Toto Wolff: "Ich habe Rassismus hautnah erlebt"

Seit neun Jahren leitet Toto Wolff das Mercedes-Formel-1-Team und zählt schon zu den erfolgreichsten Teamchefs der Geschichte. Im profil-Interview räsoniert er über technische Revolutionen, unsportliche Entscheidungen und die seltsame Häufung von Österreichern in der Formel 1.

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Der Druck, unter dem Toto Wolff steht, lässt sich nur an gewissen Äußerlichkeiten festmachen, an seiner Umgebung ablesen - Wolff selbst strahlt eine unerschütterliche Ruhe aus. Dabei ist gerade Donnerstag, der 24. Februar, und am Circuit de Barcelona-Catalunya laufen die ersten Testfahrten zur neuen Formel-1-Saison. Das schon länger avisierte Video-Telefonat mit dem Chef des Mercedes-Formel-1-Teams wird an diesem Tag insgesamt vier Mal verschoben, zum Teil auch recht kurzfristig, Toto Wolff hat gerade einiges um die Ohren. Die Formel-1-Teams stehen, jedes für sich, in diesen Tagen vor einer gigantischen Aufgabe: Ein völlig neues Reglement, vor allem hinsichtlich der aerodynamischen Gestaltung der Rennautos, mischt die Karten neu, und das gilt auch für langjährige Seriensieger.

Als die Verbindung nach Barcelona endlich steht, lässt sich Wolff davon nichts anmerken, das Interview verläuft gleichermaßen entspannt wie fokussiert. Als nach wenigen Minuten ein Mercedes-Cheftechniker vorbeiläuft, registriert Wolff bloß: "Das ist schlecht, das heißt, unser Auto steht gerade." Der Mercedes-Chef bleibt selbst dann gelassen, als das Gespräch auf das letzte Rennen der vergangenen Saison in Abu Dhabi kommt, in dem - auch dank einer fragwürdigen Entscheidung der Rennleitung - der Red-Bull-Fahrer Max Verstappen den vermeintlich sicheren Weltmeister Lewis Hamilton noch auf den allerletzten Metern überholte und seinen ersten WM-Titel errang.

profil: Sie proben seit wenigen Stunden den Ernstfall für die kommende Formel-1-Saison. Darf man Sie sich denn gerade als zufriedenen Menschen vorstellen?
Wolff: Sagen wir so: Es ist hochinteressant. Wir erleben eine dermaßen große technische Revolution, dass vieles, was wir in den vergangenen Jahren über die Autos gelernt haben, vielleicht gar nicht mehr relevant ist.
profil: Ist die Veränderung denn auch für Profis so dramatisch?
Wolff: Ja. Das betrifft vor allen den ground effect. Die Fahrzeuge erzielen die Ansaugwirkung dabei mit dem gesamten Unterboden. Das bringt ganz neue Herausforderungen mit sich. Zum Beispiel sind bei den meisten Teams in den ersten Tests die Unterböden gebrochen, weil dort so viel Kraft einwirkt. Aber mir taugt das. Mal was Neues.
profil: Wer wird in den ersten Rennen vorn sein?
Wolff: Es werden die üblichen Verdächtigen sein. Am stärksten schaut im Moment Ferrari aus, aber das war zu erwarten. Die haben mehr Windkanal-Zeiten zugeteilt bekommen, weil sie in der Konstrukteurs-WM 2020 nur Sechster waren. Ich denke, am Ende wird es wieder Red Bull sein, und ich hoffe, wir sind auch dabei. Aber gerade die Ungewissheit macht es lustig.
profil: Das Motiv für die Regeländerung war, dass mehr Racing, also mehr Spannung im Rennen erzeugt werden soll.
Wolff: Das war der Anspruch, und die ersten Eindrücke von den Testfahrten sind eher positiv. Aber abwarten, wie es im Rennen
tatsächlich aussieht.
 
profil: Gerade die vergangene Saison war auch mit dem alten Reglement nicht ganz unspannend.
Wolff: Ich habe mit Journalisten gesprochen, die in dem Sport seit 30 Jahren kein Rennen verpasst haben. Die sagen mir, so spannend wie im letzten Jahr war es überhaupt noch nie. Die Kontroversen, das Fighten auf der Strecke und daneben, das hat schon viel Content geliefert. Schauen wir mal, was Netflix daraus macht (in der aktuellen Staffel der Doku-Serie "Formula 1-Drive to Survive", Anm.).
profil: Hat Ihnen Ihre Rolle in diesem Drama denn gefallen, insbesondere im letzten Akt?
Wolff: Na ja, Abu Dhabi war schon ein ziemlicher Schlag ins Gesicht. Was mir in dem Sport immer gefallen hat, ist die Ehrlichkeit der Stoppuhr. Du bist entweder gut genug oder nicht, es gibt kein Herumverhandeln oder Schönreden. Diese Ehrlichkeit und Transparenz ist uns in diesem letzten Rennen verloren gegangen. Innerhalb von ein paar Runden wurde die DNA dieses Sports über den Haufen geworfen. Es wurden einfach unverständliche Entscheidungen getroffen. Ich habe dafür bis heute keine Erklärung.
profil: Der Mann, der diese Entscheidung getroffen hat, der Formel-1-Renndirektor Michael Masi, macht heute einen anderen Job. Dafür bekommt die Formel-1 einen Videoschiedsrichter. Im Fußball ist der immer noch ziemlich umstritten.
Wolff: Es gab in der Formel-1 im Prinzip schon immer einen virtuellen Referee. Jeder Renndirektor kann die Kameraaufnahmen vor- und
zurückspielen, bevor er eine Entscheidung trifft. Aber es soll neben der Renndirektion vor Ort, in der zehn Leute sitzen, eben einen weiteren Race Director's Room geben, in dem noch einmal mehr Experten sitzen, die noch einmal Feedback geben.
profil: Und in den Sie als Teamchef keinen Funkkontakt mehr haben?
Wolff: Nein. Den Funkkontakt zur Rennleitung hatten wir übrigens immer schon, er war nur nie so kontrovers, weil er nie im Fernsehen übertragen wurde. Vor zwei Jahren hatten wir dann alle gemeinsam die großartige Idee: Lass uns das auch senden! Dann sind diese Auswüchse passiert, an denen wir alle schuld sind.
profil: Ich fand es eigentlich immer sehr interessant.
Wolff: Ich hätte es auch so gelassen, aber das, was im letzten Rennen passiert ist, war reines Lobbying. Vor allem in den letzten Runden
war das einfach nicht mehr korrekt. Der Renndirektor hat sich beeinflussen lassen.
 
profil: Der Alpha-Tauri-Fahrer Pierre Gasly hat vor Kurzem gemeint, die Autos entscheiden in der Formel 1 alles, und auch Lewis Hamilton wäre in einem Williams wahrscheinlich Letzter. Sehen Sie das auch so?
Wolff: Wir sind ein technischer Sport. Auch der beste Rennfahrer kann im schlechtesten Auto nicht viel Unterschied machen. Aber es gibt schon einen Grund, warum manche Fahrer Weltmeister sind und andere nicht. Wenn man einen schlechten Fahrer und einen guten Fahrer in den Mercedes setzt, dann fährt der eine um die Meisterschaft und der andere nicht. In der Formel-1 gibt es im Moment zwei, die herausragen. Das sind Verstappen und Hamilton. Dann gibt es eine Gruppe von sieben, acht Fahrern, die auf hohem Niveau fahren. Von denen hat aber noch keiner gezeigt, dass er in die absolute Oberliga hineingehört. An guten Tagen sind die vielleicht dabei, an durchschnittlichen Tagen nicht.
profil: Was macht den Unterschied zwischen guten Fahrern und WM-Kandidaten aus - Feeling, Risikobereitschaft, Intelligenz?
Wolff: Wir würden den Fahrern Unrecht tun, wenn wir versuchen, das auf ein paar Worte herunterzubrechen. Es ist wohl eine Kombination aus Veranlagung und der Fähigkeit, sich weiterzuentwickeln. Du brauchst die genetischen Voraussetzungen, insbesondere im kognitiven Bereich, und das richtige Umfeld. Bei Lewis hat es nicht erst mit acht Jahren im Go-Kart begonnen, sondern schon zwei Jahre vorher, als er bei den remote control cars englischer Meister wurde. Es gibt Videos, wie dieser kleine Zwerg neben lauter Erwachsenen steht und mit seinem ferngesteuerten Auto alle abhängt. Sind Sie schon einmal mit so was gefahren?
profil: Lange her.
Wolff: Die Steuerung ist eigentlich einfach: Gas geben, bremsen, lenken. Aber irgendwann kommt das Auto auch wieder auf dich zu, und plötzlich lenkst du seitenverkehrt. Die Fähigkeit, das als Sechsjähriger so zu beherrschen, ist eine dieser kognitiven Fähigkeiten, die du einfach haben musst. Und diese Basis muss dann gefördert werden. Es gab in der Formel 1 einmal einen Arzt, Aki Hintsa, der in seinem Büro in Genf einen Test gemacht hat: Er hat die jungen Fahrer ans Fenster gestellt, ohne ihnen zu sagen, worum es geht. Vor dem Fenster, das im fünften Stock liegt, befindet sich eine Kreuzung. Fünf Minuten später hat er sie gefragt: Wie viele Autos sind von links nach rechts gefahren? Wie oft war die Ampel rot? Wie viele Fußgänger sind vorbeigegangen? Kam ein Radfahrer vorbei? Es gab nur drei Piloten, die alle Fragen beantworten konnten: Räikkönen, Häkkinen und Hamilton. Wenn dein Gehirn das kann, dann kann das den Unterschied ausmachen. In einem Rennauto musst du schnell fahren, mit anderen Autos auf der Strecke kämpfen und gleichzeitig ein Lenkrad bedienen, mit dem du vom Differenzial über die Bremsen bis zur Kupplung alles einzeln verstellen kannst. Die Fahrer sind eigentlich Kampfjetpiloten geworden.
profil: Und wie groß ist die Rolle der ground control? Wer hat die letzte Entscheidung über die Rennstrategie?
Wolff: Wir haben einen Chief Strategist, der gemeinsam mit weiteren Strategen im Hintergrund und einer Software, die jede Sekunde 10.000 Rennen durchrechnen kann, diese Entscheidungen trifft. Die Krux an der Sache ist, dass natürlich Menschen in den Autos sitzen und dass sich das Wetter rasch verändern kann. Drei Grad Veränderung in der Asphalttemperatur können das Fahrverhalten des Autos wesentlich ändern. Der Chief Strategist trifft eigenständig die Entscheidung. Nur wenn die Alternative nicht ganz klar ist, kommt er am Funk zu mir und erläutert mir die Möglichkeiten. Und wenn ich ganz sicher bin, dass wir das Falsche machen, lege ich ein Veto ein. Allerdings ist das in den letzten Jahren vielleicht eine Handvoll Mal vorgekommen.
profil: Und der Fahrer redet gar nicht mit? Und sagt: Eine Runde geht noch?
Wolff: Der Fahrer ist unser wichtigster Sensor. Wenn der Fahrer im Auto der Meinung ist, es geht noch eine Runde, und wir der Meinung sind, dass das keinen großen Unterschied macht, dann lassen wir ihn diese Runde fahren. Wenn wir der Meinung sind, dass er eine Position verliert, wenn er nicht gleich an die Box kommt, dann sagen wir ihm das. Zu 99 Prozent wird der Fahrer dieser Empfehlung folgen, weil er weiß, dass der Computer besser rechnet als er und auch die Gesamtsituation des Rennens sieht.
 
profil: Lassen Sie uns über die Österreicher in der Formel 1 sprechen: Mit ein bisschen patriotischer Übertreibung könnte man von den österreichischen Meisterschaften im Autofahren sprechen: Der aktuelle Weltmeister fährt für ein österreichisches Team, der Chef des achtfachen Weltmeister-Rennstalls ist Österreicher, ein paar der größten Formel-1-Ikonen sind Österreicher. Wie erklären Sie diese Häufung?
Wolff: Ich kann es nicht erklären, habe aber ein paar Vermutungen: Wir hatten mit Jochen Rindt schon sehr früh einen ikonischen, charismatischen Rennfahrer, der als Vorbild eine wichtige Rolle spielte. Darum hat auch der ORF früh sehr intensiv über die Formel 1 berichtet. Dann kam Niki Lauda, später Gerhard Berger. So hatten wir immer einen Fahrer, der ganz vorn mitgefahren ist, sogar Weltmeister geworden ist. Tatsächlich hat der ORF eine entscheidende Rolle gespielt, erst mit Heinz Prüller, jetzt mit den beiden Kasperln (Alexander Wurz und Ernst Hausleitner, berühmt und berüchtigt für ihre humoristischen Doppelconférencen, Anm.). Wir haben in Österreich manchmal immer noch Reichweiten bis zu einer Million Zuschauer. Damit sind wir im Verhältnis zur Einwohnerzahl für die Formel 1 sicher der stärkste TV-Markt der Welt. Und Alex und Ernst sind wirklich die besten Kommentatoren, weil sie den Spagat schaffen zwischen sportlicher Kompetenz und Blödelei. Aber zurück zur Frage: Ich glaube, dass sich nach Jochen Rindt und Niki Lauda in der Formel 1 einfach ein österreichischer Mikrokosmos entwickelt hat. Christoph Ammann macht die Security, Attila Doğudan das Catering, Mateschitz besitzt zwei Teams, ich bin Mitbesitzer und Teamchef des Mercedes-Teams, und dann gibt es sicher noch viele, die ich vergesse. Vielleicht ist es auch das Speed-Thema: dass wir ein Land der Skifahrer sind und die Geschwindigkeit in unserer DNA steckt. Außerdem sind wir ein Land der Skilehrer. Wir können gut entertainen.
profil: Ist es so gesehen ein Problem, dass momentan kein österreichischer Formel-1-Fahrer in Sicht ist?
Wolff: Wenn ich mir heute eine Kart-WM anschaue, dann nehmen daran 150 Jungen und Mädchen teil, leider immer noch zu wenige Mädchen - und es sind keine Österreicher dabei. Die Dichte an Talenten ist international einfach sehr hoch.
 
profil: Wie politisch ist die Besetzung der Teams? Müssen Fahrer aus China oder Nordamerika dabei sein, um die entsprechenden Märkte
anzusprechen?
Wolff: In der Formel 1 treffen die Teams die Entscheidung, wer in den Autos sitzt. Das ist immer performancegetrieben und nur manchmal finanziell. Dass Guanyu Zhou im Alfa Romeo sitzt, hat nichts damit zu tun, dass man sich in China mehr Umsatz erhofft. Der ist einfach ein guter Fahrer und bringt einen starken finanziellen Background ein. Ich würde mir auch wünschen, dass wir einen Top-Brasilianer haben,
einen Top-Amerikaner, Italiener, Deutsche und Österreicher. Aber weil alles der Performance untergeordnet ist, kann man sich das nicht so
aussuchen.
profil: Das Mercedes-Formel-1-Team zeigt regelmäßig gesellschaftspolitisch Flagge, setzt sich öffentlich für Diversität ein oder für Antirassismus. Ist das Publikum der Formel 1 inzwischen auch so fortschrittlich wie das Mercedes-Team?
Wolff: Wir setzen hier Impulse, weil wir mit Lewis Hamilton nicht nur den erfolgreichsten Fahrer haben, sondern auch jemanden, der weit über die Grenzen des Sports hinaus bekannt ist und als Persönlichkeit für den Kampf gegen Rassismus steht - auch weil er ihm persönlich als Kind widerfahren ist. Ich bin in Wien als katholisches Kind mit einer jüdischen Familie aufgewachsen und habe hautnah Rassismus miterlebt und gesehen, wie schlimm das ist. In der Formel 1 ist aber trotzdem alles der Performance untergeordnet. Man wird niemanden anstellen, nur um gewisse Quoten zu erreichen. Aber wir sind der Meinung, dass wir mit mehr Diversity, und da geht es nicht nur um Gender, sondern auch um den kulturellen oder sozialen oder politischen Hintergrund, auch die Performance steigern können. Eine Vielfalt der Ansichten führt zu besseren Antworten. Allerdings wollen wir natürlich auch gesellschaftlich etwas Gutes tun. Wir machen das auch, um eine Benchmark in der Formel 1 zu setzen, der alle anderen folgen müssen.
profil: Gibt es denn noch die beharrenden Kräfte in der Formel 1, deren Image lange von Benzinbrüderlichkeit und Boxenludern geprägt war?
Wolff: Es gibt die Steinzeitfraktion noch, aber sie stirbt langsam aus. Du bist heute in einem Sponsorenmarkt nicht mehr konkurrenzfähig, wenn du keine klare Strategie zu den Themen Nachhaltigkeit und Innovation hast. Sponsoren erkennen Bullshit sehr rasch.

Zur Person:

Toto Wolff, 50, heißt mit vollem Vornamen Torger Christian und kam als Sohn einer polnischen Ärztin und eines rumänischen Unternehmers in Wien zur Welt. Als 20-Jähriger begann er - auf eigenes finanzielles Risiko - eine Rennkarriere in der Formel Ford, beendete das Experiment aber nach drei Jahren mangels konkreter Erfolgsaussichten, brach auch sein WU-Studium ab und wurde Unternehmer. Mit seinen Venture-Capital und Beteiligungs-Gesellschaften machte Wolff ab den späten 1990er Jahren ein Vermögen. Ende 2009 stieg er - zunächst als Anteilseigner bei Williams - in die Formel-1 ein und wurde Anfang 2013 Motorsportchef und Mitgesellschafter bei Mercedes (inzwischen hält er ein Drittel der Anteile). Unter seiner Ägide wurde Mercedes zum dominanten Formel-1-Team mit sieben WM-Titeln zwischen 2014 und 2020. Wolff ist mit der ehemaligen Rennfahrerin und Formel-E-Teamchefin Susie Wolff verheiratet und lebt in der Schweiz.
Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur, ist seit 2020 Textchef dieses Magazins und zählt zum Kernteam von faktiv.