Wie ein Jo-Jo
Im Jahr 1976 machte das Olympische Komitee einen Fehler. Zwei junge Witwen waren vor den Sommerspielen in Montreal vorstellig geworden und hatten eine Schweigeminute gefordert, im Gedenken an jene elf israelischen Athleten, die bei den Olympischen Spielen 1972 in München von der palästinensischen Gruppe Schwarzer September gefangen genommen worden waren. Alle Geiseln hatten beim missglückten Befreiungsversuch ihr Leben verloren. Die Organisatoren der Spiele 1976 lehnten ab. Die dachten damals: Ach, die zwei werden schon aufgeben, die heiraten wieder, und die Sache hat sich, erzählt Ankie Spitzer, deren Mann Andrei unter den Opfern war. Da haben sie sich getäuscht. Wir kommen immer zurück. Wie ein Jo-Jo.
Noch drei Wochen bis zum Beginn der Spiele 2012 in London und Ankie Spitzer ist wieder da. Gemeinsam mit Ilana Romano, der Witwe des israelischen Athleten Yossi Romano, kämpft sie seit 40 Jahren um eine Gedenkminute für die Opfer des palästinensischen Terrors von 1972. Die Witwe folgt dem olympischen Tross wie ein schwarzes Groupie. Der Chef des Organisationskomitees der Londoner Spiele, Sebastian Coe, hat ihr gerade erst wieder den üblichen Ablehnungsbrief geschrieben. Seit Jahrzehnten sagen sie mir, dass eine Schweigeminute im Protokoll der Eröffnungszeremonie nicht vorgesehen ist, sagt die 66-jährige Holländerin und zündet sich im Nichtraucherteil des Tel Aviver Kaffeehauses, in dem das Interview stattfindet, eine Zigarette an. Es war aber auch nicht im Protokoll vorgesehen, dass mein Mann in einem Sarg heimkommt.
Die Olympischen Spiele seien, so die Organisatoren, ein sportlicher Wettkampf, der nicht politisiert werden sollte. Für die israelischen Opfer hat man nie eine Ausnahme machen wollen, für andere schon, sagt Spitzer. Im norwegischen Lillehammer 1994 gedachte man während der Eröffnungszeremonie schweigend der Opfer der Belagerung von Sarajevo. Bitte hört auf zu kämpfen!, rief IOC-Präsident Juan Antonio Samaranch. Bitte lasst die Waffen schweigen! Zehn Jahre davor waren die Olympischen Spiele in Sarajevo als Triumph der Völkerverständigung in der damals multiethnischen Stadt gefeiert worden.
Zuweilen gedenkt man bei den Spielen sogar Ereignissen, die überhaupt nichts mit Olympia zu tun haben. Fünf Monate nach 9/11 trugen amerikanische Sportler eine angekokelte US-Fahne ins Stadium von Salt Lake City. Fünf Feuerwehrmänner und fünf Polizisten aus New York folgten ihnen. Die Zuschauer standen drei Minuten in stillem Gedenken an die Anschläge auf das World Trade Center.
Des Massakers an den israelischen Sportlern aber will die Führung der Olympischen Spiele in London 2012 genauso wenig wie 1972 in München offiziell gedenken. Die Witwe führt das nicht nur auf die Angst der Organisatoren zurück, dass arabische Delegationen aus Protest das Stadion verlassen würden. Es könne auch sein, dass man die Gunst arabischer Sponsoren nicht aufs Spiel setzen wolle. Ende Juni weihte Londons Bürgermeister Boris Johnson sein neuestes Hauptstadtspielzeug ein: Die Emirates Air Line ist Londons erste Gondelbahn. Die Kabinen stammen zwar von der österreichischen Firma Doppelmayr, wurden aber von Emirates Air bezahlt. Der Emir von Dubai, Mohammed bin Rashid Al Machtum, hat 36 von 60 Millionen Pfund Konstruktionskosten berappt.
Warum Ankie Spitzer trotzdem nicht aufgibt? Nach 40 Jahren könnte sie einsehen, dass ihre Schweigeminute nie abgehalten wird. Die resolute Frau schüttelt ihr kurzes, braunes Haar. Ich mache das nicht als Hobby, als Beruf oder als Obsession, erklärt sie. Ich schulde es Andrei einfach.
Sie war 25 Jahre alt, als sie den israelischen Fechtmeister Andrei Spitzer kennen lernte. Der Israeli mit rumänischen Wurzeln war von seiner Regierung nach Holland geschickt worden, um seine Ausbildung zum Trainer zu beenden. Ankie war seine Schülerin. Nach ein paar Monaten ging sie mit ihm zurück nach Israel. Konvertierte innerhalb von drei Wochen, hochschwanger, zum Judentum. Frisch verheiratet, fuhren die beiden mit der neugeborenen Tochter Anouk zu den Olympischen Spielen nach München.
Das Baby ließ Ankie bei ihren Eltern in Holland. Ich weiß nicht, wie ich es geschafft habe, meine zwei Wochen alte Tochter zurückzulassen, aber ich sagte damals zu meiner Mutter: Andrei braucht mich. Während der Spiele schliefen Ankie und Andrei nicht im olympischen Dorf, sondern in einem Zimmer in der Stadt. Als Andreis Wettkampf vorbei war, fuhr Ankie zu ihrem Kind, ihr Mann schlief zum ersten Mal im olympischen Dorf. In dieser Nacht des 5. September drangen die palästinensischen Terroristen in zwei Häuser der israelischen Delegation ein und nahmen elf Geiseln.
Das Drama dauerte 20 Stunden. Der Schwarze September forderte die Freilassung von 234 palästinensischen Gefangenen. Ich telefonierte mit Golda Meir und sagte: Ich will meinen Mann wiederhaben, lassen Sie doch die Gefangenen frei, erinnert sich Ankie Spitzer. Israels damalige Premierministerin erklärte ihr, dass Israel nicht mit Erpressern verhandle. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Attentäter bereits zwei der israelischen Sportler erschossen.
Ankie saß im Haus ihrer Eltern wie versteinert vor dem Fernseher. Dann erschien plötzlich Andrei am Bildschirm. Sie hatten ihn zum Fenster gestoßen, ich konnte sehen, dass sie ihm seine Brille weggenommen hatten. Ihr Mann sprach sehr gut Deutsch und wurde für die Gespräche mit dem Krisenstab eingesetzt. Sie hat die Geschichte schon so oft erzählt, ihre Stimme ist ruhig, doch empört ist sie immer noch. Es war so demütigend. Ich wusste, dass Andrei ohne Brille fast nichts sehen konnte.
Der Schwarze September forderte ein Flugzeug und wollte die Geiseln in ein arabisches Land ausfliegen. Die deutsche Einsatzleitung lehnte die Kooperation der Israelis ab. Israels Verteidigungsminister Moshe Dayan wurde gebeten, nicht in die Nähe des olympischen Dorfs zu kommen, weil der Mann mit der weltweit bekannten Augenklappe die Geiselnehmer in Panik versetzen könnte. Auch der kurzfristig eingeflogene Chef des israelischen Geheimdiensts, Zwi Samir, wurde vom deutschen Krisenstab auf Distanz gehalten. Der Sturm auf das Flugzeug endete in einem Desaster. Die Deutschen haben wirklich alles falsch gemacht, was man falsch machen konnte, seufzt Frau Spitzer.
Wenn sie nicht IOC-Präsidenten mit Petitionen verfolgt, arbeitet Ankie Spitzer als Nahostkorrespondentin für das holländische und belgische Fernsehen. Sie wohnt in Ramat Hasharon im Norden von Tel Aviv, einer ruhigen, friedlichen Vorstadt. Trotz ihres Einsatzes für Andrei ist sie nicht im Jahr 1972 hängen geblieben. Zehn Jahre danach verliebte sie sich in Eli Reches, einen Professor für Nahostgeschichte an der Uni Tel Aviv. Sie bekam drei Kinder mit ihm.
Die Präsenz seines toten Vorgängers war Reches auf Dauer aber zu viel. Vor fünfzehn Jahren zerbrach die Ehe: Er konnte nicht damit umgehen, dass Andrei alle vier Jahre wieder Thema wurde. Auch in diesem Sommer ist sie wieder in Sachen München-Massaker auf Achse. Israels Präsident Shimon Peres, der an der Eröffnungszeremonie am 27. Juli teilnimmt, soll dem IOC ihre Petition übergeben. Im September absolviert sie Veranstaltungen zum 40. Todestag in München und Israel.
Im Wohnzimmer ihres Hauses stehen Schwarz-Weiß-Fotos des toten Fechtmeisters am Fensterbrett. Andrei Spitzer sieht nicht wie ein Spitzensportler aus. Eher wie ein schüchterner Lehrer. Durch seine Hornbrille blickt er ewig freundlich auf die Ereignisse im Haus.
Vergangenen Donnerstag gab es wieder einiges zu sehen. Andreis und Ankies Tochter Anouk, die bei seiner Ermordung zwei Wochen alt war, hat hier im Haus der Mutter geheiratet.