Kleine Zähne aus blauem Stahl

Alpinismus: Kleine Zähne aus blauem Stahl

Zeitgeschichte. Die Pionierinnen der Berge aus neuer Perspektive

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Als die junge Elizabeth Main in den 1870er-Jahren von Chamonix aus zum ersten Mal zu einer Berghütte aufgestiegen war, hatte sie am nächsten Morgen Mühe, in die Stöckelschuhe zu kommen, in denen sie unterwegs war: Der Schnee hatte das Schuhwerk ziemlich lädiert, und außerdem war es das erste Mal, dass ihr niemand beim Anziehen half. Doch die Tochter aus adeliger britischer Familie fand rasch Gefallen an rauer Kleidung und der Schwerarbeit mit dem Berg. Nach ihrer Rückkehr nach England hatte ihre vornehme Großtante Lady Bentinck nur einen Wunsch: Die junge Dame möge die Kletterei sofort einstellen. "Sie erregt Skandal in ganz London und sieht aus wie ein roter Indianer“, zürnte die Lady.

Elizabeth Main
(1861-1934) wurde eine der Pionierinnen des Alpinismus. Und im Gegensatz zu den meisten anderen, die wenig Aufhebens von ihren Gipfelabenteuern machten und ihre Touren nicht einmal schriftlich festhielten, hat sie ihre alpine Erfahrung in prachtvollen Bildern wie jenem vom Gletscher mit Dame (großes Foto) festgehalten. Main schleppte, ebenfalls als eine der Ersten, ihre schwere Kamera mit auf die Berge. Ihre Leistungen sind herausragend: elf Winterbesteigungen, darunter die erste Wintertraversierung des Piz-Palü-Kamms 1891; acht Jahre später bestieg sie den 3900 Meter hohen Gipfel im Engadin wieder, diesmal ohne Bergführer, mit Evelyne McDonnell in der ersten Frauenseilschaft, die den Piz Palü "allein“ gemacht hat.

Je länger die Eroberungszüge der ersten Alpinistinnen in die Männerdomäne Berg zurückliegen, umso mehr Faszination scheinen sie zu entfalten. Die US-Amerikanerin Fanny Bullock Workman etwa, die sich im Karakorum 1912 mit dem Aufruf "Votes for Women“ hatte ablichten lassen, ist im Internet längst zur Ikone geworden. Und in der Schweiz gilt die bekennende Linke "Loulou la Rouge“ inzwischen als Grande Dame des Alpinismus: Loulou Boulaz und ihr Seilgefährte hatten 1937 die damals größte alpinistische Herausforderung, die Erstbegehung der Eigernordwand, nur wegen eines Wettersturzes abbrechen müssen. Die junge Bergsteigerinnengeneration ist stolz auf die sportive Pionierin, die es beinahe schaffte, ein wichtiges Kapitel der Alpingeschichte anders zu schreiben: Denn Boulaz war der nationalsozialistische Heroismus, mit dem der Sieg von Heinrich Harrer, Fritz Kasparek, Anderl Heckmair und Wiggerl Jörg über die Eigernordwand 1938 aufgeladen wurde, fremd.

Die Südtiroler Publizistin Ingrid Runggaldier präsentiert die "Frauen im Aufstieg“ nach intensiver Recherche nun aus neuer Perspektive. In einem beeindruckenden Band mit exzellenter Illustration dokumentiert sie, wie couragiert und selbstverständlich Frauen auf ihre Weise Alpingeschichte geschrieben haben. Runggaldier, Mitglied des Internationalen Bergfilmfestivals Trient und Kulturreferentin des Alpenvereins Südtirol, ist die Bergsteigerwelt vertraut: Ihre Mutter dirigierte die Bergrettungszentrale in Gröden, der Vater leitete die Bergführer. Ihre geballte Zusammenschau von Frauen, die Vorurteile und Konventionen abwarfen, um - wie die Männer - in den Bergen auch Freiheit, Gefahr und Bestätigung zu finden, macht eines deutlich: Die meisten der frühen Gipfelstürmerinnen gingen mit ihren Erfolgen lockerer um als das starke Geschlecht. Henriette d’Angeville schrieb die Losung "Vouloir c’est pouvoir“, "Wollen ist Können“, in den Schnee, als sie 1838 offiziell als erste Frau auf dem höchsten Berg Europas, dem Montblanc, stand. Die französische Adelige war typische Vertreterin der wohlhabenden Elite, die es sich leistete, Männern bei der Eroberung der Berge Paroli zu bieten. D’Angeville selbst berichtet von einer Frau, die bereits dreißig Jahre vor ihr den Montblanc bezwungen hatte: die Einheimische Marie Paradis, vermutlich arbeitete sie als Magd oder Kellnerin, war im Jahr 1808 ohne jede Vorbereitung der Einladung einer Männerseilschaft zum Mitkommen gefolgt. Von Marie Paradis ist nicht einmal das Alter bekannt. Überliefert sind dagegen die hämischen Aussagen ihrer Begleiter über die Heldentat der Frau. "Werft mich in eine Gletscherspalte“, soll sie erschöpft gefleht haben.

Das Verschweigen, Lächerlichmachen und Abwerten bergsteigerischer Leistungen von Frauen hatte System, schreibt Runggaldier. Die Lastenträgerinnen in den Karnischen und Julischen Alpen etwa mussten mindestens ebenso gute Bergsteigerinnen sein wie ihre Kunden, mit ihren ausgezeichneten Geländekenntnissen gingen sie oft noch vor dem "scharfen Ende des Seils“, also am Beginn der Gruppe. Selbst der bekannte Bergführer Tita Piaz aus den Dolomiten heuerte eine Frau an. Teresa habe "ungeheure Lasten“ allein des Verdiensts wegen auf die Berge geschleppt, sagte Piaz, den alpinistischen Ambitionen ihrer "Herrschaft“ sei sie mit "geradezu krimineller Gleichgültigkeit“ gegenübergestanden. Der italienische Bergsteiger Pietro Cozzi ließ eine für ihre Kühnheit gerühmte Lastenträgerin für sich arbeiten: "Sie klettert über die Felsen wie der Teufel, obschon sie alt ist.“

Es stand außer Frage, dass Frauen klettern konnten wie Männer. Also wurden sie in Karikaturen als Emanzen im Männerhabitus herausfordernd mit Zigarette im Mund auf dem Gipfel dargestellt. Oder, deftig, mit dem festen Tritt eines Mannes in die Brust der hinter ihm kletternden Seilpartnerin. Um 1900, als die Pionierin des Alpinismus aus der Donaumonarchie, Hermine Tauscher-Geduly, den damals höchsten Schwierigkeitsgrad erreichte und die Spitzenalpinistinnen längst mit Männern gleichgezogen hatten, verweigerten die elitären Bergsteigervereinigungen in der Schweiz und England Frauen die Mitgliedschaft. Die Britinnen dachten nicht daran, vom Tal aus zu verfolgen, "wie ein schmächtiger und rückgratloser Geck von zwei kräftigen Führern auf einen Gipfel hinaufgezogen wird“ (die Alpinistin Mary Mummery), und gründeten als erste einen alpinistischen Frauenklub. Der Deutsche und Österreichische Alpenverein (sie fusionierten 1873) stand Frauen zwar offen, 1914 kamen sie in den 400 Sektionen jedoch gerade auf fünf Prozent. Der eisige Wind für Bergsteigerinnen nahm auch abstruse Richtungen. In einer Abhandlung "Weib und Alpinismus“ hieß es, Frauen seien vor allem durch eines am Berg behindert: ihre Unfähigkeit zu wahrer Freund- und Kameradschaft. Die leidige Bekleidungsfrage - schwere Röcke, die für Steigeisen erstklassige Fangnetze waren, oder "skandalöse“ Hosen - wabberte noch in den 1930er-Jahren. Damals wollte ein Vorarlberger Landesschulinspektor Mädchen mit langem Schulweg Skihosen erlauben. Der Feldkircher Bischof sagte "Nein“, und die unter Vermännlichungsverdacht stehenden Skihosen blieben verboten. Ödön von Horváth verdichtete gängige Männerfantasien und Ängste unnachahmlich in seinem Sportmärchen der Eispickelhexe: "Statt Zehen wuchsen ihr Pickelspitzen, und ihre Zähne sind klein und aus blauem Stahl. Ihre Brüste sind mächtige Hängegletscher, und trinkt sie Kaffee mit Gämsenblut, darf niemand sie stören.“

Die männliche Abwehr reichte von subtilen bis zu lebensgefährlichen Methoden. Die Gepflogenheit, Frauen beim Gipfelfoto aus dem Bild zu schieben, bekam bereits die berühmte Lucy Walker zu spüren. Sie durfte inmitten zwanzig prominenter Alpinisten auf ein Gruppenporträt des elitären "Club Room of Zermatt“, aber ihr Name fehlte in der Bildlegende. Das beeindruckte sie wenig. Ihre aufsehenerregendste Besteigung hielt sie mit keiner Zeile fest: Lucy Walker schaffte es im weißen knöchellangen Rock 1871 als erste Frau auf das Matterhorn, als Proviant pflegte sie Champagner und Biskuit mit sich zu nehmen.

Beatrice Tomasson war Mitglied der Sektion Innsbruck des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins. Die Britin arbeitete eine Zeit lang als Gouvernante des in Innsbruck studierenden Edward Lisle Struck (er geleitete als Diplomat 1919 die österreichische Kaiserfamilie ins Schweizer Exil) und begann ihre Bergkarriere in den Zillertaler und Ötztaler Alpen. Tomasson schaffte mit 42 Jahren eine der größten alpinistischen Leistungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts überhaupt: Sie durchstieg als Erste die gewaltige Südwand der Marmolata. Nach zwölf Stunden im Fels erreichte sie mit ihren Bergführern trotz Hagel, Kälte und Steinschlag am Abend des 1. Juli 1901 den Gipfel. Bekannt ist die Route heute nicht unter ihrem, sondern den Namen ihrer Bergführer Bettega und Zagonel. Die Bezwingerin der Marmolata hat keinen Tourenbericht publiziert. Nach Recherchen von Autorin Runggaldier dürfte die Einzige, die Tomassons Leistung damals öffentlich würdigte, die Wirtin ihres Hotels gewesen sein. Sie schickte dem Club Alpino Italiano eine exakte Schilderung der Erstbesteigung und fügte an, Beatrice Tomasson zeichne sich durch "sangue freddo“, Kaltblütigkeit, aus.

Kaltblütig muss auch die Schweizerin Heidi Schelbert reagiert haben, als sie 1956 mit einer Freundin im Aufstieg auf das Matterhorn war und ein wütender Bergführer den allein gehenden Frauen das Seil losriss. Schelbert: "Der erste Bergführer, der schon wieder runtergestiegen kam, rief uns zu: ‚So, jetzt komme ich‘, und hängte unsere Sicherung aus.“ Nachsatz: "Immerhin haben sie uns nicht die Seile zerschnitten, wie sie das bei Frauen getan haben, die eine Generation vor uns unterwegs waren.“1)


1) In: Patricia Purtschert: "Früh los“, 2010, Verlag für Geschichte und Kultur Baden