlich gibt es Regeln auf Facebook. Sie werden, durchaus ausführlich, unter dem Stichwort „Gemeinschaftsstandards“ erläutert: „Unsere Verpflichtung zur Meinungsfreiheit hat zwar höchste Priorität, aber uns ist bewusst, dass das Internet neue und vermehrte Möglichkeiten für Missbrauch bietet. Deshalb schränken wir die freie Meinungsäußerung ein, wenn wir dadurch einen oder mehrere der folgenden Werte wahren.“ Es folgen die Werte: Authentizität, Sicherheit, Privatsphäre, Würde. Tatsächlich löscht Facebook unter erheblichem technischen und menschlichen Aufwand täglich Millionen problematischer Postings. Aber: „In einigen Fällen lassen wir Inhalte zu, die andernfalls gegen unsere Gemeinschaftsstandards verstoßen würden – nämlich dann, wenn diese Inhalte berichtenswert sind und ihre Veröffentlichung im öffentlichen Interesse liegt.“

Facebook misst mit mehrerlei Maß

Genau das ist das Problem: Facebook misst mit mehrerlei Maß, sperrt nackte Brüste, aber lässt, wenn es das öffentliche (oder das eigene) Interesse gebietet, Rassismus unkommentiert stehen. Nach den jüngsten Protesten von Werbekunden und einer Arbeitsniederlegung Hunderter Mitarbeiter machte Facebook in den vergangenen Tagen weitere Zugeständnisse, sperrte rechtsradikale Hassgruppen, intensivierte die Zusammenarbeit mit Bürgerrechtsinitiativen und unabhängigen Aufsichtsorganen und kündigte Faktenchecks und Ergänzungen zu irreführenden politischen Postings an. Die interne Definition von „Hassrede“ wurde ausgeweitet, politische Werbung lässt sich jetzt individuell abbestellen.

Zudem hat Mark Zuckerberg auch persönlich klargestellt, dass er vielem, was der US-Präsident so auf Facebook sagt, „stark widersprechen“ würde. Das wird nicht reichen. Der aktuelle Protest kommt schließlich nicht aus dem luftleeren Raum. Der Eintrag zu „Kritik an Facebook“ in der englischsprachigen Wikipedia umfasst 20 Kapitel und 89 Unterkapitel, die von „Data Mining“ über „Narcissism“ und „Fake News“ bis "Censorship“ reichen. Ein Drittel der Weltbevölkerung liegt in der Einflusssphäre dieser Problemfelder, und wie sich die Welt im vergangenen Jahrzehnt entwickelt hat, hat in Teilen wohl mit diesem Eindruck zu tun. Es ist nicht endgültig nachzuweisen, aber gut zu argumentieren, dass autoritärer Populismus in den USA, auf den Philippinen oder in Brasilien ohne soziale Netzwerke nicht denselben Erfolg und Großbritannien immer noch einen Sitz im Europäischen Rat hätte, und vielleicht würden auch weniger weiße Nationalisten sich darin bestärkt fühlen, mit ihren Autos in linke Protestkundgebungen zu rasen.

Daraus ergibt sich eine moralische und politische Verantwortung, die über die Neugestaltung von Benutzerregeln hinausgeht und einen Mittdreißiger mit Computernerdvergangenheit auch überfordern kann. Facebook ist nicht nur eine Plattform, Facebook ist aber auch kein Medium verlegerischer Herkunft. Facebook ist ein psychologisches und politisches Experiment mit offenem Ausgang. Wobei: Seit Kurzem kann Facebook auch in die Zukunft sehen. Am 23. Juni wurde die Beta-Version der neuen App „Forecast“ ausgeliefert, die mittels Schwarmintelligenz Vorhersagen über kommende Ereignisse erlauben soll. Eine typische Facebook-Erfindung: aus Meinung wird Wahrheit – solange nur genügend Meinung zusammenkommt. Also: Kommt eine zweite Corona-Welle? Wird Joe Biden neuer US-Präsident? Wird Facebook das Jahr 2020 überstehen? Und was sagt eigentlich Donald Trump dazu?

Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur, ist seit 2020 Textchef dieses Magazins und zählt zum Kernteam von faktiv.