ÜBERRASCHUNG IM KARTON - Birnen, Blätterteig, Zucker und Butter als Kuckuckskind in der Pizzaschachtel
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Tarte Tatin: Stürzt die Tarte, sie lebe hoch!

Das Leben ist wie eine Pizzaschachtel. Man weiß nie, was man bekommt.

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Der Birnbaum ist außer sich und schüttelt alles ab, was er hat. Und das ist nicht wenig; keine Ahnung, was heuer mit ihm los ist, jedenfalls sind bereits kleinere Äste geknickt unter der Last der Früchte. Sie sind von der Sorte Williams Christ, und als Ausgleich dafür, dass sie mit ihrem betörenden Geschmack zu meiner unangefochtenen Lieblingssorte geworden sind, benehmen sie sich extrem heikel. Pflückt man sie vom Baum, schmecken sie noch unreif; hantig, nennt man das bei Birnen. Fallen sie fahlgelb mit zart geröteten Wangen zu Boden, kann man ihnen beim Verderben zusehen und später bei der Obduktion in der Küche feststellen, dass sie ihren inneren Verletzungen beim Sturz erlegen sind.

Es gibt nur eine Möglichkeit, ihren Zauber zu bewahren: alles andere liegen und stehen lassen und sich um die Birnen kümmern. Neulich-es war gerade wieder ein gutes Dutzend vom Baum gefallen-geriet ich richtig in Stress. Ich war bei lieben Freunden eingeladen und hatte eigentlich keine Zeit zum Birnenverwandeln-etwa in Chutney oder Kompott. Ich rief die Gastgeber an und sagte: "Halt, stopp! Das Dessert bringe ich mit."Nämlich die berühmte gestürzte Tarte tatin, diesfalls aux poires. Ich musste dafür nur eine Packung Blätterteig besorgen; Rohrzucker und Butter waren im Haus.

Die Tarte tatin ist ein außergewöhnlich eigenartiges Rezept; ich reihe es unter die Handwerksrezepte, denn es ist extrem simpel und doch wieder nicht: Die einzige Kunst besteht darin, die Tarte nach dem Backen so zu stürzen, dass der entstandene Birnensirup nicht durch die Küche spritzt und die Birnenstücke auf dem Teig nicht verrutschen.

Ich fing an, und plötzlich durchzuckte mich ein Adrenalinschock, wie wenn man im Kino draufkommt, dass man das Bügeleisen daheim nicht ausgesteckt hat. Wie, um Himmels willen, wie, verdammt noch einmal und in drei Teufels Namen noch dazu, sollte ich dieses fragile Konstrukt aus knusprigem Blätterteig und glitschigem Obst samt seinen Säften unbeschadet transportieren? Ich musste mir eingestehen: Du musst jetzt stark sein, du brauchst einen Pizzakarton.

Hundert Meter die Straße hinauf gibt es einen Pizza-Service mit Paketshop, Handy-Werkstatt und Schlüsseldienst, die totale Verdichtung vorstädtischer Ökonomie, in der die wichtigsten menschlichen Bedürfnisse zwischen Essen, Handyspielen, Online-Einkäufe abholen und dabei den Schlüssel zu Hause vergessen abgedeckt werden. Ich betrat das geöffnete, aber leere Etablissement unter halblauten "Hallo, ist da jemand?"-Rufen und hörte endlich Schritte. Der gute Mann wischte sich so etwas wie Schlaf oder war es Ohnmacht, der Gerüche wegen?-aus den Augen und fragte tonlos: "Pizza?" Äh, heute nicht, ob er mir liebenswerterweise einen leeren Pizzakarton verkaufen würde. "Karton?" "Karton." Er nahm einen vom Stapel und reichte ihn mir. "Wie viel?" Er winkte ab und verschwand in seiner Pizzahöhle. Wenn ich bloß jetzt nicht jemanden treffe. Ich hielt den Pizzakarton senkrecht und schlenkerte mit dem tragenden Arm wie ein Soldat beim Exerzieren, damit aller Welt klar werden musste, dass sich in diesem Karton nie und nimmer eine Pizza vom Pizza-Service befinden konnte.

Daheim legte ich los. Die Birnen schnitt ich geschält und entkernt in Viertel und marinierte sie kurz in etwas Rohrzucker und Zitronensaft, was auch das Bräunen bremst. Die Tarte-Form mit 26 cm Durchmesser legte ich auf den ausgerollten Blätterteig und schnitt entlang der Kante mit dem Messer einen Teigkreis aus. Dann schüttete ich 80 g Rohrzucker in die Form, ließ ihn bei 220 Grad im Backrohr knapp 15 Minuten kastanienbraun karamellisieren, nahm die Form wieder aus dem Ofen und belegte sie, kreisförmig und mit der Außenseite der Früchte nach unten, mit den Birnen. Auf denen verteilte ich einige Flocken Butter und dann den runden Blätterteig. Diesen muss man übrigens noch mit dem Messer entlang der Tortenform nach unten drücken, damit später beim Stürzen ein hübscher Rand hochragt. Drei Gabelstiche in den Teig, damit kein Hitzestau die Hülle zerreißt, und ab in den Ofen, den ich auf 200 Grad zurückdrehte.

So eine Tarte braucht etwa 20 Minuten; jedenfalls sollte der Teig gut gebräunt sein. Dann kommt sie aus dem Ofen, kühlt etwas aus und wird gestürzt. Ich gehe da stets wie folgt vor: Während das gute Konditorstück etwas auskühlt, belege ich ein großes Brett mit Alufolie. Dann bewege ich die Tarte vorsichtig in der Form, um sicherzugehen, dass sie nirgendwo anklebt. Überschüssige Flüssigkeit schütte ich behutsam ab; wenn sie zähflüssig ausgekühlt ist, beträufle ich die Tarte wieder damit. Dann ergreife ich die Form mit einer Hand von unten, lege das Brett mit Folie dicht darauf und drehe sie blitzschnell um. Jetzt kann ich die Form vorsichtig abheben: Nichts ist verrutscht, appetitliche Karamellspuren zeichnen das Werk.

Ich verstaute die Tarte im Pizzakarton, setzte mich in ein Taxi-die Schachtel hielt ich auf den Knien wie Forrest Gump seine Bonbonniere-und fuhr los. Ob der Fahrer mich für einen Idioten hielt, der für seine Pizza auch noch eine Taxifahrt bezahlt anstatt sie sich gratis liefern zu lassen, war mir egal. Die Tarte war köstlich.