Letzter aller Klassen

Bildung. Das heimische Bildungssystem ist fast nicht mehr zu retten

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Werner Binnenstein-Bachstein, Geschäftsführer der Wiener Caritas, lebt mit seiner Familie im Grätzl rund um den Wiener Brunnenmarkt. Vor Jahren rief er hier die „Brunnenpassage“ ins Leben und trug sein Scherflein dazu bei, dass die städtische Problemzone auf dem Weg zum Ausländerghetto heute als manierlich durchmischte Flanier- und Wohngegend gilt.

Der Caritas-Mann ist aber nicht nur Erfinder von Community-Projekten, er ist auch Vater. Als er und seine Frau eine Schule für Miro, 6, suchten, durchlebten sie die Ängste aller Eltern, die für ihre Kinder das Beste wollen und dabei nicht sofort an eine Privatschule denken: „Wir wollen ein Zeichen setzen, dass wir an öffentliche Schulen glauben, in denen alle Kinder die gleichen Chancen haben.“ In den Klassenzimmern entladen sich alle sozialen Spannungen des wirklichen Lebens. Dagegen hat Binnenstein-Bachstein nichts. Was aber, wenn Miro dabei draufzahlt?

Es traf sich, dass Niklas und Isabel Reithbauer in der Nachbarschaft wohnten und die selben Zweifel quälten. Ihre Tochter Elena ist so alt wie Miro. Die beiden Familien entschlossen sich, ihre Kinder in eine öffentliche Schule im 17. Wiener Gemeindebezirk zu geben. Sie heißt „Kunterbunt“, weil mehr als die Hälfte der Kinder Migrationshintergrund hat, aber auf der Habenseite einige Extras verbuchen kann, die im öffentlichen Schulsystem nicht selbstverständlich sind: gemeinsames Mittagessen und Nachmittagsbetreuung im Haus. „Wir wissen nicht, worauf wir uns einlassen. Aber wenn alle aus Angst vor hohem Migrantenanteil in die Privatschulen flüchten, wird das öffentliche Schulsystem noch schlechter. Wir müssen für Normalisierung sorgen“, sagt Niklas Reithbauer.
Normal ist im Bildungssystem wenig. Es spuckt am unteren Ende Fünfzehnjährige aus, die nicht ausreichend lesen und schreiben können, um am Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, die nicht gelernt haben zu lernen, also auch für Weiterbildung nicht mehr erreichbar sind und den Steuerzahlern ihr Leben lang auf der Tasche liegen werden. Das treibt niemand auf die Barrikaden. Für Herrn und Frau Österreicher scheint die Welt in Ordnung, solange der eigene Nachwuchs irgendwie durchs Gymnasium kommt, konstatiert Bildungsforscherin Christiane Spiel. „Dass es mit uns allen bergab geht, wenn die Wirtschaft nachlässt, ist viel zu wenigen Menschen klar.“

Österreich leistet sich eines der teuersten Bildungssysteme der Welt, nur die Schweiz, Norwegen und die USA investieren pro Schüler mehr. Gleichzeitig ist es eines der schlechtesten im ganzen OECD-Raum. In kaum einem anderen Land schlägt die soziale Herkunft so stark auf den Bildungserfolg durch: Kinder von Akademikern werden Akademiker, Kinder von Hilfsarbeitern werden Hilfsarbeiter. Die schönsten Reformpapiere nützen nichts, wenn die Lehrergewerkschaft sie blockiert, Bundesländer sich querlegen oder es für Änderungen schlicht zu wenig Personal gibt. Dazu kommt, dass der Lehrerberuf schlecht angesehen ist und im Ruf steht, Zeit für allerlei Hobbys zu lassen. Das zieht die falschen Leute an und entmutigt die engagiertesten. Das Versagen des Bildungssystems ist in internationalen Vergleichsstudien nachzulesen. Doch daran nimmt Österreich entweder nicht mehr teil – Beispiel: Lehrerstudie TEDS –, oder es fasst unangenehme Befunde als Kriegserklärung auf und konzentriert sich darauf, Schuldige zu suchen – Beispiel PISA. In der Regel sind die Sündenböcke Migrantenkinder, selten sucht man Fehler im Bildungssystem, nie bei den Lehrern. Vergeblich warnt die Industrie, Österreich verliere den Anschluss an die Weltspitze. Für andere Länder, etwa die Schweiz oder Deutschland, sind Unkenrufe aus der Wirtschaft Grund genug, die Ärmel aufzukrempeln. „Sie sind besser aufgestellt als wir und arbeiten ständig weiter. Bei uns hingegen verpufft die gesamte Energie in tagespolitischem Hickhack und sinnlosen Ideologiedebatten“, sagt Spiel. Man muss ein militanter Optimist sein, um das Bildungssystem noch für reformierbar zu halten.

Die notwendige Reform scheitert schon am Grundlegenden: dem gemeinsamen Ziel. Michael Schratz vom Institut für Schulforschung der Universität Innsbruck hat gelungene System­umstellungen in anderen Staaten untersucht und zieht den Schluss: „Wenn eine Bildungsreform erfolgreich sein will, müssen alle – Politiker, Eltern, Lehrer – an einem Strang ziehen und sich einig sein, dass kein Schüler verloren gehen darf. Ohne gemeinsame Einstellung bringen Reformen wenig.“

Von der Einigkeit ist Österreich meilenweit entfernt. Die Regierung rief zwar 2011 zum Jahr der Bildungsreformen aus, versinkt bei jedem kleinen Änderungsschritt aber in ­Kakofonie, wie vergangene Woche bei der „modularen Oberstufe“: Damit sollte das veraltete Prinzip abgeschafft werden, dass Schüler eine ganze Klasse wiederholen müssen, wenn sie in einigen Gegenständen scheitern. Stattdessen müssen die Schüler ihre „Nicht genügend“ ausbessern, steigen aber in allen anderen Modulen vulgo Fächern auf. Bis zur Matura muss eine positive Prüfung in allen Gegenständen abgelegt werden. Das System ist in anderen Staaten und zig Schulversuchen in Österreich erprobt, wurde aber unter tatkräftiger Mithilfe der ÖVP als „Aufsteigen mit drei Fünfern“ diskreditiert. So gelang das seltene Kunststück, eine sinnvolle Änderung zu vermasseln.

Bildungsministerin Claudia Schmied macht solche Erfahrungen öfter. Sie hat, wie ihr Büro penibel auflistet, in ihren vier Jahren in der Regierung 35 Gesetzesentwürfe auf den Weg gebracht, vom verpflichtenden Kindergartenjahr bis zur Zentralmatura. Derart kleine Schritte gelingen – die großen Würfe aber nicht. Dafür sorgen reformresistente Blockadeeliten, allen voran die Lehrergewerkschaft und die Landesfürsten. „Ohne Verwaltungsreform kann man keine gute Schule ­organisieren. Die vielen Ebenen – Länder, Landesschulräte, Bezirksschulräte – produzieren so viele Verordnungen, dass die Schulen ersticken“, klagt Heidi Schrodt, die viele Jahre lang Direktorin der Wiener AHS Rahlgasse war und heute für das Bildungsvolksbegehren trommelt.

Diese Gemengelage produziert alarmierende Befunde in Serie: Beim Lesetest in Wien wurde jeder vierte Zehnjährige und jeder fünfte 14-Jährige als „Risikoschüler“ eingestuft.

Beim PISA-Test sackte Österreich bei der Lesekompetenz auf den beschämenden 31. Rang unter 34 OECD-Staaten ab. Fast jeder fünfte Wiener Lehrling besteht die Lehrabschlussprüfung nicht. 41 Prozent der Bewerber für die Polizeischule fallen beim Deutschtest durch.

Und beim Aufnahmetest fürs Medizinstudium schlugen die deutschen die österreichischen Bewerber um Längen. Über diese Ohrfeigen für das Bildungssystem wird am liebsten geschwiegen. „Nach negativen Testergebnissen setzt Abwehrhaltung ein. Die Ursachen für das schlechte Abschneiden werden selten erforscht und deshalb auch nicht beseitigt“, seufzt Bildungswissenschafter Schratz.

Den Preis zahlen die Bildungsverlierer. Vor zwanzig Jahren konnten junge Menschen, die es in der Hauptschule schleuderte, immer noch Maler oder Tischler werden. „Das ist vorbei, die Anforderungen sind in allen Berufen gestiegen“, sagt Maria Hofstätter, Leiterin des Instituts für Bildungsforschung. Es entspringt purem Überlebenswillen, wenn Wirtschaftskammer und Industriellenvereinigung tief greifende Reformen einmahnen. „Die Regierung hat sich zum Ziel gesetzt, Österreich im Spitzenfeld zu positionieren. Wenn wir so weitermachen, ist das unerreichbar“, sagt Gerhard Riemer, Bildungsexperte der Industriellenvereinigung.

Noch können sich renommierte Industriebetriebe ihre Lehrlinge aussuchen. Doch die Zeichen stehen auf Alarm. Das Technikunternehmen Fronius International in Wels (3500 Mitarbeiter, davon 150 Lehrlinge) zählte im Vorjahr 750 Bewerber. Anwärter auf eine Lehrstelle werden getestet. „Wir schauen auf soziale Kompetenz, Allgemeinwissen und vor allem Mathematik. Da machen wir überraschende Erfahrungen. Selbst Leute mit guten Zeugnisnoten scheitern bei einfachen Prozentrechnungen“, erzählt Lehrlingsausbilder Rudolf Eitelsebner. Ähnliches berichtet Valerie Weixelbaumer, Sprecherin der Miba AG in Laakirchen. Auch beim Hersteller von Antriebskomponenten (120 Lehrlinge im technischen Bereich) kommen immer mehr Bewerber nicht über den Einstufungstest: „Vor fünf Jahren mussten wir jedem fünften absagen, weil er unsere Anforderungen nicht erfüllt, heute ist es jeder zweite oder dritte.“ Es hapere beim Lesen und Rechnen, bei sozialer Kompetenz und simpler Allgemeinbildung: „Wenn wir Bewerber bitten, österreichische Hauptstädte den Bundesländern ­zuzuordnen, bekommen wir die abenteuerlichsten Antworten.“

So manche der dringend anstehenden Reformen verläuft auch wegen simpler Planungsfehler im Sand. Die 2006 abgetretene Bildungsministerin Elisabeth Gehrer hatte Maturanten via Brief aufgefordert, auf keinen Fall Lehrer zu werden, gleichzeitig versüßte Schwarz-Blau Lehrern den Gang in die Frühpension mit Anfang 50. Das Resultat heute ist – Lehrermangel. Claudia Schmied bemüht sich, das Problem kleinzureden. Doch Stephan ­Maresch, Organisationsreferent der Wiener Pflichtschullehrergewerkschaft, gesteht offen ein, dass „es im nächsten Schuljahr in den Volksschulen zu Engpässen kommen kann“.

Auch in Vorarlberg klagt Bildungslandesrat Siegmund Stemer über einen „wirklich ernsten Lehrermangel“. Das hat Konsequenzen: Das reformfreudige Bundesland wollte die Neue Mittelschule forcieren und damit in jede Klasse zwei Lehrer stellen. Das scheitert an fehlenden Pädagogen. „Ich muss leider Zugeständnisse machen und das Tempo bei den Reformen herausnehmen“, klagt Stemer.

Auch andere Pläne stoßen rasch an ihre Grenzen. Viele Schulbauten sind nicht für modernen Gruppenunterricht gerüstet, und die Lehrer finden in den Konferenzzimmern nur wenige Quadratmeter an Arbeitsplätzen vor, was Ganztagsunterricht erschwert.

Allerdings ist der Raummangel auch eine beliebte Ausrede von Lehrern, die ihren Halbtagsjob nicht aufgeben wollen. „Den Lehrberuf kann man in mancher Hinsicht als Schonberuf sehen. Vor allem bei Frauen ist geringe Anwesenheitspflicht an der Schule und damit die gute Vereinbarkeit mit der Familie ein wichtiges Motiv bei der Berufswahl“, bekrittelt Ferdinand Eder vom Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Salzburg. Nur in Österreich und Deutschland dominiert die Halbtagsschule, in skandinavischen Ländern bleiben die Kinder – so wie inzwischen fast überall auf der Welt – bis 16 Uhr in der Schule.

Die österreichische Norm Halbtagsschule hat gravierende Folgen: Wenn Hausaufgabenmachen und Üben an die Eltern delegiert wird, haben Kinder aus wenig gebildeten Familien automatisch Nachteile. Zudem prägt sie das Selbstbild der Lehrer. Direktoren klagen, kaum ein Lehrer sei bereit, am Nachmittag in der Schule zu bleiben. „Die Halbtagsschule erzeugt eben Halbtagslehrer“, sagt Michael Sertl, Soziologieprofessor an der Pädagogischen Hochschule Wien.

Der „Schonberuf“ Lehrer zieht auch die falschen Personen an. „Ein anderer Zugang zum Lehrerberuf muss bei jeder Bildungsreform Priorität haben. Änderungen in der Struktur bringen zu wenig, wenn sich nicht innovativere Personen um den Pädagogenberuf bewerben“, analysiert Eder. In Finnland etwa sei die Aufnahmeprüfung so streng, dass sich zehnmal mehr Maturanten für den Lehrerberuf bewerben als genommen werden. In Österreich hingegen rekrutierten sich Pädagogen laut Eders Forschungen vor 40 Jahren noch aus „dem oberen Bereich des Begabungsspektrums“. Mittlerweile drängten vor allem Menschen aus dem „maximal mittleren Begabungsspektrum“ in den Beruf.

Ein neues Lehrer-Dienstrecht könnte das ändern. Doch Ministerin Schmied und die Lehrergewerkschaft sind über Aufwärmrunden nicht hinausgekommen.

„Bei uns wird gelehrt und gelernt wie vor 50 Jahren“, klagt Bundesschulsprecher Philipp Pinter. Und engagierte Lehrer werden rasch zermürbt, weiß Ex-Direktorin Schrodt zu berichten: „Viele ziehen sich in die Resignation zurück.“ In finnischen Schulen etwa unterstützen Sozialarbeiter und Psychologen die Lehrer. Davon kann man in Österreich nur träumen.

Das Bildungsproblem beginnt allerdings schon viel früher, nämlich im Kindergarten. Doch auch bei der Frühförderung gehört Österreich zu den internationalen Nachzüglern. In Wien etwa hat jeder dritte Fünfjährige Sprachprobleme. Das betrifft beileibe nicht nur Migranten: Zehn bis 15 Prozent der Kinder, die nicht ausreichend Deutsch sprechen, haben Deutsch als Muttersprache. Die Sprachdefizite sollen im Kindergarten behoben werden. Dafür seien Kindergärtnerinnen aber oft nicht ausreichend ausgebildet, sagt Katrin Großauer von der Pädagogik-Stelle der Wiener Kindergärten: „Wenn wir neue Aufgaben bekommen, müsste sich auch die Ausbildung ändern.“

Der nächste Sündenfall des Bildungswesens passiert im Alter von zehn Jahren, wenn sich die Bildungswege der Kinder gabeln. Obwohl sich Experten darin grosso modo einig sind, mündet das ideologische Tauziehen bestenfalls in halbherzige Kompromisse. Statt einer echten Gesamtschule werden Hauptschulen in Neue Mittelschule umbenannt, die Gymnasien bleiben unangetastet. „Es gibt bei uns einfach einen hegemonialen Schultyp, und der heißt Gymnasium. Das führt zu einer Selektionslogik, die lautet: Wer es nicht schafft, passt eben nicht hierher“, sagt Professor Sertl. Die Folgen sind weitreichend: Risikoschüler werden aufgegeben, die Gruppe der – vorwiegend männlichen – Bildungsverlierer, die in der Schule nur Misserfolge einheimsen, steigt.

Es ist eine Mär, dass Migrantenfamilien auf Bildung pfeifen. Befragungen zeigen, dass der überwiegende Teil hohe Erwartungen hegt, aber damit überfordert ist, seinen Kindern bei Problemen unter die Arme zu greifen. Nicht anders als österreichische Eltern wählen ­Migranten die Schulen ihrer Kinder nicht nach objektiven Kriterien – die es nicht gibt –, sondern nach dem Image. „Davon profitieren inzwischen die katholischen Privatschulen. Immer mehr islamische Eltern wollen ihre Kinder dort unterbringen, weil sie wie alle anderen auch hoffen, dort die beste Bildung zu bekommen“, beobachtet Migrationsforscher Bernhard Perchinig.

Dass Reformen selbst in Österreich nicht völlig ausgeschlossen sind, zeigen Initiativen hartnäckiger Einzelkämpfer, die wie Leuchttürme in der Bildungslandschaft blinken. So wie die öffentliche slowenische Volksschule in Klagenfurt. Dort revolutionierte Vladimir Wakounig, Professor für Erziehungswis­senschaften an der Universität Klagenfurt, 2003/2004 gemeinsam mit der Direktorin den Unterricht: Seither wird eine Woche lang ausschließlich Deutsch gesprochen, die Woche darauf ausschließlich Slowenisch. Die Widerstände waren enorm. Eltern fürchteten, am Ende könnten ihre Sprösslinge beide Sprachen nicht richtig. Auch die Lehrer boykottierten den Versuch. Wakounig: „Statt Grammatik zu pauken, mussten sie lernen, mit den Kindern in zwei Sprachen zu arbeiten, zu singen, zu spielen, zu schreiben und zu reden. Das war für sie völlig neu.“ Aber offenbar erfolgreich.

Acht Jahre später hat sich die Schülerzahl verdoppelt, die Hälfte der Schüler stammt aus deutschsprachigen Haushalten. Offensichtlich sind Eltern durchaus bereit, bei Reformen mitzumachen, wenn es nur welche
gibt.

Eva   Linsinger

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin