„Das kann man nicht vergessen“

Zeitgeschichte. „Schmarotzer": der gnadenlose Umgang mit den Kindern des Widerstands

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Sie waren hilflos dem Zerbrechen ihrer Familien ausgeliefert, ihre Biografien sind herzzerreißend. „Als Kind wusste man ja nicht, von was das kommt, warum hat man denn so eine Angst?“, sagt einer von ihnen. Er ist Kärntner Slowene und war zwei Jahre alt, als sein Vater von daheim abgeholt wurde und nie wieder kam; man exekutierte ihn wegen Partisanenunterstützung mit zwölf anderen unter dem Fallbeil. Bis heute verfolgt seinen Sohn, dass er als kleiner Knirps die Mutter damals nicht trösten konnte: „Sie hat sich nie mehr erfangen, oft hat sie tagelang nicht geredet.“ Bettelnd und ständig hungrig brachten die beiden sich irgendwie durch. An seinem ersten Arbeitsplatz wurde der junge Kärntner Slowene später aufgefordert, seinen Namen einzudeutschen. Er weigerte sich, „weil unter diesem Namen hat mein Vater den Kopf verloren“ (1).

Kaum Zuspruch und Hilfe
Wie viele Menschen als Kinder des Widerstands in Österreich leben, ist nicht genau bekannt. Bis heuer, 75 Jahre nach dem „Anschluss“ an Hitler-Deutschland, hat es gebraucht, allein die Tausenden Namen und biografischen Angaben ihrer Väter und Mütter zusammenzutragen, die Opfer des Nationalsozialismus wurden, viele fehlen noch immer (auf doew.at sind derzeit 7974 Namen einsehbar). Heute sind die Waisen von damals ältere Menschen, die von ihrer Vergangenheit eingeholt werden. Eine Analyse des Nationalfonds der Republik hält fest: „Die unmittelbaren Auswirkungen auf das Leben der Kinder konnten als ,Kollateralschaden‘ so schwerwiegend sein, dass sie im Ergebnis einer auf die Kinder selbst zielenden Verfolgung gleich waren.“ (2)

Dass im Nachkriegsösterreich der Stolz auf die Gegner des Nationalsozialismus enden wollend war, ist bekannt. Ausgeklammert blieb, dass die Ausgrenzung der Widerständigen und Unangepassten nach dem Ende des Terrors ihre Kinder zum Ziel hatte. Zuspruch und Hilfe erfuhren sie selten. Josef Baldrmann und seine Mutter wurden in den Hungerjahren nach 1945 von Arbeitskollegen seines hingerichteten Vaters unterstützt – eine Ausnahme­erscheinung, wie eine Studie von Politikwissenschafter Peter Pirker für das Sozialministerium dokumentiert (3).

Die bisher unveröffentlichte Untersuchung belegt, wie gnadenlos die Nachkriegsgesellschaft mit Waisen nach NS-Opfern umgegangen ist. Ein junger Steirer aus einer bekannten Widerstandsfamilie wurde von Mitstudenten an der TU Graz „Schädling“ geschimpft: „Wenn wir nicht gewesen wären, hätten sie den Krieg leicht gewonnen.“ Einer der eifrig hetzenden Wehrmachts- und NS-Apologeten war der Student Alexander Götz, der spätere FPÖ-Politiker und Grazer Bürgermeister. In Wels wurde ein Bub aus dem Gymnasium vertrieben. Auf die Frage des Lehrers nach dem Beruf seines Vaters hatte er schüchtern geantwortet, dieser sei im KZ gewesen, darauf wurde ihm klargemacht, mit diesem Familienhintergrund habe er an einem Gymnasium nichts zu suchen.

Kampf um Anerkennung
Jeder von ihnen hat sich anders durchgekämpft. Und alle kämpfen bis heute um so etwas wie Anerkennung. Josef Baldrmann ist jetzt 72 Jahre alt und kann die Tränen nicht zurückhalten, wenn er an seinen 1943 hingerichteten Vater Anton denkt. Er kennt ihn nur von Fotos, die den Wiener Werkzeugfräser als lebensfrohen Sportler und Bergsteiger zeigen. Als die Gestapo ihn festnahm, weil er Spenden für politische Häftlinge gesammelt hatte, war sein Sohn gerade erst geboren. Vorwerfen konnte man dem „eingefleischten Sozialdemokraten“ nicht viel: „Von ,Fritzl‘ erhielt er insgesamt zweimal je sechs oder sieben verschiedene kommunistische Schriften, darunter einen Aufruf zum 1. Mai.“ Im Todesurteil wurden Anton Baldrmann und seine kleine Gruppe dennoch zu brandgefährlichen bolschewistischen Unterwanderern hochstilisiert: „Den Angeklagten ging es um den Sturz der nationalsozialistischen Regierungsform.“ Josef Baldrmann hat vor Jahren begonnen, im Deutschen Bundesarchiv nach Dokumenten über seinen Vater zu suchen – immer wieder liest er dessen Briefe aus dem KZ und der Haft in Berlin-Plötzensee. Einmal nahm die Mutter ihn zum Besuch in dem berüchtigten Gefängnis mit. Damals war er zwei Jahre alt, er hat keine Erinnerung an den Vater. Im letzten Brief vor der Exekution bat Anton Baldrmann seine Frau: „Bringe Burli die Liebe für alles Schöne bei … gesunde Menschen wird die neugeordnete Welt notwendig brauchen.“ Demnächst soll ein Gemeindebau in Wien-Brigittenau den Namen des NS-Gegners Baldrmann bekommen – das zu erreichen hatte sein Sohn sich als Ziel gesetzt.

Politikwissenschafter Pirker hat die Biografien von sechs Menschen nachgezeichnet, die hofften, eine Novelle des Opferfürsorgegesetzes im Jahr 2005 könne ihnen eine kleine finanzielle Anerkennung bringen. Jeder ihrer Anträge ging bis zum Verwaltungsgerichtshof – und jeder wurde abgelehnt. Es ist eine Wiederholung des Unverständnisses der Behörden, die Hinterbliebene von NS-Verfolgten seit Langem kennen. Die Witwe eines Mannes, der als Mitglied der „Roten Hilfe“ kurz vor der deutschen Kapitulation im KZ Mauthausen hingerichtet wurde, schrieb vier Jahre nach Ende des Krieges: „Weder für mich noch für mein Kind bisher einen Pfennig erhalten.“

Jener Grazer, der auf der TU als „Schmarotzer“ angefeindet wurde, schaffte seinen Universitätsabschluss als Werkstudent in der Mindestzeit. Er ist heute 87 Jahre alt und überlegte lange, bevor er um die späte Zuerkennung aus der Opferfürsorge ansuchte. Seine Enttäuschung über den abweisenden Spruch des Höchstgerichts verbirgt er hinter Ironie: „Wir sind nicht sitzen (in Haft, Anm.) gegangen, damit wir irgendwann eine Rente kriegen.“

Als 15-Jähriger hatte er sich übergroße Verantwortung aufgeladen: Nach der Verhaftung der älteren Schwester und des Vaters Anfang 1941 setzte er gemeinsam mit seiner Mutter die Streuaktionen verbotener Flugblätter fort. Die tollkühne Aktion sollte der Gestapo vorgaukeln, sie habe die Falschen erwischt. Ein halbes Jahr später wurden auch der Bub und seine Mutter festgenommen: „Die ganze Familie war in Haft, und das ist durchaus vergleichbar mit der Weißen Rose, nur nicht so spektakulär.“ Während er, die Mutter und die Schwester mehrjährige Haftstrafen ausfassten, wurde der Vater des Buben wegen Hochverrats zum Tod verurteilt. Er hatte der großen kommunistischen Gruppe um den bekannten und ebenfalls hingerichteten Architekten Herbert Eichholzer angehört, diese Gruppe verfasste das einzige in Österreich bekannte Flugblatt gegen die Ermordung Kranker und alter Menschen durch die Nazis. Zum Abschied vom Vater vor dessen Exeku­tion wurde der inzwischen 16-Jährige aus seiner Zelle geholt. Die letzten gemeinsamen Augenblicke sind eine bis heute schmerzende Grenzerfahrung: „Es war natürlich schon ein belastendes Erlebnis, wenn Sie sich vom Vater verabschieden und wissen, dass er zur Justifizierung nach Wien kommt. Sowohl für einen Vater als auch für mich, nicht? Ich meine, das kann man nicht vergessen.“ Die Mutter starb, schwer gezeichnet, bald nach Kriegsende. Der Mann, dessen ganze Familie im Widerstand gewesen und dafür verfolgt worden ist, bekommt eine kleine Opferrente von monatlich 81,90 Euro.

Grenzen des Vorstellbaren
Was zwei heute über 70-jährige Schwestern aus Oberösterreich durchgemacht haben, geht über die Grenzen des Vorstellbaren hinaus. Eine Hinterbliebenenrente wurde aber auch ihnen vor wenigen Jahren höchstgerichtlich abgesprochen, die Verfahrenskosten des zwei Jahre dauernden Rechtsstreits mussten sie von ihrer kleinen Pension bestreiten. Ihr Vater war ein ärmlicher Kleinbauer; um die Familie zu ernähren, verdingte er sich zudem als Knecht. Die Überforderung führte zu Wutanfällen und Anzeichen geistiger Zerrüttung, in der „Landesirrenanstalt“ Niedernhart wurde der Mann 1943 Opfer der NS-„Euthanasie“. Der gewaltsame Tod des Bauern stieß seine fünf kleinen Kinder ins Elend. Völlig verarmt galten sie in Hitlers „Volksstaat“ nun als „asoziale Großfamilie“, Kinderbeihilfe und Krankenversicherung wurden ihnen gestrichen. Lokale Nazi-Funktionäre gefielen sich darin, die Witwe wegen eines im Haus fehlenden Hitler-Bildes zu drangsalieren, und stahlen das letzte Tier aus dem Stall. Die Ausgrenzung setzte sich nach Kriegsende fort, 1946 erhängte sich eines der Kinder, ein damals Elfjähriger. Eine der Frauen spricht von totaler Schutzlosigkeit: „Wir sind behandelt worden wie Aussätzige, weil die Mutter sich auch nicht wehren hat können.“ Die Republik schloss die Familie aus ihrer Opferfürsorge aus, denn Fälle wie der Kleinbauer, bei dem Krankheit der Grund von NS-Verfolgung und Mord war, wurden erst ab 1995 anerkannt.

Die beiden Schwestern hatten als 13-Jährige die Schule abbrechen müssen, arbeiteten als Dienstmägde. Für den entgangenen Schulabschluss bekamen sie im Jahr 2007 eine einmalige Entschädigung. Das Entgelt für die lebenslang fehlende Bildung wurde exakt mit 906,25 Euro bemessen.
Das Resümee von Politikwissenschafter Pirker: „Psychisches und soziales Überleben war im Fall der beiden Frauen nichts anderes als Leisten von Widerstand gegen unmenschliche Lebensbedingungen im Kindesalter durch NS-Unrecht und durch eine sekundäre Diskriminierung nach 1945.“ Vor Kurzem bekamen die Frauen Besuch aus Wien: Sozialminister Rudolf Hundstorfer und Karl Öllinger von den Grünen wollten sich ganz ohne öffentliches Aufsehen ein Bild von ihrer Lage machen und waren beeindruckt und beschämt zugleich. Öllinger: „Die beiden haben nicht nur ihre eigene Geschichte gemeistert. Eine von ihnen pflegt seit Jahrzehnten auch noch den Sohn, der an Schizophrenie erkrankt ist.“

Der Ausdruck Opferfürsorge erscheint angesichts solcher Umstände euphemistisch. Die beiden Frauen sind von dieser Einrichtung bis heute nicht erfasst worden. Vorsichtig geschätzt dürfte das bei rund 1300 Kindern von NS-Opfern der Fall sein. Sie können nun im Sozialministerium einen Antrag auf „symbolische Anerkennung ihrer Schicksale“ stellen. Die Anerkennungszahlung beträgt maximal 2000 Euro. Da die Aktion aber nicht weiter bekannt gemacht worden ist, haben erst wenige sie in Anspruch genommen.

(1) In: „Child Survivors der NS-Verfolgung in Österreich nach 1945“, herausgegeben von der Psychosozialen Ambulanz ESRA, Wien 2008

(2) Maria Luise Lanzrath: „Weil vieles nicht abgeschlossen ist“, in einer Publikation des Nationalfonds der Repu­blik Österreich, 2010

(3) Peter Pirker: „Waisen nach NS-Opfern und deren ­Behandlung in der Opferfürsorge“, 2012