Ein Schiff wird kommen

China. Wie das Land seinen größten Fehler rückgängig machen möchte

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Die ganze Welt kennt den American Dream. Vom „Zhongguomeng“ hat hingegen noch kaum jemand gehört. Chinas neuer Staatspräsident Xi Jinping ist dennoch fest entschlossen, seinen chinesischen Traum bis 2049, also pünktlich zum Jubiläum des 100-jährigen Bestehens der Volksrepublik, in die Realität umzusetzen. Dann soll China ein sozialistisches Weltreich mit blühenden Landschaften und kristallklaren Seen sein, ein Land, in dem es keine Korruption gibt, die Bürger zusammenhalten und rundum Wohlstand herrscht.

Klingt gut, aber: Kann ein von oben dekretierter Traum die Menschen verzaubern? Und wird China tatsächlich zu einem „Land ohne Armut“, zur „saubersten Nation“ des Planeten, nur weil sich die Pekinger Machtzentrale so etwas ausdenkt?

Man möchte es für unmöglich halten, allerdings ist China nie zu unterschätzen, wenn es um national-patriotische, kollektive Anstrengungen geht. Der rasante Aufstieg zur heute zweitgrößten Volkswirtschaft hinter den USA hat das verdeutlicht. Derzeit wird mit Hochdruck an einem neuen Großprojekt gearbeitet: In wenigen Jahren soll China wieder eine der führenden Seemächte der Welt werden.

Auch hier hat Peking viel aufzuholen: rund 580 Jahre nämlich. Um 1435 gab das Reich der Mitte seinen unangetasteten ­Status als weltweit führende Seemacht auf – ohne jemals eine Schlacht auf See geführt, geschweige denn verloren zu haben. China kehrte der Welt den Rücken und verabschiedete sich in die Isolation. Die damals größten und modernsten Schiffe der Welt, die allesamt im Besitz von China standen, wurden auf Anordnung der regierenden Ming-Kaiser zerstört, oder man ließ sie verfallen. Die internationalen Handelsbeziehungen nach Afrika und Persien wurden aufgegeben, das internationale Export- und Importgeschäft kam mit einem Schlag zum Erliegen.

Das hatte gleich zwei Konsequenzen von epochalem Ausmaß: Zum einen verlor China seinen Status als die mit Abstand fortschrittlichste Nation der Welt. Zum anderen wurde die Vorherrschaft des Westens über den Osten auf Jahrhunderte gefestigt. Die größten Seenationen waren fortan die Portugiesen, dann die Spanier, später die Briten.

Flugzeugträger auf hoher See
Und eben diesen Fehler wollen die Chinesen nun korrigieren. Kürzlich präsentierte die KP-Regierung ihren ersten Flugzeugträger, der bald auf hoher See einsatzfähig sein dürfte. Weitere drei bis vier sollen in den kommenden Jahren gebaut werden. Zugleich stockte Präsident Xi Jinping kurz nach seiner Ernennung zum Präsidenten den Militäretat um über zehn Prozent auf 91 Milliarden Euro auf. Nach den USA hat China nun die höchsten Militärausgaben weltweit – und ein wesentlicher Teil davon fließt in modernste ­Zerstörer und mit Nuklearwaffen ausgestattete U-Boote, die im Süd- und Ostchinesischen Meer patrouillieren und Chinas Nachbarn regelmäßig das Fürchten lehren.

Unter dem maritimen Aufrüsten Chinas leiden zunehmend auch die Seeräuberbanden. Kein Land engagiert sich derzeit stärker als die Volksrepublik im Kampf gegen Piraterie: 14 chinesische Marine-Einsätze gab es bereits vor der Küste Somalias. Schließlich geht es dabei um viel Geld.

Unter dem Begriff „Pekings Strategie der Perlenkette“ fasste das US-Pentagon bereits 2004 alle Unternehmungen Chinas entlang der Küsten Asiens, des Nahen Ostens und Afrikas zusammen – also jener Gebiete, in denen heute die wichtigsten See- und Transportwege für Chinas Nachschub an Erdöl und Rohstoffen liegen. Vorerst müssen die chinesischen Frachter von Kriegsschiffen begleitet werden, weil die Volksrepublik bisher keine Militärbasen außerhalb ihrer Grenzen hat.

Entsprechende Hafenstützpunkte für Handel und Rohstoffe gibt es jedoch bereits. 2010 übernahm die größte Staatsreederei, China Ocean Shipping (Cosco), das Management des Mittelmeer-Containerhafens Piräus in Griechenland. Cosco gewann damit Zugang nach Osteuropa wie auch zu Fahrtrouten ins Schwarze Meer und nach Zentralasien. Vergangene Woche kaufte sich eine weitere chinesische Reederei bei einem belgischen Hafenterminal in Brügge ein. Auch mit Pakistan ist ein Milliarden-Deal de facto abgeschlossen. China hat es auf den Hafen von Gwadar abgesehen, einer im Südwesten des Landes gelegenen Küstenstadt am Arabischen Meer. Freilich nicht aus militärischen, sondern aus rein wirtschaftlichen Gründen, versichert Peking.

Indien, vor allem aber die USA sind trotzdem beunruhigt über den geopolitischen Machtzuwachs Chinas und dessen zusehends offensive Politik auf hoher See. Immer wieder ist es in jüngerer Vergangenheit zu Streitigkeiten zwischen China und seinen Nachbarn gekommen: mit dem US-Verbündeten und chinesischen Erzfeind Japan, mit Vietnam, mit den Philippinen.

Wenn Xi Jinping seit seinem Amtsantritt gebetsmühlenartig wiederholt, Chinas „nationale Interessen mit allen Mitteln zu verteidigen“, dann geht es ihm in erster Linie um die Meeresgebiete um China, deren militärische wie ökonomische Rolle kaum zu überschätzen sind. Mehr als die Hälfte der globalen Handelswaren und 80 Prozent der chinesischen Ölimporte passieren täglich das Südchinesische Meer. „Alle geografischen, geopolitischen, ökonomischen und militärischen Trends verlagern sich Richtung Pazifik“, sagt Martin Dempsey, Vorsitzender der amerikanischen Joint Chiefs of Staff und damit ranghöchster Soldat der Vereinigten Staaten.

Die US-Regierung reagiert auf diese geopolitische Verschiebung und will den größten Teil ihrer Seestreitkräfte umgruppieren: Bis zum Jahr 2020 sollen 60 Prozent aller Schiffe der US-Marine im Pazifik und nur noch 40 Prozent im Atlantikraum stationiert sein. China wiederum hält mit seiner wachsenden Marine ­dagegen – und setzt seinerseits auf Muskelspiele.
Kommt es also zum Crash der Supermächte? Der US-Militärtheoretiker Robert D. Kaplan warnte schon im Jahr 2005 davor, dass eine maritime Aufrüstung Chinas über kurz oder lang zu einem neuen „kalten Krieg“ mit den USA um die Vorherrschaft im Pazifik führen werde. Das hat sich mehr oder minder bewahrheitet. Dass es letztlich zu einem heißen Krieg kommt, halten die meisten Experten aber für unrealistisch: Zum einen ist Washington Peking in allen militärischen Belangen noch immer haushoch überlegen. Zum anderen sind die beiden Supermächte wirtschaftlich zu eng miteinander verflochten.

Maritimer Minderwertigkeitskomplex
Aller Aufstiegsrhetorik zum Trotz laboriert China bis heute an einem maritimen Minderwertigkeitskomplex, der auf die Zeit des Ming-Kaisers Zhengtong (1424–1464) zurückgeht. Was damals passierte und vor allem warum, ist bis heute nicht ganz geklärt. Sicher ist nur, dass Zhengtong von der Seefahrt nichts mehr wissen wollte und sich aus dem Marine-Business gänzlich zurückzog. „1436 beschied der Hof wiederholte Anfragen aus Nanjing nach mehr Handwerkern abschlägig, und in den folgenden Jahren verfiel die große Flotte Chinas“, schreibt Ian Morris, His­toriker an der Stanford University, in seinem Buch „Wer regiert die Welt? Warum Zivilisationen herrschen und beherrscht werden“.

Manche Historiker erklären das mit der konfuzianischen Staatsphilosophie, die privaten Handel ebenso ablehnte wie Entdeckungsreisen in fremde Länder. Diese galten den Gelehrten als sinnlos, weil sie ohnehin schon im Zentrum der Welt, nämlich China, lebten. Dass die Kaiser Chinas Status als führende Seenation aufgaben, um sich wieder ganz auf das Landesinnere zu konzentrieren, wurde später als Anfang vom Ende des Chinesischen Reichs gedeutet, als Beginn einer verheerenden Isolationspolitik, die China im 19. Jahrhundert zum Spielball der europäischen Kolonialmächte machen sollte.

Es ist kein Zufall, dass chinesische Staats­medien seit der Ernennung Xi Jinpings zum Präsidenten im Dezember des Vorjahres in großem Stil über einen Mann namens Zheng He (1371–1433) berichten. Er kann als eine Art chinesische Antwort auf Christoph Kolumbus bezeichnet werden: Zheng He war Eunuch, ein ehrgeiziger Militärstratege und vor allem der größte Seefahrer, den die Nation je hervorbrachte.

Bis zu 317 Schiffe umfasste Zhengs Flotte, die mit ihren roten Segeln und Seidenfahnen als „schwimmende Drachen“ bezeichnet wurden. Zheng He unternahm sieben große Reisen in den Pazifik, in den südindischen Ozean, an den Persischen Golf; er durchquerte die Seestraße von Madagaskar und kam sogar bis an die afrikanische Ostküste.

Spekulationen, wonach Zheng vielleicht sogar Australien oder Amerika lange vor den Europäern entdeckt haben könnte, halten sich bis heute. Die Schiffe von Zheng waren den westlichen Modellen dermaßen überlegen, dass sie „ohne Zweifel nach Amerika segeln konnten“, schreibt der Historiker Ian Morris. Als China sich vom Rest der Welt abkapselte, galt Zheng als eine weitgehend unbedeutende Gestalt in den chinesischen Geschichtsbüchern.

Das hat sich mittlerweile radikal geändert, der Seefahrer ist zu einem Nationalhelden Chinas avanciert. Bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele im Jahr 2008 wurden dessen sieben große Reisen als opulentes Bühnenschauspiel aufgeführt – eine höhere Anerkennung gibt es kaum.
Wenn China jetzt selbst zu einer Seemacht werden will, ist der geschichtspolitische Subtext daher unverkennbar: Es geht darum, eine historische Wunde zu schließen und der Welt zu demonstrieren, dass Peking imstande ist, seine „frühere Größe“ – von der Präsident Xi Jinping dieser Tage so oft spricht – wiederzuerlangen. Hinzu kommt ganz profan die Tatsache, dass sich der steigende Rohstoff- und Energiebedarf des Landes nur durch das Erschließen ausländischer Märkte decken lässt – und das ist ohne taugliche Handelsflotte nicht machbar.

Und es steckt noch mehr dahinter: Für die Regierung in Peking taugt Zheng He als Symbol für den traditionell friedlichen Umgang Chinas mit fremden Kulturen. Tatsächlich gründete der große Seefahrer kein chinesisches Weltreich in Übersee. Er eroberte keine Kolonien und brachte auch keine Sklaven mit nach Hause. Und aus Konflikten in anderen Ländern hielt er sich weitgehend heraus.

Eine ganz ähnliche Politik verfolgt China derzeit in afrikanischen Ländern wie Sudan oder Simbabwe. Peking schließt Öl-Deals mit den dort regierenden Regimen ab, baut im Gegenzug die Infrastruktur im Land auf und mischt sich aus Prinzip nicht in die inneren Angelegenheiten des Geschäftspartners ein. All das soll der internationalen Staatengemeinschaft vermitteln: Es lag bislang einfach nicht im ­chinesischen Selbstverständnis, einen Angriffskrieg vom Zaun zu brechen.

Zheng He schlug während seiner langen Reisen jedenfalls nur ein einziges Mal über die Stränge: Er brachte eine Giraffe mit nach Hause.