Zur Zunge passt eine piemontesische Leihgabe: Salsa verde.
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Zunge mit Salsa Verde: Grazie Roma

Das fünfte Viertel lebt: Trattoriahimmel statt Touristenfalle in Testaccio - und trotzdem wird die Zunge gezeigt.

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Wer in Rom nach Testaccio fährt, steht vor einem Scherbenhaufen. Und zwar vor einem historisch ziemlich bedeutenden. Die Geschichte beginnt etwa 200 vor Christi Geburt, da bauten die alten Römer an der Stelle des späteren römischen Arbeiterviertels einen zweiten Hafen am Ufer des Tiber, über den Getreide, Wein und Öl in die Stadt gebracht wurden. Und weil die Amphoren für das Öl nicht gründlich ausgewaschen werden konnten, entsorgte man sie gleich vor Ort. Kloink! Klirr! Schepper! Eine Amphore nach der anderen zerbarst auf dem rasant wachsenden Scherbenhaufen; über fünf Jahrhunderte entstand ein massiver Hügel, der den berühmten sieben Hügeln Roms in der Größe nicht nachsteht.

Von 1888 bis 1975 befand sich in Testaccio (vom lateinischen testa: die Scherbe) auch der Mattatoio, ein riesiger Schlachthof, der zur Geburtsstätte der Küche des Quinto Quarto wurde; damit wird sozusagen das fünfte Viertel des Schlachtviehs bezeichnet: Dem Adel gebührten die edelsten Teile, also das erste Viertel, das zweite gehörte dem Klerus, das dritte dem Bürgertum, das vierte dem Militär - und das fünfte der Arbeiterklasse. Es bestand aus Innereien und schlecht verkäuflichen Teilen wie Ochsenschlepp, Wangen, Füßen und Sehnen. Diese frattaglie, wie das ganze Gekröse auf Italienisch heißt, waren oft auch der Lohn für die Arbeiter.

Die trugen es heim, wo Mütter und Großmütter es in Delikatessen verwandelten, die heute die römische Küche definieren; in letzter Zeit kann man den alten Hadern der römischen Küche beinahe dabei zusehen, wie sie wieder täglich beliebter werden.

Die Gerichte des Quinto Quarto schwebten wie Löwenzahnsamen durch die Stadt und auch weit über ihre Grenzen hinaus, und wo sie landeten, keimten traditionelle Osterie und Trattorie und neuerdings auch bemerkenswerte Etablissements, die Nonnas Rezepte neu interpretieren. Man muss nur - in Rom noch ein Alzerl besser als anderswo - aufpassen, nicht in eine Touristenfalle zu geraten. Satisfaktionsfähige Häuser der alten Schule sind etwa das "Piatto Romano", wo man noch die Rigatoni con pajata, ein Pastagericht mit Kalbs- oder Lammdarm, beherrscht, oder die Trattoria "Trecca", in der Kalbshirn knusprig gebraten und in Zitronensauce serviert wird.

Ein schönes Beispiel für die Renovierung alter Klassiker ist Cicolinis Coda alla vaccinara, der Ochenschlepp nach Art der römischen Rindermetzger. Sarah Cicolini macht aus dem Ochsenschwanzragout einen Ball.

Ein zeitgenössisches Ereignis ist die kleine Trattoria "Santo Palato",die 2017 von der jungen Köchin Sarah Cicolini gegründet wurde. Binnen kürzester Zeit war die verkrachte Medizinstudentin aus den Abruzzen Roms toast of the town: Ihre Rigatoni alla Carbonara gelten als die besten der Stadt, ihr Zugang zu den frattaglie ist herzerfrischend und voller Esprit. Aus Rinderherz macht sie fantastischen kaltgeräucherten Schinken, das Tatar kommt von der Ziege und ist mit dem Saft echter Mandarinen und Anis abgeschmeckt, und die Trippa alla Romana, die Kalbskutteln, führen geradewegs in den italienischen Küchenhimmel. Ein schönes Beispiel für die Renovierung alter Klassiker ist Cicolinis Coda alla vaccinara, der Ochenschlepp nach Art der römischen Rindermetzger. Sie formt aus dem butterweichen Ragout ein paniertes Bällchen, das sie mit Kakao abschmeckt (im Original wird etwas Bitterschokolade in die Tomatensauce gerieben) und mit einer Sauce aus Erdnüssen und Liebstöckel anrichtet.

Die Zunge allerdings belässt sie ganz orthodox und umgibt sie bloß mit etwas Salsa verde, ein gleichsam aus dem norditalienischen Bollito Misto herausgelöstes Detail. Und weil sie am Tag meines Besuches gerade einmal nicht auf der Karte stand, habe ich sie eben selbst zubereitet. Die Rinderzunge koche ich wie vergangene Woche hier beschrieben und halte sie in ihrem eigenen Sud warm. Die Salsa verde ist schnell fertig: 1 Bund Petersilie, 1 EL eingeweichte Salzkapern, 4 Anchovisfilets, 2 Knoblauchzehen, 1 EL Weinessig in den Mixer geben, kurz pürieren, dann 2 Dotter einrühren und unter Angießen von 50 bis 60 ml Olivenöl bis zur Konsistenz von Pesto pürieren. Ich serviere die Zunge mit der Sauce auf einer Vorlegeplatte und streue etwas frisch geriebenen Kren darüber. Mit dieser kleinen Abwandlung mache ich daraus eine friulanische Spezialität. So einfach geht das in der italienischen Küche.