Persönlichkeitstest

Casting am Wiener Volkstheater: Persönlichkeitstest

Theater. Jaqueline Körnmüller entwickelt ein Stück über Erziehung

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Monika, 43, steht auf der Probebühne. Sie arbeitet im Sozialbereich, erklärt sie. Über die Herausforderungen ihres Jobs weiß sie zu berichten: „Viele Kinder sind ungezogen, sie können aber nichts dafür, weil sie es nie anders gelernt haben.“ Ihre Gesprächspartnerin hakt nach: „Selbst wollten Sie keine Kinder bekommen?“ Monika stockt kurz und erwidert dann etwas erschrocken: „Das ist jetzt aber doch sehr persönlich.“ Die Interviewerin stellt klar: „Genau darum geht es hier.“

Erstaunlich unvorbereitet
Die deutsche Regisseurin Jacqueline Kornmüller, 52, besetzt für ein Theaterprojekt gerade Menschen, die über ihre Erfahrungen mit dem Thema Erziehung erzählen. „Man merkt sofort, wenn jemand an den Punkt kommt, an dem es persönlich wird“, sagt Kornmüller über ihre Arbeit bei der Auswahl jener 30 Akteure, mit denen sie anschließend in einen zweimonatigen Probenprozess gehen wird, um ein Stück zu erarbeiten, das im April am Volkstheater Premiere haben wird.

Erstaunlicherweise erscheinen die meisten, die sich zum Casting angemeldet haben, zum Vorsprechen unvorbereitet. Viele wissen nicht einmal, dass der Probenprozess für das Stück Tagesfreizeit erfordern wird. „Wir haben im Vorfeld extra betont, dass man nichts können muss“, erzählt Kornmüller, die den Begriff „Casting“ ohnehin suspekt findet: „Wenn es um Erziehung geht, hat jeder eine Meinung. Das Thema polarisiert sofort.“ Tatsächlich haben sich rund 400 Menschen für ein Vorsprechen angemeldet; dabei hat jeder Teilnehmer 20 Minuten Zeit, die Regisseurin von sich zu überzeugen. Kornmüller tritt den Akteuren auf Augenhöhe gegenüber: Im Proberaum, der eher wie ein abgewohntes Loft aussieht, bietet sie ihnen einen Stuhl vor sich an. Die meisten vergessen schnell, dass mitgefilmt wird; die Teilnehmer sollen professionell gesichtet werden, man will sich nicht nur auf erste Impressionen verlassen müssen.
Die Sozialbetreuerin Monika ist die zweite Kandidatin an diesem Vormittag. Nach nur wenigen Minuten Gespräch mit der Regisseurin gibt die Wienerin intime Details preis, die wahrscheinlich nicht einmal enge Freundinnen kennen. Warum sie nie schwanger werden wollte? „Als Mädchen sah ich in der Schule in einem Aufklärungsfilm eine Geburt; ich fand das extrem grauslich, bin in Ohnmacht gefallen. Das war eine traumatische Erfahrung.“ Kornmüller findet die Geschichte spannend; sie fragt, ob Monika eine kleine Improvisationsübung machen möchte. Sie soll mit einem Stoffbären eine Geburt simulieren. Monika löst die Aufgabe mit erstaunlichem Witz: Sie tut, als würde sie einen Reißverschluss aufziehen, dann ist das Kind plötzlich da. Kornmüller ist zufrieden: „Sie sind ein wenig jünger als ich. Wir lernten Sexualkunde in der Schule noch anhand von Fischen. Das war weniger spektakulär.“

Wunde Punkt
Monika wird an diesem Tag nicht die Einzige sein, die vor laufender Kamera Dinge erzählt, die sie wenige Minuten davor wahrscheinlich nicht für möglich gehalten hätte. An Kornmüller ist eine investigative Journalistin verloren gegangen: Sie weiß exakt, wo der jeweils wunde Punkt ihrer Akteure liegt, sie versteht es, Menschen zu öffnen, ohne ihnen das Gefühl zu vermitteln, ausgehorcht zu werden. Das nötige Feingefühl hat sie ganz instinktiv parat. Und ihr trockener Witz schützt sie vor Verlogenheit und Betulichkeit.

Immerhin ist es nicht ihr erstes Dokumentartheaterprojekt. 2006 ließ sie am Hamburger Schauspielhaus für den Abend „Rosi, das hast du gemacht“ 30 Damen und Herren über 65 aus ihrem Leben erzählen. Seit 2009 arbeitet Kornmüller regelmäßig mit ihrem Mann, dem Schauspieler Peter Wolf, der meist für Produktion und Dramaturgie zuständig ist, in Wien. Die beiden haben die freie Gruppe „wenn es soweit ist“ gegründet und an unkonventionellen Orten wie dem Kunsthistorischen Museum gespielt („Ganymed Boarding“, 2010). 2011 entstand in Zusammenarbeit mit dem Volkstheater das bislang bekannteste Projekt der beiden: In „Die Reise“ erzählen 30 Migrantinnen und Migranten auf offener Bühne, warum sie ihre Heimat – von Somalia bis Afghanistan – verlassen haben. „Schon damals kam mir die Idee, ein Projekt über Erziehung zu machen“, erinnert sich Kornmüller. „Die Familie ist ein Urthema, mit dem man versuchen kann, eine Standortbestimmung unserer Gesellschaft vorzunehmen. Für alles, was in der Familie falsch läuft, bekommt die Gesellschaft später die Rechnung serviert.“

Der nächste Kandidat tritt auf. Hans ist gelernter Jurist, der sein Fachwissen als Lehrer vermittelt. Der junge Mann erzählt, dass er in seiner Freizeit gern „verrückte Sachen“ wie Tauchen und Reisen unternimmt, eben alles, was einen Adrenalinschub garantiert. Bis drei Uhr Früh habe er vergangene Nacht ein Buch gelesen – den Thriller „Der Kruzifixmörder“. Die Regisseurin fragt nach, worum es in dem Buch geht. „Um abartige Ritualmorde“, antwortet Hans lächelnd. Den Thriller habe ihm seine Mutter zu Weihnachten geschenkt. „Sind Ihnen selbst auch schon schlimme Dinge passiert?“, unterbricht Kornmüller die entspannte Stimmung. „Ja“, sagt Hans nach kurzem Schweigen. Sein Lächeln ist schlagartig verschwunden.
Eine Minute später berichtet der Mann offen davon, wie er als Sechsjähriger von seinem Stiefvater missbraucht wurde. Kornmüller fragt behutsam nach und klärt ab, ob er in Therapie war: „Bei der Arbeit am Theater werden viele Dinge wieder hochkommen: Wollen Sie sich einem solchen Prozess wirklich stellen?“ Hans ist fest entschlossen. Er wird in die nächste Runde kommen. Für Kornmüller ist zwar klar, dass sie mit Hans unbedingt arbeiten möchte, allerdings gelte es noch auszuloten, ob er auch wirklich bereit und in der Lage sei, seine Geschichte vor großem Theaterpublikum zu erzählen. Schließlich sollte keiner der Teilnehmer kurz vor der Premiere überfordert abspringen, das wäre für alle Beteiligten eine Katastrophe.

Alleinerzieher mit Hang zur Strenge
Kurz vor 13 Uhr: Das Team zeigt erste Ermüdungserscheinungen, eigentlich wäre es Zeit für die Mittagspause. Einen Kandidaten will Kornmüller aber noch sehen: ein Radio­journalist, der alleinerziehender Vater war. Mit beeindruckendem Gespür für Details und überaus plastisch berichtet Günther von seiner Überforderung, als der zehnjährige Sohn bei ihm einzog und schlechte Schulnoten nach Hause brachte. Er deutet Fehler an, die er gemacht hat, sagt trotzdem stolz: „Mein Sohn hatte zumindest einen Vater, mit dem er streiten konnte.“ Kornmüller ist plötzlich hellwach: Einen Vater als Alleinerzieher mit Hang zur Strenge – das findet sie gut. Auch mit ihm vereinbart sie sofort ­einen zweiten Termin. Und sie erklärt ihre ­Arbeitsweise: „Sie haben mir das Material, an dem ich gerne mit Ihnen arbeiten würde, schon geliefert: Wir drucken unser gerade geführtes Gespräch als Text aus, das ist die Basis, an der wir in den Proben weiter feilen.“

Am Ende ist sie überrascht: An nur einem Vormittag hat sie bereits zwei mögliche Pro­tagonisten gefunden. „Noch dazu Männer“, freut sich Kornmüller. „Unter den Anmeldungen fanden sich deutlich mehr Frauen als Männer, wir dachten schon, Erziehung sei endgültig in die weibliche Ecke gedrängt worden.“

Ob die restlichen acht Kandidaten dieses Vormittags ebenfalls Chancen haben, zu weiteren Gesprächen eingeladen zu werden, wird sich erst weisen. Anders jedoch als in den TV-Casting-Shows verlässt hier jeder der Teilnehmer den Raum zufrieden. Auch wenn man nicht genommen wird: Man hat eine angenehme Erfahrung gemacht. Für ein Vorsprechen ist das erstaunlich viel.

Die Produktion
Erziehungs­querschnitt
Bisher heißt die Produktion auf der Homepage des Volkstheaters noch behelfsmäßig „Das neue Stück“. ­Regisseurin Jacqueline Kornmüller hat vor, erst im Laufe des Casting-Prozesses einen Titel zu finden. Fest steht allerdings neben dem Generalthema Erziehung, dass 30 Personen auf die Bühne treten werden und die Premiere am 19. April im Volkstheater stattfinden wird. Das Casting läuft gegenwärtig, Anmeldung ist ­jedoch nicht mehr möglich.
www.volkstheater.at

Karin   Cerny

Karin Cerny