Wie häufig der Drang zum fetischinszenierten Masochismus tatsächlich durch die „Fifty Shades“-Welle getriggert worden war oder ob damit nur einem erotischen Mode-Hype gefolgt wurde, war schwer zu differenzieren. In vielen der von Anderson gesammelten Einsendungen wird von dominanten, brutalen, „hart fickenden“ Unbekannten geschwärmt, von Gefangenschaften, die gesichtslose Männer mit brutalen Akten des Begehrens unterbrechen; sexuelle Dominanz-Visionen kommen in den Protokollen weitaus weniger häufig vor. Eine „spirituelle Bisexuelle“ (so ihre Eigendefinition) beschreibt eine der wenigen: „Sobald ich den Raum betrete, sollen die Männer vor Angst und Ehrfurcht erzittern … und eine halbe Stunde später reite ich einen von ihnen, und er schwitzt und weint vor Dankbarkeit.“
Tatsächlich ortet Anderson in ihren Beiträgen, die ihre Kapitel mit Titeln wie „Macht und Unterwerfung“, „Die Gefangene“, „Fremde“ oder „Angebetet werden“ einordnen, viele Kopfpornos, in denen „eine radikale Form des Begehrtwerdens“ (so die Wiener Psychoanalytikerin Rotraud Perner) ihren Niederschlag findet.
„Seit zehn Jahren bin ich überzeugte Feministin“, erklärt beispielsweise eine heterosexuelle verheiratete Amerikanerin (mit einem Jahreseinkommen von 120.000 Euro – Einkommen, Herkunftsland, religiöse Zugehörigkeit, Beziehungsstatus und Kinderanzahl der anonymen Einsenderinnen stehen vor jeder Geschichte, Altersangaben wurden eliminiert), „doch beim Wichsen träume ich davon, brutal rangenommen und mit Schimpfwörtern bedacht zu werden, bei denen Suffragetten in Ohnmacht fallen würden.“
„Hart, Straßenköter-Style, anal“, ist knapp und lapidar von einer Britin mit 20.000 Euro Jahreseinkommen zu erfahren. Eine der Erkenntnisse aus der geballten Lektüre ist, dass die Höhe des Einkommens die Raffinesse und Elaboriertheit der Vorstellungswelt beeinflusst, dass aber auch Frauen in finanziell höhergestellten Verhältnissen durchaus „herrisch“ behandelt werden wollen. Es ist übrigens auch ein Faktum, dass Manager im Spitzensegment häufiger einen Besuch in einer von einer Domina streng geführten Kammer anstreben, als dass sie in den dunklen Zellen einer erotischen Nischenkultur selbst die Peitsche schwingen wollen.
Ansonsten birgt dieser Schlüssel zur Kammer verborgener weiblicher Sehnsüchte wenig überraschende Einblicke: Da wird vom Sex mit dem Maurer, der während des Lockdowns öfter im Haus werkte, fantasiert; von einer wilden Affäre mit dem Bruder des Ehemanns, der Lehrerin oder einer Freundin (besonders in Ländern, die in Bezug auf ihre LGBTQ-Offenheit noch restriktiver sind), aber auch von Quickies mit Hollywood-Beaus oder Literaturfiguren wie den rothaarigen Weasley-Zwillingen aus den „Harry Potter“-Romanen. Sehr viel erhellender als der nach einem ähnlichen Prinzip erstellte Klassiker der US-Populärpsychologin Nancy Friday, „My Secret Garden“ aus dem Jahr 1973, ist „Want“ nicht.
Da das weibliche Sexualorgan sich vom männlichen unterscheidet wie „eine sensible Handwaffe im Vergleich zu einer Schrotflinte“ (so die US-Wissenschaftspublizistin Natalie Angier), ist es naturgemäß weitaus schwieriger, zum Höhepunkt zu gelangen. Und das ist schon seit Jahrtausenden so. So lange gibt es gedankliche Beschleuniger in Form von erotischen Fantasien.
Die ägyptische Königin Kleopatra, die den ersten (historisch erfassten) Vibrator bastelte, indem sie in einen ausgehöhlten Kürbis einen Bienenschwarm einschloss und sich ihn zwischen die Beine klemmte, hat dabei wohl nicht nur auf die trägen Nil-Wellen geblickt, sondern auch mit geschlossenen Augen an Marcus Antonius und seine feldherrischen Fertigkeiten gedacht.