"Der Ghetto-Stecher"
Social Media

TikTok: Die Geschichte meiner Radikalisierung

In den USA wird ein bundesweites TikTok-Verbot verhandelt - wegen Spionagebedenken. Eine andere Gefahr erscheint wesentlich akuter: Die Videoplattform ist eine Radikalisierungsmaschine. Sebastian Hofer hat diese schon im vergangenen Sommer erkundet - ein (leider aktueller) Text aus dem Archiv.

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Die Geschichte meiner Radikalisierung beginnt an einem Montagvormittag im Frühsommer 2023, Kalenderwoche 26. Es fängt harmlos an. Ich lade die TikTok-App auf mein Smartphone, verifiziere meine E-Mail, gebe mein Geburtsdatum ein. Und schon die erste Lüge: 23. März 2009. Für TikTok bin ich noch einmal 14, erfülle damit knapp die Grundvoraussetzungen (offizielles Mindestalter: 13; nach einer Geburtsurkunde fragt aber niemand). Schnell noch die Datenschutz-Infos weggeklickt, schon startet das erste Video. Eine junge Frau namens

„Alexisshv“ begrüßt mich vom Beifahrersitz eines Autos, darüber steht: „Stehst du auf jüngere?“ Ich weiß nicht ganz, ob das mein 14-jähriges Ich anspricht, aber zum Nachdenken habe ich jetzt leider wirklich nicht den Geist, denn das nächste Video stammt von dem Account „Fesselnde Geschichten“: Eine ziemlich offensichtlich KI-generierte Version eines gewissen „Nando Parrado“ erzählt „meine schreckliche Geschichte“: Herr Parrado musste nach einem Flugzeugabsturz vor lauter Hunger seine Freunde essen. Ein erster Gänsehaut-Moment. Gleich darauf erzählt mir „BossVienna“, wie man anderen Verkehrsteilnehmern in Wien mitteilt, dass die Ampel umgesprungen ist: „NAJO GRÜNER WIRDS NIMMA!!“ Schließlich kommentiert „KÖNIGdesKLOPAPIERS“ (tatsächlich ein Basler Selfmade-Millionär namens Beat Mörker) ein Video der Musikerin und Influencerin „Militante Veganerin“: „Meine Liebe, weißt du eigentlich, was der Unterschied ist zwischen dir und mir? Du träumst, wie du nachts mit den Rindern auf der Weide rumspringst, und ich träume nachts von einem perfekten Rindsfilet.“ 231.000 Menschen haben Herrn Mörker für diese brillante Analyse schon ein Like-Herzchen gespendet.

Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur, ist seit 2020 Textchef dieses Magazins und zählt zum Kernteam von faktiv.