Reif für die Insel

Wiener Praterstern: Der prekäre Schmelztiegel

Reportage. Der prekäre Schmelztiegel Wiener Praterstern

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Von Ernst Tiefenthaler, Fotos: Laurenz Vavrovsky

Mehrere Kübel Wasser heranschaffen. So beginnt von Montag bis Sonntag der Arbeitstag einer Blumenhändlerin am Praterstern. Mit einigem Bedauern und in breitem Wienerisch erklärt der 55-jährige Florist Branko Pasic*, dass seiner Gattin diese Arbeit zukomme, aber so hat sich das Ehepaar die Schicht eben aufgeteilt: sie am Morgen und Vormittag, er am Nachmittag und Abend. "Meine Frau muss die Bierdosen und den ganzen Müll wegräumen, der sich in der Nacht rund um das Blumengeschäft angesammelt hat.“ Mithilfe des Wassers versucht sie, den allgegenwärtigen Uringestank irgendwie zu vertreiben. Ein täglicher, immerwährender Kampf zwischen der floralen, bunten Lebendigkeit im Laden und dem Schmutz und Elend rundherum: Obdachlose und, in der Diktion der Boulevardblätter und diverser Bezirkspolitiker "gewaltbereite, in Drogengeschäfte verwickelte Outlaws“. FPÖ-Bezirksparteiobmann Wolfgang Seidl zum Beispiel sieht am Praterstern nichts als "sturzbetrunkene, ausländisch sprechende Personen“. Und: "Vor einiger Zeit hat ein Täter dort sogar Passanten mit einer Kettensäge bedroht.“

Alkohol, Obdachlosigkeit, Drogen
Der Vorfall, den Seidl in einer Presseaussendung vom 8. November 2013 erwähnte, fand übrigens am 7. März 2010 statt. Aber auch hier, wie in allen anderen Fällen von Gewalt am Praterstern, sei es "eine Auseinandersetzung innerhalb der Gruppe“ gewesen, sagt Hannes Schindler, Bereichsleiter in der Suchthilfe Wien und am Praterstern zuständig für das mobile Sozialarbeitsprojekt SAM. Mit "Gruppe“ meint Schindler jene Menschen, die mehr oder weniger regelmäßig den Praterstern aufsuchen, häufig mit Problemen im Zusammenhang mit Alkohol, Obdachlosigkeit, Drogen, psychischen Erkrankungen.

Bahnhöfe sind, ähnlich wie Parks, der Inbegriff eines öffentlichen Orts - eines Orts, an dem man sich einfach aufhalten kann, in der urbanen Anonymität des Kommens, Gehens und Wartens. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass dieser Ort auch Menschen anzieht, die sonst keinen Platz zum Bleiben haben. Im Fall des Wiener Pratersterns kulminieren damit oft Probleme, die weit über den konkreten Ort hinausreichen. Sie beginnen in Belgrad oder Budapest und hören in Brüssel noch lange nicht auf.

Lage des Wiener Pratersterns

Ungefähr 200.000 Menschen passieren täglich das Bahnhofsareal im zweiten Wiener Gemeindebezirk. Mit seinen U- und S-Bahn-, Bus- und Straßenbahnverbindungen ist der Praterstern einer der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte der Bundeshauptstadt. Die meisten Menschen, die hierher kommen, fahren rasch weiter, steigen um, eilen ins Büro, schlendern Richtung Riesenrad oder joggen zur Prater Hauptallee. Viele bleiben aber auch einfach hier, sitzen rauchend auf den Bänken auf dem rechtzeitig zur Fußball-EM 2008 mit großem Aufwand aufgehübschten Vorplatz, stehen nahe des Eingangs zur modern-transparenten Bahnhofshalle herum, reden, trinken Dosenbier, warten. Sie werden zum unübersehbaren Hinweis auf das, was eine Gesellschaft auch ausmacht und womit sie gleichzeitig ihre liebe Not hat - sie hat einen Rand.

Erste Bahnhof Wiens
Eine neuralgische Stelle für die Hauptstadt war der Praterstern schon zu Zeiten der Monarchie. Der Nordbahnhof war der erste Bahnhof Wiens, die Nordbahn die wichtigste Bahnlinie des Reiches. Die erste elektrische Straßenbahn war der 5er, damals wie heute den Westbahnhof mit dem Praterstern verbindend. Für die meisten Einwanderer aus der Bukowina, Galizien, Böhmen und Mähren war dieser Bahnhof das Tor nach Wien. Während der Revolution von 1848 tobten hier die heftigsten Kämpfe, fast 100 Jahre später spielte der Bahnhof eine zentrale Rolle in der Logistik des Mordens im Dritten Reich: Die Deportationen der jüdischen Bevölkerung in Richtung der Konzentrations- und Vernichtungslager erfolgten zunächst vom Aspangbahnhof, ab 1943 über den Nordbahnhof. Am Ende des Zweiten Weltkrieges wurde der Praterstern durch Bomben- und Artillerietreffer weitgehend zerstört.

Probleme von europäischer Dimension
Nach dem Wiederaufbau und der Schaffung des großen Kreisverkehrs in den 1950er-Jahren wurde von 2004 bis 2008 schließlich der jüngste Umbau durchgeführt, welcher das Erscheinungsbild des Pratersterns grundlegend verändert hat. Die Tatsache, dass es ein Ort ist, an dem sich Obdachlose und Menschen mit Suchtproblemen gern aufhalten, blieb davon aber relativ unberührt. Zusätzlich kommt es seit einigen Jahren zu einem vermehrten Zuzug von Obdachlosen aus den Bundesländern, nachdem etwa in Salzburg oder Graz verschärfte Maßnahmen gegen diese Gruppen ergriffen wurden. Ähnliches passiert auch in osteuropäischen Ländern, der Anteil vor allem an ungarischen Wohnungslosen ist seit dem Regierungsantritt Viktor Orbáns im Jahr 2010 deutlich gestiegen. Am Praterstern manifestieren sich deshalb seit einigen Jahren auch Probleme von europäischer Dimension.

SAM steht für "sozial, sicher, aktiv, mobil“. Erkennbar an ihren roten Jacken, immer zu zweit unterwegs, gehen die mobilen Sozialarbeiter durch den Bahnhof, ihre Rucksäcke befüllt mit Infomaterial, Desinfektionsspray und einem Erste-Hilfe-Kasten. Ihr Hauptwerkzeug allerdings ist das Reden, das Zuhören vor allem. Die SAM-Leute reden mit dem Blumenhändler, mit dem Security-Personal im Billa und mit jenem Obdachlosen, dem zum zweiten Mal innerhalb von drei Wochen sein Schlafsack gestohlen wurde. Sie plaudern mit den Bediensteten der Wiener Linien und der ÖBB, sie unterhalten sich mit Polizisten der Polizeiinspektion Praterstern. SAM-Chef Hannes Schindler: "Es ist fast so etwas wie eine demokratische Verpflichtung, sich der Tatsache zu stellen, dass unsere Gesellschaft einen Rand hat, dass persönliche Schicksalsschläge, psychische Störungen, individuelle Krisen zu Erscheinungen wie Obdachlosigkeit, Sucht und Verwahrlosung führen. Der Praterstern hat sich seit Jahrzehnten zu einem Ort entwickelt, wo diese systemische Dysfunktionalität an die Oberfläche tritt.“

Es beginnt zu regnen. Der Praterstern ist in Richtung Tegethoff-Denkmal großzügig überdacht, vor allem, um die Straßenbahn-und Bushaltestellen vor der Witterung zu schützen. Von den Besuchern des Pratersterns sind die Obdachlosen wohl die schutzlosesten, wie ein Mann beweist, der, im Platzregen liegend, keine Anstalten macht, sich ins Trockene zu begeben. Er steht lediglich auf, um einen Meter neben seiner Bank seine Blase zu entleeren, was sich aufgrund seiner Betrunkenheit als langwieriges Unterfangen erweist. Er scheint vergessen zu haben, warum er aufgestanden ist, und lehnt mit offener Hose an der Bank.

Die bevorzugten Plätze der "Gruppe“ sind nicht nur bei Regen anderswo: die Bänke beim Abgang zur U1, der Bereich des (im Winter klimatisch durch Abluftrohre begünstigten) Billa-Lieferantenzugangs, und die Zone direkt vor dem Haupteingang zum Bahnhof. Genau dort steht Andrej* und wartet auf seine beiden Freunde Jakub* und Pawel*, die im Billa Wein besorgen. Die drei Polen sind so etwas wie Freunde, jedenfalls bestreiten sie ihr Obdachlosen-Dasein gemeinsam - quasi eine WG ohne Wohnung. Sie passen aufeinander auf.

Jakub wurde vor ein paar Monaten im Schlaf der "Glukator“ gestohlen, ein Gerät zur Behandlung seiner Zuckerkrankheit. Andrej erzählt das, als Jakub gerade aus dem Bahnhof auf ihn zukommt; im Billa-Sackerl zeichnen sich die Umrisse von vier bis fünf Ein-Liter-Tetrapaks ab, das ist wohl der Wein. Andrej ist 40 Jahre alt, sein Äußeres ist in Anbetracht seiner Lebensumstände bemerkenswert: saubere, gepflegte Kleidung, perfekt rasiert, keine Anzeichen von Verwahrlosung. Er spricht gutes Englisch, wenn auch mit starkem Akzent - immerhin lebte er einige Jahre in New Jersey, wo er als Fahrer arbeitete. In Polen hatte er zuvor Wirtschaft studiert.

Dämmerzustand
In der Stunde, die das Gespräch dauert, trinkt Andrej unentwegt seinen Wein, was ihn aber nicht gesprächiger werden lässt, sondern zusehends in einen Dämmerzustand versetzt - vermutlich das, was er erreichen will. Wo er zuvor noch Einsichten in sein Leben gewährte, von seinem wohlhabenden Vater in Polen erzählte, den er aber nicht zu kontaktieren wage ("I’m too proud to talk to him, I don’t want him to see me like this“), bleibt später ein stiller, apathischer Mann zurück, der nur immer wieder sagt, dass er nicht wisse, was er mit seinem Leben anfangen solle: "I have no idea for my life.“

"I am verboten!"
Ein Wort spricht er immer wieder aus, und es scheint fast Eingang in die polnische Sprache gefunden zu haben, weil auch Jakub und Pawel es mit der gleichen Selbstverständlichkeit verwenden: "I am verboten!“ Andrej hat keine Aufenthaltsgenehmigung in Österreich. 14 Mal wurde er bereits ausgewiesen, immer in die Tschechische Republik, immer ist er nach Wien zurückgekehrt. Er arbeitete bei der Gruft (einer von der Caritas geführten Notschlafstelle), wo er hinausflog, weil er zu trinken begann; dann war er für acht Monate im Gefängnis, weil er Socken für 28 Euro gestohlen hatte. Er könne jeden Tag duschen, sagt er; er bekomme regelmäßig zu essen, und auch medizinisch sei er versorgt, aber vor kalten Nächten fürchte er sich, weil er aufgrund seines "verbotenen“ Status kein Anrecht auf einen Schlafplatz in den Einrichtungen der Wiener Wohnungslosenhilfe habe. Seine Erzählungen von einer gescheiterten Ehe in den USA mit einer Österreicherin sind Berichte von einer tiefen Sehnsucht, von unerfüllbaren Erwartungen, von Enttäuschungen und einer Aussichtslosigkeit, die ihn am Praterstern stranden ließ.

In der Bahnhofshalle wird es laut: Ein Mann und eine Frau streiten. Er trägt ein rotes Kopftuch und eine schwarze Lederjacke, sie hochhackige Schuhe, einen kurzen Rock und jede Menge Make-up. Beide sind offensichtlich auf Drogen, die Auseinandersetzung scheint sich um Geld zu drehen und einige andere Dinge, die in dem wenige Gehminuten entfernten Rotlichtviertel rund um die Stuwerstraße ihren Ursprung haben. Eine Volksschulklasse tippelt vorbei, die beiden Lehrerinnen sind bemüht, die Kinder möglichst reibungslos um die trostlose Szene herumzumanövrieren.

Der Praterstern ist kein sozialer Mikrokosmos, in dem viel Wert auf Höflichkeit und Fairness gelegt wird. Aber nicht auf jeden, der hier sein Dosenbier trinkt, passt das Etikett von der gescheiterten Existenz, von dem seine Großmutter für einen Schuss verscherbelnden Junkie, vom schmutzverschmierten Bettler. Es gibt viele Menschen, die Job und Wohnung haben und am Wochenende oder nach der Arbeit einfach ihre Freizeit hier verbringen. Was für den einen ein Gasthaus oder der Stehtisch an der Tankstelle ist, kann für den anderen eben der Bahnhof Praterstern mit seiner ununterbrochenen Geschäftigkeit und seinem prall gefüllten Supermarkt sein.

Gerüchte, wonach der Ladendiebstahl im örtlichen Billa größere Ausmaße habe als in anderen Filialen, lassen sich nicht verifizieren, die Zahlen werden nicht veröffentlicht. Herr Pasic, der Blumenhändler, berichtet, dass kürzlich ein Mann mit einem Rucksack voller Zahnpastatuben hier gewesen sei, die er ihm verkaufen wollte. Und auch ihm wurde schon einmal etwas gestohlen, er sei dem Täter nachgelaufen, die Polizei habe diesen später gestellt. Herr Pasic wählt seine Worte mit Bedacht: "Ich will kein Nationalist sein, ich komme selber aus Jugoslawien, bin aber in Wien aufgewachsen. Aber die Ungarn, Slowaken, Polen und Roma haben ja auch gar keine andere Wahl, als kriminell zu werden.“ Mit den SAM-Leuten verstehe er sich gut, ebenso mit der Polizei, selbstverständlich duzt man einander. Er wolle noch vier, fünf Jahre seinen Laden hier betreiben, um dann in Pension zu gehen. Das Problem am Praterstern ist in seinen Augen in erster Linie der Alkohol, der die Menschen die Kontrolle über sich verlieren lässt. Sein Vorschlag für eine Verbesserung der Situation klingt wie ein Wahlkampfslogan: weniger Alkohol, weniger Pinkeln, weniger Probleme.

Ein Rollstuhl steht bei den Bänken vor dem Haupteingang. Wann und wie er hier angespült wurde, kann Barna*, der es sich darauf bequem gemacht hat, nicht sagen. Der schmächtige, vergnügt wirkende Mann um die 30 stammt aus Ungarn und ist erst seit einem halben Jahr hier. Anders als Andrej ist ihm sein Äußeres offenbar ziemlich egal: die Haare ungewaschen, seine alte, fleckige NATO-Jacke zwei Größen zu weit. Irgendwer hat offenbar etwas Hochprozentiges organisiert, das, in einer Plastikflasche mit Cola gemischt, die Runde macht. Ein Passant wird um einen Tschick angeschnorrt; er bietet Tabak zum Selberdrehen an, das Angebot wird gern angenommen. Nein, Filter ("Tampon“) benötige er keinen, danke, sagt Barna verschmitzt. Nicht alles ist pures Elend hier. Es wird geredet und gelacht, meist in alkoholgeschwängerter, männertypischer Leutseligkeit. Als ein MA48-Mann den Mistkübel neben der Bank ausleert, werden freundlich ein paar Worte gewechselt.

Hannes Schindler weiß, dass die SAM-Mitarbeiter keinen einfachen Job haben und einer Welt ausgesetzt sind, die voll von Brüchen ist. Schindler meint, dass jedem Menschen, nicht nur seinen Klienten, eine Therapie "im Sinne einer Persönlichkeitsentwicklung“ gut tun würde. Für ihn sind die Grenzen zwischen gesund und krank fließend. In jedem von uns steckt eine kleine "systemische Dysfunktionalität“.

Von einer gewissen Fehlerhaftigkeit war übrigens auch die ominöse Kettensäge im März 2010: Anwerfen ließ sie sich nämlich nicht. Kein infernalisches Knattern toste deshalb damals am Praterstern - stattdessen nur das permanente Brummen von Wiens größtem Kreisverkehr.

* Name von der Redaktion geändert