Katja und Thomas Mann auf dem Schiff nach New York, 1937. Mann rief eine Rettungsaktion ins Leben, um Künstlerkollegen aus Europa herauszuholen.

Übers Meer: Die Flucht der Dichter und Denker vor den Nazis

Ein neues Buch erzählt, wie europäische Dichter und Denker ihrer Ermordung durch die Nazis entkamen, welche Hürden und Routen sie dabei nahmen - und wie im Oktober 1940 eine höchst prominente Gruppe von Schiffsflüchtlingen gemeinsam in See stach.

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Thomas Mann, Heinrich Mann, Franz Werfel, Alma Mahler-Werfel, Joseph Roth, Walter Benjamin, Hannah Arendt, Alfred Döblin, Robert Stolz, Lion Feuchtwanger, Stefan Zweig, Friderike Zweig, Lotte Zweig, Anna Seghers, Sophie Freud, Friedrich Torberg, André Breton, Alfred Polgar, Salvador Dalí, Bertolt Brecht, Karl Farkas, Rudolf Hilferding und viele andere mehr. Ein Who’s Who der europäischen Welt am Vorabend des Zweiten Weltkrieges. Die, die überlebten, haben es übers Meer geschafft. Irgendwohin. Jüdische Flüchtlinge waren in keinem Staat willkommen.

Herbert Lackner, Ex-Chefredakteur des profil, beschreibt in seinem Buch "Die Flucht der Dichter und Denker“ eine moderne Odyssee: Fluchtrouten, die sich verengen, Hafenstädte, die vor wartenden Menschen überquellen, Schicksale, die sich ineinander verwickeln, immer vor dem Hintergrund des Kriegsverlaufs und neuer Schikanen. Es ist eine Zusammenschau des europäischen Geisteslebens in den Jahren der Nazi-Herrschaft. Lackner erzählt die individuellen Geschichten entlang einer Flucht, die immer schwieriger wird. Man verliert dabei nie den Faden.

Die Idee zum Buch entstand, als der Wiener Galerist John Sailer einmal erzählte, dass er im Oktober 1940 als Knirps von drei Jahren an der Hand seiner Eltern einen Ozeandampfer in Lissabon bestiegen und in New York an Land gegangen war, die "Nea Hellas“. Nach Erzählungen seines Vaters, der als Sozialdemokrat auf der Fahndungsliste der Nazis stand, sollen viele Berühmtheiten an Bord gewesen sein: Friderike Zweig, die erste Frau des berühmten Schriftstellers, selbst Autorin, sowie deren Töchter und Schwiegersöhne, Golo Mann und sein Onkel Heinrich Mann sowie dessen Frau Nelly, Alma Mahler-Werfel und Franz Werfel, Alfred und Lisa Polgar, Marta Feuchtwanger, die Familie Döblin, Konrad Heiden, der von Hitler meistgehasste Journalist, der den Aufstieg der Nazis verfolgt und die erste Biografie über Hitler veröffentlicht hatte, der 77-jährige Wilhelm Ellenbogen, der noch den Gründungsparteitag der Sozialdemokratie in Hainfeld miterlebt hatte, und der Journalist Otto Leichter mit seinen halbwüchsigen Söhnen, denen die Mutter schmerzlich fehlte. Käthe Leichter war zurückgeblieben. Sie war in Wien von der Gestapo abgeholt worden. Nach dem Krieg erfuhr die Familie, dass Käthe Leichter im Konzentrationslager Ravensbrück zu Tode geschunden worden war.

Viele hatten Europa schon 1933, nach Hitlers Machtübernahme in Berlin, verlassen. Die Regisseure Billy Wilder, Fritz Lang, Ernst Lubitsch, die Schauspielerinnen Marlene Dietrich, Lotte Lenya, die Komponisten Erich Korngold, Kurt Weill, Arnold Schönberg, die Wissenschafter Albert Einstein, Max Horkheimer, Theodor Adorno lebten bereits in den USA, als andere jüdische Emigranten sich in Frankreich noch in Sicherheit wähnten.

Flüchtlingsschiff  "Nea Hellas“ Im Oktober 1940 mit Heinrich Mann und Franz Werfel an Bord

Wer überlebte, überlebte gegen den Plan. Heute ist das Kollektiv der Flüchtenden ein anderes. Und doch spielen sich dieselben Dinge ab: Das Geld wird knapp, der soziale Status geht verloren, die Muttersprache gilt nichts mehr, in der Not kämpft jeder für sich allein, und die angestammte Bevölkerung reagiert frostig.

"Die durch die Weltwirtschaftskrise immer dramatischere Situation auf dem Arbeitsmarkt, eine gegen die Flüchtlinge hetzende Boulevardpresse und von Populisten geschürte Ängste, die den Unterschied zwischen den Nazis und den vor ihnen geflohenen Juden vermischten, hatten wesentlich dazu beigetragen“, analysiert Lackner die Stimmung im damaligen Frankreich.

So mancher Flüchtling zerbrach am Untergang des alten Europa

Manche soffen sich zu Tode wie der Schriftsteller Joseph Roth, andere nahmen Gift - wie Stefan und Lotte Zweig in Brasilien, als sie längst in Sicherheit waren. An seinen Freund Roth hatte Zweig 1938 geschrieben: "Werden Sie nicht bitter, Roth, wir brauchen Sie. Erhalten Sie sich! Und bleiben wir beisammen, wir wenige!“ Im Februar 1942, als die Nationalsozialisten den ganzen Kontinent überrollt hatten, sah Zweig keinen Sinn mehr.

Hannah Arendt veröffentlichte ein Jahr darauf den Essay "Wir Flüchtlinge“. Darin schrieb sie: "Wir haben unser Zuhause verloren, das heißt die Vertrautheit des Alltags. Wir haben unseren Beruf verloren, das heißt die Zuversicht, in dieser Welt zu etwas gut zu sein. Wir haben unsere Sprache verloren, das heißt die Natürlichkeit der Reaktionen, Einfachheit in den Gesten, den ungekünstelten Gefühlsausdruck. Wir haben unsere Verwandten in den polnischen Gettos zurückgelassen und unsere besten Freunde wurden in Konzentrationslagern ermordet, und das heißt unser Privatleben ist zerrüttet.“

Als die deutsche Wehrmacht am 14. Juni 1940 in ein menschenleeres Paris einmarschierte, waren Flüchtlingstrecks in den Süden unterwegs. Doch auch dort gab es keine Sicherheit. Laut Waffenstillstandsvertrag hatten sich die französischen Behörden verpflichtet, jeden Migranten mit deutschem Pass, das heißt Juden, Regimegegner aus Deutschland oder Österreich, auf Verlangen an die Gestapo auszuliefern.

Trotzdem gab man sich Illusionen hin, pochte auf sein Asylrecht wie der Wiener Ökonom Rudolf Hilferding, ehemaliger Finanzminister in der Weimarer Republik, der keine Sekunde daran glaubte, dass er von den Franzosen an die Gestapo ausgeliefert werden könnte. Er starb in Folterhaft.

Auch an der Côte d’Azur, in Nizza und in Sanary-sur-Mer, das als Hauptstadt der Literatur im Exil galt, wo Maler einst wegen des mediterranen Lichts und des besonderen Zaubers der Landschaft hingezogen waren, wurde es nun ungemütlich.

Das Ehepaar Mann hatte sich schon 1933 in Sanary-sur-Mer einquartiert, war aber nicht lang geblieben. Die Feuchtwangers hatten bis 1939/40 eine weiße Villa auf den Klippen über dem Meer gemietet. Alma Mahler-Werfel und Franz Werfel lebten in derselben Straße in einem Haus mit einem alten Sarazenenturm, in dessen Rundzimmer zwölf Fenster in alle Himmelsrichtungen wiesen. Man hielt Salons ab. Heinrich Mann und sein Neffe Golo oder Joseph Roth, die in Nizza wohnten, kamen oft auf Besuch. Bertolt Brecht sang in den Hafenkneipen freche Lieder gegen die Nazis.

Heute noch erzählt man sich in Sanary-sur-Mer die alten Geschichten, wie der berühmte Thomas Mann in Badehose am Strand auftauchte, während sich sein Bruder Heinrich immer steif, in Anzug und Krawatte zeigte, und welche Eifersuchtsdramen sich in der Künstlerkolonie abgespielt hatten.

Geld hatten nur wenige Schriftsteller, die von ihren Auslandstantiemen leben konnten: Mann, Feuchtwanger, Werfel und Zweig. Die anderen mühten sich ab, schnorrten. Wo immer Karl Farkas hinkam, hielt er sich mit Kabarett über Wasser. Polgar überlebte mit Schecks, die ihm Marlene Dietrich aus den USA schickte. Brechts Schiffspassage nach Übersee wurde von Feuchtwanger bezahlt.

Österreicher und Deutsche wurden in Internierungslager gebracht

Ab Herbst 1939 wurden Österreicher und Deutsche als "feindliche Ausländer“ in Internierungslager gebracht. Die Wienerin Lisa Fittko, die später Flüchtlingen die Schleichwege über die Pyrenäen wies, schrieb an Freunde in Wien: "Ihr macht euch keine Vorstellungen von der Fremdenpsychose. Wir deutschen Emigranten sind jetzt der Feind.“

Auch der prominente Lion Feuchtwanger kam in das berüchtigte Camp des Milles in der Nähe von Aix-en-Provence. Als ein Foto von Feuchtwanger hinter Stacheldraht in einer amerikanischen Zeitung auftauchte, schaltete sich die Gattin des US-Präsidenten, Eleanor Roosevelt, ein. Feuchtwanger wurde mithilfe des US-Konsulats in einer Rififi-artigen Aktion in Damenkleidern aus dem Lager herausgeschmuggelt.

Anfang 1940 initiierte Thomas Mann, der seit 1938 in Princeton lebte, mit seiner Tochter Erika in New York eine spektakuläre Rettungsaktion. Seine Kinder Golo und Monika und Bruder Heinrich waren noch in Europa. Er sorgt sich auch um Werfel, Feuchtwanger, Max Ernst, Marc Chagall, Hannah Arendt und andere. Es wurde ein Komitee gegründet, Geld gesammelt und Varian Fry, ein junger Journalist und Harvard-Absolvent, mit 3500 Dollar in der Tasche - einer Summe, die heute 70.000 Euro entspräche - nach Marseille geschickt, um Schriftsteller, Maler, Journalisten und Regimegegner, die auf Fahndungslisten der Nazis standen, herauszuholen. Fry und seine Helfer haben am Ende 2000 Menschen das Leben gerettet. Groß gedankt wurde es ihnen nach dem Krieg nicht.

1940 war Marseille von verzweifelten Emigranten belagert. Schiffe fuhren kaum noch. Um über den Landweg zum nächstgrößeren Hafen nach Lissabon zu kommen, benötigte man: ein Visum in die USA oder ein anderes Überseeland, meist auch ein Affidavit, eine Garantieerklärung, dass dort notfalls jemand für einen sorgte; eine Ausreisebewilligung aus Frankreich - das "Visa de Sortie“; ein spanisches Durchreisevisum, das jedoch nur bei Vorlage des "Via de Sortie“ ausgestellt wurde; ein portugiesisches Einreisevisum, denn anders ließen einen die spanischen Grenzer nicht durch; auch eine bereits bezahlte Schiffspassage war vorzulegen. Ein unmögliches Unterfangen, vor allem für jene Prominenten, deren Ausreiseanträge von den französischen Behörden sofort an deutsche Stellen gemeldet worden wären. Fry fand Bil Spira, einen früheren "AZ“-Karikaturisten, der Papiere und Pässe fälschte. Spira kam selbst nicht mehr weg, aber überlebte die Lager.

Zu Fuß über die Pyrenäen - das war zu dem Zeitpunkt der einzige Fluchtweg nach Spanien. Die Werfels und Manns machten sich mit ortskundiger Hilfe gemeinsam auf den Weg. Alma Mahler-Werfel mit den Originalpartituren ihres Mannes und der Dritten von Anton Bruckner in der Tasche. In Sandalen und weißem Kleid, Werfel schwer atmend und keine körperliche Anstrengung gewöhnt, Heinrich Mann, 70 Jahre alt und auch nicht gut beieinander. Die Feuchtwangers folgten ihnen ein paar Tage später.

Bald mussten neue Wege gefunden werden. Patrouillen hatten etwas gemerkt. Weiter, höher hinauf. Walter Benjamin, der Philosoph und Stadtmensch, wurde von Lisa Fittko gelotst. Den ganzen Aufstieg über hielt er eine Aktentasche mit wichtigen Manuskripten an sich gepresst. Als er es geschafft hatte, eröffneten ihm die spanischen Grenzer, es gälten neue Bestimmungen. In dieser Nacht nahm der Philosoph eine Überdosis Morphium, die er bei sich trug. Das Manuskript wurde nie gefunden.

Als die "Nea Hellas“ am Vormittag des 13. Oktober 1940 am Ufer des Hudson River einlief, standen Journalisten aller großen Zeitungen am Pier. André Breton, Anna Seghers, Marc Chagall, Victor Serge, Claude Lévi-Strauss, Hannah Arendt und ihr Mann Heinrich Blücher kamen später, mit anderen Schiffen. Karl Farkas gelang die Flucht übers Meer im Jänner 1941.

Im August 1945 erfährt Farkas, dass seine Frau in einem böhmischen Dorf überlebt hat. Er schreibt seiner Anni einen Brief. "Glaubst du, dass ich in Wien arbeiten könnte? Wie ist die Einstellung gegenüber Juden und Flüchtlingen?“, will er wissen. Sie antwortet: "Ich glaube nicht mehr an das goldene Wiener Herz. Sie waren so böse, und ich habe Angst, dass sich ihre Meinung nicht geändert hat.“ Farkas setzte sich ins nächste Schiff. Viele blieben.

Christa   Zöchling

Christa Zöchling