Reine Nervensache

Bildung: Reine Nervensache

Bildung. Wie politische Seilschaften und Standesdünkel die Zentralmatur boykottieren.

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Schwarzer Rock, weiße Bluse: So sitzt Lisa P. unter den anderen Schülern und ärgert sich, dass sie ihre Haare vor der Matura nicht schrill gefärbt hat. Die 19-jährige Wienerin hat gerade eine bravouröse Prüfung hingelegt. Nun empfindet sie nichts, was sich wie Stolz anfühlt, nur Erleichterung, „dass die Quälerei vorbei ist“.

In fünf Jahren an einer Wiener HTL habe sie gelernt, „in ein Muster zu passen“. Die Lust am Lernen habe man ihr ausgetrieben. „Wenn die Leute Matura machen, haben sie ihre Vorlieben verloren. Danach brauchen sie oft Jahre, bis sie wieder etwas finden, für das sie sich begeistern.“
So ernüchternd kann es enden. Rund 45.000 junge Menschen erfahren dieser Tage die große Nervenanspannung an der Schwelle zum Erwachsensein, eine Art Ini­tiation, die 2012 kaum anders abläuft als vor Jahrzehnten: schwarze Anzüge, brave Kleider, rote, verschwitzte Gesichter, weihevolle Reden, wenn alles vorbei ist.

Das Ritual setzt den Punkt hinter einen Lebensabschnitt. „Sich der Öffentlichkeit zu stellen verlangt Zivilcourage und gehört irgendwie zur Allgemeinbildung dazu“, sagt Bildungsforscherin Ilse Schritt­esser. Kaum ein Wissenschafter, Direktor, Lehrer, der es nicht goutierte, wenn jahrelanges Streben zu einem „würdigen und feierlichen“ Abschluss kommt.
In der Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts verfehlt die Matura allerdings ihren Sinn, wenn sie das berufliche Fortkommen junger Menschen von einer Momentaufnahme abhängig macht. Auch darin sind sich Experten grosso modo einig. „Entscheidend ist nicht das Detailwissen an einem Tag, sondern welche Kompetenzen man entwickelt hat“, sagt An­dreas Paseka, Direktor der Wiener AHS Wenzgasse.

Die „Reifeprüfung neu“ weist, zumindest auf dem Papier, in die richtige Richtung. Ist sie erst einmal in Kraft, treten alle Maturanten des Landes am selben Tag zur schriftlichen Prüfung an. Die Aufgaben in Deutsch, Mathematik und in den Fremdsprachen werden vom Bundesinstitut für Bildungsforschung (Bifie) vorgegeben. Bewertet werden die Klausuren, so wie bisher, von den eigenen Lehrern, allerdings nach einem engen, vorgegebenen Schlüssel. Außerdem muss jeder Schüler eine vorwissenschaftliche Arbeit abliefern und sie bei der mündlichen Prüfung präsentieren. Hier redet auch die Schule mit: Die Lehrer eines Fachs einigen sich auf einen Themenpool, aus dem die Prüflinge ihre Aufgaben ziehen.

Konservativen Kräften in der AHS-Lehrerschaft verschlägt bereits dieser Schritt den Atem. Die neue Matura stellt sie selbst auf den Prüfstand. „Die Vorstellung, von außen kontrolliert zu werden, überfordert viele“, beobachtet Bildungsforscherin Schrittesser. In vielen Gymnasien soll das Lehrpersonal wertvolle Zeit damit vergeudet haben, die anstehende Reform zu boykottieren, statt sich darauf vorzubereiten. Die künftigen Maturaaufgaben im Internet selbst aufzurufen, empfanden viele bereits als Zumutung.

Innovativen Kollegen hingegen geht die Reform nicht weit genug. Georg Neuhauser, HAK-Lehrer und Mitbegründer der Lehrer-Initiative „Cool“ („cooperatives, offenes Lernen“) in Steyr, etwa stört, dass die Zentralmatura der Tradition verhaftet bleibt: „Entscheidend ist, was in den Jahren davor passiert. Der Popanz, der um die Reifeprüfung gemacht wird, steht ihr nicht zu.“

Im Habsburger-Vielvölkerstaat war sie noch den Gymnasien vorbehalten. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die berufsbildenden höheren Schulen zur bevorzugten Bildungsschiene für Kinder aus sozial schwächeren Familien. Heute stellen HTL, HAK & Co bereits 55 Prozent eines Maturantenjahrgangs. Aber auch dort hielt sich die AHS-Vorstellung, wonach einzig der Klassenlehrer bestimmt, was geprüft und wie es benotet wird.

„Die Idee ist 200 Jahre alt und nicht leicht aus den Köpfen zu verbannen“, seufzt Christian Dorninger. Als „Projektleiter für die neue Reifeprüfung“ im Bildungsministerium soll er nicht weniger schaffen als eine Revolution von oben.

Mit der Zentralmatura kommt „ein starkes, objektives Element“ ins Spiel, so Dorninger – etwas, das in vielen EU-Ländern längst Usus ist. Von dort kam der Reformdruck. Österreich steht wegen seiner schlechten PISA-Ergebnisse unter Beobachtung. Bei internationalen Assessments pflegen heimische Schulen recht unterschiedlich abzuschneiden. Das gefährdet den Ruf der rotweißroten Matura als harter Bildungswährung. Dazu kommt, dass sich die Zahl der Maturanten seit 1960 fast vervierfacht hat. „Mehr Maturanten bedeutet größere Heterogenität bezogen auf Leistung, soziale Herkunft, ethnische und kulturelle Wurzeln“, sagt Bildungsforscherin Christiane Spiel.

Bestrebungen, die Reifeprüfungen zwischen Bregenz und Neusiedl vergleichbar zu machen, gab es schon unter ÖVP-Bildungsministerin Elisabeth Gehrer. Als ihr Claudia Schmied (SPÖ) 2007 im Amt nachfolgte, gewann das Vorhaben an Schwung. Zwei Jahre später starteten die ersten Schulversuche. Inzwischen wird in mehr als 80 Prozent der heimischen AHS die Zentralmatura in den Fremdsprachen-Fächern erprobt.
Österreich ist spät dran. Zwar gleicht in Europa keine Matura exakt der anderen.. Doch in 24 von 27 EU-Staaten ist die Reifeprüfung mehr oder weniger standardisiert. In Frankreich, Irland, Italien, Luxemburg, Malta, Rumänien, Slowenien, Großbritannien und in den baltischen Staaten kommen die Maturafragen von der Zen­trale. Nur Belgien, Island und Liechtenstein verzichten – neben Österreich – völlig auf zentrale Vorgaben.
Am Montag vergangener Woche stellte das Unterrichtsministerium der Wiener AHS Wenzgasse einen Stapel pinkfarbener Folder zu. „Alles, was du schon immer über die neue Matura wissen wolltest“, stand darauf. Die Broschüren waren obsolet, noch bevor Direktor Paseka sie in den Klassen verteilen ließ. Via ORF-Teletext hatte der Schulleiter erfahren, dass die Zentralmatura um ein Jahr verschoben wird – in den AHS von 2014 auf 2015 und in den BHS von 2015 auf 2016.

Dass er die Nachricht als Tiefschlag empfunden habe, sei freundlich ausgedrückt, sagt er: „Wir haben uns hier zerrissen, um die neue Reifeprüfung auf Schiene zu bringen.“ Das Hietzinger Gymnasium war mit vorn dabei, als es galt, sie im Schulversuch zu erproben und die Eltern zu beruhigen: „Wir haben alles getan, damit die Kinder nicht an die Wand fahren.“

Gerhard Resch, Landesschulratspräsident im Burgenland, missbilligt den „plötzlichen Meinungsumschwung auf höherer Ebene: Man hat eine gute Idee aus politischen Gründen ins Abseits gestellt.“
Eine Untersuchung aus dem Jahr 1995 kam zu dem wenig überraschenden Ergebnis, dass in Österreich „nicht der Lehrplan, sondern der Klassenlehrer den größten Einfluss darauf hat, ob die Matura leicht oder schwer ausfällt“. Wie ungerecht die derzeitige Praxis ist, bezeugt ein Lokalaugenschein bei der mündlichen Prüfung in Wiener Gymnasien in der vergangenen Woche. In allen Schulen gab es herausragende Leistungen, beeindruckendes Detailwissen – es gab aber auch Momente des Verstummens und der Blockade.

Das Setting ist immer gleich. In einem ausgeräumten Klassenzimmer oder in der Aula der Schule gruppiert sich die Maturakommission um mehrere zusammengeschobene Tische: der Vorsitzende, ein Direktor einer Nachbarschule oder jemand aus dem Landesschulrat, die Schuldirektorin, der Klassenvorstand und die jeweiligen Fachlehrer. Abseits davon sind vier Einzeltische platziert, an denen die Kandidaten eine halbe Stunde lang Zeit haben, um über ihren Aufgaben zu brüten. Die Burschen in schwarzen Maturaanzügen und weißen Hemden mit Krawatte, die Mädchen in dunklen Röcken und weißer Bluse, manche mit unnatürlich roten Backen, andere kalkweiß im Gesicht, das Gemurmel der Kandidaten, die schon dran sind, im Ohr. Der Geruch von Angst liegt in der Luft. Beine stoßen in nervösem Rhythmus gegen die Tischkante, Füße zappeln, Hände fahren unter Hemdkrägen, Röcke werden über die Knie gezerrt, verzweifelte Blicke schießen in Richtung der Kommission, ein Bild des Jammers.

Ein paar Meter entfernt, bei der Kommission, herrscht dagegen die Langeweile der Routine – ausgenommen bei jenen Lehrern, die gerade ihren Kandidaten in die Mangel nehmen. Der Lärmpegel ist – trotz mahnender Aufschriften an den Türen – ziemlich hoch. An einer Schule wurde am Kommissionstisch ungeniert getratscht, gegessen, getrunken, auf Facebook gesurft, während in der Mitte ein schwitzender Kandidat zu den Geheimnissen des Hinduismus befragt wurde.

Es gibt Prüfer, die in ihrem gutwilligen Eifer die Aufgabe so lange erläutern, bis dem Kandidaten im wahrsten Sinn des Wortes Hören und Sehen vergeht. Wenn dann ein Begriff, von dem der Lehrer meint, er sei die Erlösung aus dem Debakel, dem Prüfling nicht einfällt, wenn es am Kommissionstisch stiller wird und alle Augen auf den Kandidaten gerichtet sind – dann ist es schiefgegangen.

An einer Schule trat der seltene Fall ein, dass fast die ganze Klasse zur mündlichen Lateinmatura antrat. Die schwierigsten Texte wurden stockend übersetzt, was dar­auf hinweist, dass sie vorher nicht bekannt waren und auswendig gelernt werden konnten. „Unser Lehrer ist einfach leiwand“, begründete ein Schüler seine Wahl.

Ein Geografiematurant erläuterte den Konflikt zwischen Tutsis und Hutus in ­Ruanda. Auf Englisch. Seine Lehrerin, die eine Zeit lang in England gelebt hat, hatte mit Einverständnis ihrer Klasse den Unterricht teilweise in dieser Fremdsprache abgehalten.

Diese Individualität könne durch die Zentralmatura verloren gehen, sagt Hubert Kopeszki, Direktor des Goethegymnasiums in Wien: „Aber dafür wird es gerechter.“ Ein Lehrer kann keinen Wink mehr geben. Kopeszki könnte sich die ersatzlose Streichung der Matura, die nicht nur das Wissen, sondern ebenso die Nervenstärke misst, gut vorstellen. „Doch die Kinder wollen diesen Initiationsritus ins Erwachsenenleben. Sie haben an diesem Tag trotz aller Angst das Gefühl, etwas zu beweisen. Es kam schon vor, dass ein guter Schüler ausgerechnet bei der Matura versagte und durchfiel. Aber ganz selten.“

Manche Schüler haben fünf mündliche Prüfungen an einem Tag. „Kein Erwachsener würde das schaffen. Umso mehr müssen wir gesellschaftlich relevantes Wissen prüfen, wozu sonst der Aufwand?“, meint der Direktor des Gymnasiums in der Wiener Anton-Krieger-Gasse, Herbert Schmidt.
Die berufsbildenden höheren Schulen kommen damit am besten zurecht. Vergangene Woche im etwas düsteren Exner-Saal des Wiener „TGM – die Schule der Technik“: 380 junge Menschen treten hier zur Matura an, zehn Prozent von ihnen Mädchen. Die Hälfte der Absolventen wird danach ein Studium beginnen, erzählt Direktor Karl Reischer. Eine Gruppe hat ein Gerät gebaut, das Stammzellen in Muskelzellen verwandelt. Ihr Dossier wird ans Patentamt weitergereicht. Vor der Zentralmatura fürchtet sich hier niemand: „HTL und BHS waren immer schon näher an der Praxis dran. Anders als in AHS ist man daran gewöhnt, dass Leistungen extern überprüft werden.“

Die Zentralmatura verlangt einen Paradigmenwechsel. Für die Deutschmatura wurde entschieden, dass es wichtiger ist, etwa einen Bericht von einem Kommentar zu unterscheiden, einen Text zusammenzufassen, zu interpretieren und zu bewerten, als sich mit langen Aufsätzen über literarische Themen zu beweisen. Der Präsident des Elternverbands, Thomas Saverschel, fürchtet, dass dadurch in der achten Schulstufe „die Weltliteratur vernachlässigt wird“. Bei der Mathematikmatura sagt er wie auch die AHS-Lehrergewerkschaft einen „Niveauverlust“ voraus, was erste Versuche an den Schulen nicht bestätigen.

Am weitesten gediehen ist der kulturelle Paradigmenwechsel beim Lernen von Fremdsprachen. Hier wurden die Unterrichtsmethoden schon lange umgestellt, Hören und Reden in Alltagssituationen trainiert. Umstritten ist allerdings das Wörterbuchverbot. Christine Laggner, Spanischlehrerin an einer Wiener BHS, meint, dass die Zentralmatura die Lehrer in einem guten Sinn diszipliniert: „Wir müssen uns genauer überlegen, was die Kinder können sollen, und unseren Unterricht verändern.“

„Jene Kollegen, die eher konservativ unterrichten, tun sich mit der Zentralmatura naturgemäß schwer“, glaubt Eva Mersits, Direktorin in einem Hernalser Gymnasium. Ihr Kollege Edwin Scheiber, Direktor des Wiedner Gymnasiums, zu dem die Popperschule für Hochbegabte gehört, versteht nicht, warum manche fürchten, eine Schule mit gutem Ruf würde durch die Zentralmatura verlieren. „Ich will eigentlich nicht, dass es darauf ankommt, welche Schule auf dem Zeugnis steht. Es geht doch darum, dass ich mich auf eine Note verlassen kann.“

Die Wiener Maturantin Lisa P. will nach ihrem Reife-Kraftakt jetzt erst einmal „ein wenig in den Tag hineinleben, um wieder einen klaren Kopf zu kriegen“. Schließlich steht für sie jetzt eine große Frage im Raum: „Was fördert meine geistige und körperliche Entwicklung, und womit kann ich etwas für die Gemeinschaft beitragen?“ Jeder müsse sein Ziel im Leben finden, sagt Lisa P.: „Aber das lernt man in der Schule am allerwenigsten.“

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges